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‘Ich habe den Antichrist getötet’
Zwei Wochen nachdem in Sarajevo die fatalen Schüsse geklungen hatten, wurde die Welt schon wieder von einem brutalen Attentat aufgeschreckt. Dieses Mal war Grigori Rasputin die Zielscheibe, der einfache Bauer aus Sibirien der, dank seiner wunderbaren Kräfte, zum Vertrauten und Ratgeber des Zaren und der Zarin aufgestiegen war. Die Nachricht des Attentats erweckte weltweit großes Aufsehen und verdrängte für kurze Zeit die Schlagzeilen über den drohenden Krieg von den Titelseiten der Zeitungen.93
Das Attentat wurde von der 33-jährige Chionija Gussewa, aus der Stadt Zarizyn, dem heutigen Wolgograd, verübt. An diesem Ort verdiente sie ihr Brot als Näherin.94 Am auffälligsten an ihr war ihre Nase, oder besser gesagt, das vollständige Fehlen dieses Körperteils. Denn da wo sich bei anderen Leuten eine mehr oder weniger wohlgeformte Nase befindet, war bei Chionija Gussewa nur ‘ein ungleichmäßig geformtes Loch’ zu sehen95, das traurige Zeichen einer verwahrlosten Syphilis.96
Mit der Absicht, Rasputin von seinem Leben zu berauben, war Gussewa nach Pokrowskoje gereist, dem Heimatort ihres Opfers, ein kleines Dorf im Westen Sibiriens, nicht weit vom Ural.97 Als sie am Sonntag dem 22. Juni/5. Juli in Pokrowskoje arrivierte, stellte sich heraus, dass Rasputin noch nicht da war. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als abzuwarten bis er auftauchen würde. Um keinen Verdacht zu erwecken, gab sie sich für eine Bettlerin aus. Den Bauern, die ihr Unterdach verliehen, erzählte sie zuerst, dass sie nach Pokrowskoje gekommen sei, um ihren Bruder zu suchen. Später fügte sie hinzu, dass sie auf die Ankunft von Rasputin warten wollte, weil sie hoffte von ihm zwei Rubel für die Rückreise zu bekommen.98
Nach einer Woche wurde ihre Geduld endlich belohnt: am Samstag, dem 28. Juni/11. Juli 1914, gegen acht Uhr abends, kam Rasputin, zusammen mit seinen zwei Töchtern, Maria und Warwara, mit dem Dampfer Sokolowski in Pokrowskoje an.99
Am nächsten Tag, Sonntag dem 29. Juni/12. Juli 1914100, genau zwei Wochen nach dem Attentat in Sarajevo, vernahm Gussewa von der Tochter ihres Hauswirtes, dass Rasputin in Pokrowskoje angekommen war und an jenem Morgen in der Kirche der Messe beigewohnt hatte.101 Gussewa zögerte keinen Augenblick, nahm ihr Dolch und begab sich sofort auf den Weg um ihre tückischen Pläne zur Ausführung zu bringen.
Ihre Chance kam gegen drei Uhr nachmittags. Während Rasputin nach seiner Rückkehr aus der Kirche mit seiner Familie und einigen Freunden beim Mittagessen saß102, brachte der Postbote Michail Rasputin ein Telegramm des Fotografen Josef Schuster aus Tjumen, in dem dieser sich erkundigte, ob er Rasputin, seine Familie und seinen Wohnsitz fotografieren dürfe.103 Darauf verließ er sofort wieder das Haus. Rasputin überflog das Telegramm, kritzelte rasch eine Bestätigung auf ein Blatt Papier und rannte hinter dem Postboten her um ihm seine Antwort mitzugeben.104
Als er gerade durch das Gartentor auf die Straße getreten war105, kam von links eine unbekannte, ärmlich gekleidete, Frau auf ihn zu. Ihr Mund und ihr Gesicht waren bedeckt, sodass nur ihre Augen sichtbar waren. Sie verneigte sich tief vor ihm, aber Rasputin sagte ihr dies zu unterlassen.106 Der Meinung, dass er eine Bettlerin vor sich habe, suchte er in seinen Taschen nach seiner Börse um ihr einen Almosen zu geben. Im selben Augenblick holte Gussewa, denn sie war es, blitzschnell einen Dolch unter ihrem Umschlagetuch hervor und stach Rasputin damit in den Bauch, knapp über dem Nabel. Die Wunde mit beiden Händen festhaltend, rannte Rasputin so schnell wie möglich davon, nachgesetzt von Gussewa, die noch ein zweites Mal zustechen wollte um ihm den Todesstoß beizubringen. Rasputin hob aber schnell einen Brett vom Boden auf und schlug damit seine Verfolgerin einmal auf den Kopf, wodurch sie zu Boden stürzte und sich mit ihrem Dolch das linke Handgelenk verletzte.107
Von Rasputins Hilfeschrei alarmiert ergriffen die von allen Seiten zugeeilten Dorfbewohner die Täterin und brachten sie zu dem neben Rasputins Haus gelegenen Gemeindeamt, wo sie ins Arrestlokal eingesperrt wurde.108 Dabei soll sie gerufen haben: ‘Ich habe den Antichrist getötet, den Antichrist habe ich getötet!109
Schwerverletzt wurde Rasputin, der nach einigen Dutzend Metern zusammengebrochen war, in sein Haus getragen, wo der eiligst herbeigerufene Feldscher aus Pokrowskoje seine Wunde verband um die Blutung zu stillen. Kurz darauf kam auch der Bezirksarzt Wenjamin Wysotski aus dem Weiler Ijewlewo, ein paar Kilometer nördlich von Pokrowskoje, zusammen mit einem Kollegen, der gerade bei ihm war, um Rasputin weiter zu versorgen.110
Eine Stunde später, gegen vier Uhr nachmittags, empfing der Chirurg Alexander Wladimirow , der Chefarzt des städtischen Krankenhauses von Tjumen, in seiner Wohnung ein Telegramm von Rasputins Familie, mit der dringenden Bitte, um direkt nach Pokrowskoje zu fahren und dort ‘einem Verwundeten’ ärztliche Hilfe zu leisten.111 Wladimirow trug sofort seiner Assistentin, der Hilfsärztin Praskowja Kuznetsowa, auf die benötigten Instrumente in eine Tasche einzupacken und schon gegen sechs Uhr abends waren sie mit Pferd und Wagen unterwegs nach Pokrowskoje, ein Abstand von ungefähr achtzig Kilometern. Dmitri Striaptschew, ein alter Freund von Rasputin, der Wladimirow das Telegramm zugestellt hatte, begleitete sie. Nach einer stundenlangen ungestümen Fahrt über holprige Wege, wobei dem Kutscher ein hohes Trinkgeld in Voraussicht gestellt wurde, wenn er die Pferde so schnell wie möglich vorantrieb, erreichten Wladimirow und seine Assistentin gegen ein Uhr nachts endlich Rasputins Wohnort Pokrowskoje.
Dort angekommen, fanden sie Rasputin auf einer Holzbank liegend vor in der Diele des Hauses. Er war mit einem langen Wintermantel zugedeckt und sein Bauch war mit einem Handtuch umwickelt. Wladimirow die Wunde, die sich etwa drei Zentimeter über dem Nabel befand und etwa ein bis zwei Zentimeter groß war, mit seinem Finger untersuchte, entdeckte er, dass der Dünndarm eingeklemmt war, wodurch die Gefahr bestand, dass er absterben könnte. Um das zu verhüten, entschloss Wladimirow sich, um den Darm mit einem Kaiserschnitt wieder freizulegen, obwohl die Umgebung nicht gerade geeignet war für eine Operation.
Wladimirow gab den Auftrag um im großen Zimmer im Erdgeschoß Licht zu machen und so viel wie möglich Wasser zu kochen. Als alles in Bereitschaft gestellt war, wurde Rasputin mitten in der Nacht, im Licht der schnellstens im ganzen Dorf gesammelten Kerosin-Lampen, von Doktor Wladimirow und seiner Assistentin Kuznetsowa operiert. Laut Kuznetsowa halfen dabei auch einige Frauen, worunter Rasputins Frau Praskowja. Die Operation war erfolgreich. Und so wurde, dank der Geistesgegenwart und dem Sachverstand Alexander Wladimirows und seiner Assistentin Praskowja Kuznetsowa, das Leben Rasputins mit knapper Not gerettet.
Erkennend wie schwer sein Patient verwundet war, warnte Wladimirow Rasputins Familie, dass er möglicherweise nicht am Leben bleiben würde. Rasputin selbst erklärte aber, dass er nicht sterben würde und legte dem Arzt ans Herz, um sich keine Sorgen zu machen.112 Im selben Sinne schrieb er auch dem Zaren und der Zarin: ‘Irgendeine alte Hexe (‘Baba’) hat mich mit einem Messer gestochen, aber wenn Gott es will, werde ich leben’.113 Später gab er aber zu: ‘Ich habe euch betrogen; die Verwundung war sehr gefährlich, der Blutverlust war groß und der Stank war schrecklich’.114 Übrigens ließ Rasputin, als er wieder bei Kenntnis war, einen Priester kommen, der ihm die Beichte abnahm und die Sterbesakramente verabreichte.115
Am Mittwoch, dem 2./15. Juli, drei Tage nach dem Attentat, hatte Rasputin sich soweit erholt, dass er ins Krankenhaus überführt werden konnte. Begleitet von seiner Frau und seiner Tochter Maria brachte man ihn mit dem Dampfer Suchotin über den Fluss Tura nach Tjumen, wo er am Donnerstag dem 3./16. Juli in aller Morgenfrühe ankam.116 In Tjumen wurde er sofort ins städtische Krankenhaus gebracht, wo Wladimirow ihn weiter verarztete, assistiert vom Chirurgen Kibardin aus der Stadt Jekatarinenburg.117 Obendrein arrivierte am 7./20. Juli per Sonderzug aus Sankt Petersburg den berühmten Chirurgen und Orthopäden Professor Roman Wreden, der die Wunde inspektierte und Rasputins Behandlung mit Wladimirow besprach.118
Rasputin musste noch wochenlang das Bett hüten, um von seinen Wunden zu genesen. Erst sieben Wochen später, am 17./30. August119, durfte er das Krankenhaus verlassen und in sein Haus in Pokrowskoje zurückkehren, von wo er am 20. August/2. September nach Sankt Petersburg abreiste.120 Äußerlich betrachtet nahm er dort sein gewohntes Leben wieder auf, aber innerlich war er ein ganz anderer Mensch geworden. ‘Er war nicht mehr derselbe Mann wie früher’, bemerkte seine Tochter in ihren Erinnerungen.121 Es war, als ob innerlich etwas in ihm geknackst war, als ob sein Vertrauen einen tiefen Schock erlitten hätte.
Als Gussewa nach ihrem Motiv für das Attentat gefragt wurde, erklärte sie der Polizei gegenüber, dass sie zur ihrer Tat gekommen sei, nachdem sie in den Zeitungen über diesen, inzwischen in ganz Russland berühmten ‘Mönch’ gelesen habe. 122 Dabei soll sie, laut ihren eigenen Angaben, zu der Einsicht gekommen sein, dass Rasputin ein falscher Prophet, wenn nicht gar der Antichrist war. Und genauso wie der heilige Prophet Elias damals 450 falsche Propheten mit einem Messer getötet hat, wollte sie nun auch den ‘falschen Propheten’ Rasputin töten.123
Damit erzählte Gussewa jedoch nicht die ganze Wahrheit. Wie später ans Licht gekommen ist, handelte Gussewa nämlich nicht aus eigener Bewegung, sondern wurde sie von ihrem geistigen Vater Sergei Trufanow, der ehemalige Mönch Iliodor, zu ihrer Tat angestachelt, wie sehr sie das beim Ermittlungsverfahren auch ableugnete.124
Es ist Iliodor selbst, der das in seinem Buch über Rasputin, das er nach seiner Flucht aus Russland schrieb, enthüllt. Darin erzählt er, wie Gussewa eines Tages zu ihm kam, um ihn um seinen Segen für ihre Tat zu bitten. Dabei ‘vereinte’ Iliodor nicht nur ‘seinen Willen mit ihrem’, sondern er ermunterte sie auch noch extra zu ihrer Tat: ‘Du musst Rasputin folgen, wohin er auch geht, und ihn töten’. – ‘Ich werde glücklich sein, Vater, um alles zu tun, was Sie von mir verlangen’, antwortete Gussewa. Daraufhin hängte Iliodor seiner ‘geistigen Tochter’ eine kleine Kette mit einem Messer um den Hals, sagend: ‘Töte mit diesem Messer Grischka’.125 Auf diese Weise wollte Iliodor, der früher eng mit Rasputin befreundet war, jedoch später sein Erzfeind geworden war, sich an Rasputin rächen für alles was Rasputin ihm, so Iliodor, angetan hatte.126 Unmittelbar nach diesem Gespräch reiste Gussewa ab, um ihr Opfer aufzusuchen.127
So sorgte das Schicksal, in der Form von Gussewas Dolch, dass Rasputin im verhängnisvollen Julimonat des Jahres 1914 nicht in Sankt Petersburg anwesend war. Die große Frage bei dem allem ist natürlich, was geschehen wäre, wenn Rasputin in dem Moment wohl in der Hauptstadt gewesen wäre, in der unmittelbaren Nähe des Zaren. Und – direkt oder indirekt – persönlichen Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse hätte ausüben können. Hätte sich der Zar auch dann zu seinem fatalen Schritt entschieden?
Abbilung 7: Rasputins Geburtsdorf Pokrowskoje in 1912
Abbilung 8: Rasputins Wohnhaus an der Hauptstrasse von Pokrowskoje, das er im Sommer 1906 für 1.700 Rubel gekauft hat mit Geld das ihm einige seiner Petersburger Anhänger zugesteckt hatten. – Neben dem rechten Tor ist das Bänkchen zu sehen, wo Gussewa nach Angaben der Polizei auf Rasputin wartete (sieh Abbildung 9, Nummer 2)
Abbilung 9: Von der Polizei gemachte Zeichnung vom Attentat auf Rasputin am 29. Juni/12. Juli 1914: (1) Rasputins Wohnhaus; in Wirklichkeit gibt es zwei Gartentore und kam Rasputin durch das rechte Tor heraus (sieh Abbildung 8); (2) Bänkchen neben dem Tor, wo Gussewa laut der Polizei Rasputin aufwartete (sieh Abbildung 8); nach Gussewas eigener Aussage wartete sie auf dem Bänkchen vor dem ) Gemeindeamt, bis Rasputin herauskam; (3) Stelle wo Gussewa Rasputin erstach; (4) Weg den Rasputin nahm, als er versuchte, Gussewa zu entkommen, drei Schritte hinter ihm von ihr nachgesetzt; (6) Gemeindeamt, wo Gussewa nach ihrer Tat eingesperrt wurde; (7) Haus eines Dorfbewohners vor dem Rasputin zusammensank; laut Berechnungen der Polizei machte er 108 Schritte; (10) Gussewas Unterschrift, die die Echtheit der Zeichnung bestätigt; die anderen Unterschriften unter der Zeichnung sind von Dorfbewohnern.
Abbilung 10 und 11: Der Priester-Mönch Iliodor, Urheber des Attentats vom 29. Juni/12. Juli 1914; nach dem Attentat flüchtete er nach Norwegen (links); Chionija Gussewa, die am 29. Juni/12. Juli 1914 Rasputin vor seinem Haus in Pokrowskoje erstach (rechts)
Abbilung 12 und 13: Rasputin in seinem Krankenhausbett in Tjumen am 4./17. Juli 1914
Abbilung 14: Der Chirurg Alexander Wladimirow aus Tjumen; zusammen mit seiner Assistentin Praskowja Kuznetsowa führte er in der Nacht nach dem Attentat in Rasputins Haus eine Notoperation aus, wodurch dessen Leben gerettet wurde
Abbilung 15: Die Hilfsärtzin Praskowja Kuznetsowa, die dem Chirurgen Wladimirow bei der Notoperation nach dem Anschlag assistierte (links oben)