Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 10
Kapitel 9
ОглавлениеDer Riese kam auf Naxbil zu, zähnefletschend folgte ihm der Megant, der Anstalten machte, sich auf ihn zu stürzen. Naxbil sah die angespannten Muskeln des Tieres, das nur durch die Macht seines Reiters davon abgehalten wurde, ihn zu verschlingen. Der Kämpfer schaute auf Naxbil hinab, ohne den Augenkontakt mit ihm zu brechen, rief er einen Befehl zum Meganten hinüber, der widerstrebend gehorchte und sich zurückzog, um andere Namenlose zu töten, die sein Herr nicht vor diesem Schicksal zu bewahren dachte. Wie erstarrt blickte Naxbil auf sein Gegenüber, der ebenso reglos dastand wie er, noch immer mit der Hand am Visier.
Mit einem lauten Quietschen, das sogar die Schreie der Sterbenden um die beiden herum übertönte, öffnete sich der Helm und zum Vorschein kam das runde Gesicht des Gladicus. Versteinert schauten sich die beiden an, beinahe bereits Verwandte, hier auf dem Feld der Unterstadt jedoch Feinde. Zumindest sah es so aus. Keiner fand ein Wort für die groteske Situation, die völlig unmöglich schien und in der beide keine Ahnung hatten, was sie nun tun sollten. Als Erster fand Gladicus seine Sprache wieder:
„Naxbil......aber...... du warst doch gerade noch bei der Zeremonie.....“ Gladicus hatte nicht mitbekommen, dass sich Naxbil sehr früh entschuldigt hatte.
Der Sohn des Vincus empfand es als unnütz zu antworten, tat es aber schließlich trotzdem:
„Wie du siehst, bin ich nicht mehr dort.“
Gladicus wirkte wie betäubt, denn den Konflikt, der in ihm schwelte, konnte niemand erahnen. Selbst Naxbil nicht, der langsam begann, diese Begegnung als positiv zu betrachten, die ihn zweifellos vor dem sicheren Tod und der Schande, in der Unterstadt zu sein, retten würde.
„Was tust du hier?“ Gladicus Stimme wirkte jetzt fester.
„Sagen wir, ich bin hier einigen unverschiebbaren Tätigkeiten nachgegangen.“
Die Antwort gefiel Gladicus nicht, dessen Miene immer noch steinern und stoisch den General zeigte, der in seiner Pflichterfüllung nicht schwankte und jetzt genau wusste, was er zu tun hatte.
„Naxbil, wer immer du bist, ob mein Bruder oder Freund, das hier ist ernst, auch wenn du morgen mein Schwager wirst, denn Juchata wird mich heiraten. Ich frage noch einmal, was tust du hier?“
Naxbil erkannte langsam, dass dies der letzte Sargnagel in seine Existenz sein konnte. Dieser grobschlächtige Krieger würde nicht einmal davor zurückschrecken, ihn der Obrigkeit auszuliefern, selbst wenn er sein Verwandter werden würde.
„Ich war eben hier, habe mich amüsiert. Warum auch nicht? Die Hochgeborenen können das ja kaum noch, untereinander schon gar nicht. Das verstehst du doch?“
Gladicus schüttelte mit dem Kopf.
„Es ist ein Verbrechen. Und noch dazu zu dieser Zeit. Wir wissen, dass ein Anführer die Namenlosen führt, einer, der, wie du siehst, eine Menge Anhänger gesammelt hat. Würde mich nicht wundern, wenn es ein Hochgeborener wäre, einer aus hohem Haus. Du zum Beispiel. Und nun finde ich dich hier. Jetzt rede endlich. Und keine Späße mehr.“
Jetzt verstand Naxbil, der ein lautes Lachen nicht verkneifen konnte.
„Ich soll das alles angezettelt haben? Ich? Der nicht einmal sich selbst kontrollieren kann, soll Hunderte zu diesem Aufstand gebracht haben?“
Mittlerweile waren die Truppen dazu übergegangen, den Verwundeten auf dem Platz den Garaus zu machen. Bald schon würden sich noch mehr Hochgeborene Soldaten für die Beiden interessieren, dann war es mit Naxbil endgültig vorbei. Noch wusste nur Gladicus von seinem verbotenen Ausflug.
Gladicus war das alles egal, denn er würde Naxbil ausliefern, das ahnte der Unglückliche. Gab es denn keinen Ausweg? Unter normalen Umständen hätte er versucht, Zeit zu gewinnen, doch selbst diese Option hatte er nicht.
„Gladicus, um Ophras Willen, hör auf damit. Willst du deinen Schwager an den Galgen bringen?“
Gladicus verzog keine Miene.
„Das hast du dir selbst eingebrockt. Du kommst jetzt mit, wir werden dich dem Rat vorführen.“
Was als Nächstes geschah, lief für beide wie in Zeitlupe ab. Eigentlich hob Naxbil nur die Hand mit der rostigen Eisenstange. Er würde später schwören, dass es ein Versehen war, dass er niemanden verletzen wollte.
Gladicus, der auf diese Aktion nicht vorbereitet war, machte keine Anstalten, sich zu wehren. Im Gegenteil, er wollte wieder auf Naxbil einreden, nur dass diesmal keine Worte aus seinem Mund kamen. Es war nur ein lautes Gurgeln zu hören. Gladicus schaute ungläubig auf Naxbil, der zu Tode erschrocken vor dem Riesen stand.
Gladicus fasste sich an den Hals, spürte die Stange, die dort herausragte und seine Luftröhre durchbohrt hatte. Das alles war ohne ruckartige Bewegung geschehen, kein Schlag, kein Stoß, nichts, wie von Zauberhand war die rostige Waffe mühelos durch den Hals des Generals geglitten, der diese Attacke nicht einmal wahrgenommen, geschweige denn gespürt hatte.
Die Augen des Gladicus weiteten sich, als er langsam verstand, was mit ihm geschehen war. Immer noch schaute er ungläubig auf Naxbil, immer noch fasste er nicht das Ausmaß seiner Verletzung. Er, der Unbesiegbare, der sich den wildesten Kämpfern gestellt und immer obenauf gewesen war, schwer verletzt durch einen schwächlichen Hochgeborenen?
Er röchelte, versuchte Luft zu holen, was ihm nur schwerlich gelang. Aus seinem Mund floss das dickflüssige, dunkelblaue Blut, während der Riese versuchte, den Eisenstab zu entfernen. Mit jedem Recken jedoch wurden die Schmerzen stärker und die Panik größer, denn je mehr er zog desto schwieriger wurde das Atmen. Sein blasses Gesicht wurde immer blauer, das Blut rann bereits an der Rüstung hinunter.
Alles spielte sich in Sekunden ab. Noch hatte niemand etwas von dem Vorfall mitbekommen, sicher weil Gladicus wie ein starker Baum stand und keine Anstalten machte, trotz seiner Verwundung, Schwäche zu zeigen. Er würde, wenn möglich, stehend sterben, ein Gedanke, der langsam in ihm heranreifte und mehr und mehr Wirklichkeit wurde.
Naxbil reagierte schnell, fand noch Zeit, Gladicus einige Worte zu sagen.
„Es tut mir leid, es war keine Absicht. Bitte verzeih mir.“
Dann drehte er sich so schnell wie möglich um und verschwand in einer der Gassen, die sich hinter ihm auftat. Als hätte er noch nicht genug Schwierigkeiten, sah er einen verletzten namenlosen Jungen, der nicht mehr laufen konnte. Kurz entschlossen packte er ihn und trug das Geschöpf, das kaum mehr die Kraft fand, sich an ihm festzuhalten. Er lief so schnell er konnte, der Gefechtslärm hinter ihm wurde immer leiser, auch wenn er nie ganz verstummte. Naxbil bemerkte es kaum, aber ihm folgten einige Namenlose, die sich an ihn geheftet hatten. Er machte den Eindruck als wüsste er einen Ausweg und die Nocturnen klammerten sich an diese Hoffnung, dem Massaker, das sicher noch die ganze Nacht weitergehen würde, zu entrinnen.
Naxbil erinnerte sich wieder, wo er war. Alles war ihm egal, er dachte nicht mehr, wollte nur noch in dem Loch verschwinden, aus dem er hier unten hervorgekrochen war. Bald schon hatten sie die Tiefen der Unterstadt erreicht, wo sich kaum noch jemand hin verirrte. Hier bewegte er den verwitterten, leichten Felsen, legte wie durch ein Wunder für die anderen den Eingang frei. Ohne zu fragen, folgten sie ihm. Er ließ sie gewähren, warum, wusste er nicht. Als der letzte Nocturn hindurch war, schob er den Stein wieder vor das Loch, unauffindbar für jeden außer ihm. Wie im Delirium lief er durch die uralten Gänge. Ein Ziel hatte er nicht. Stumm und erwartungsvoll folgten ihm die anderen. Noch immer trug er den Jungen, der inzwischen eingeschlafen war. Nach einer Stunde des Umherirrens hielt er inne, setzte sich auf das, was früher einmal eine Art Bürgersteig gewesen sein musste und ruhte sich aus. Noch immer sprach niemand ein Wort, doch alle folgten seinem Beispiel.
Naxbil ahnte, dass er heute Nacht zu weit gegangen war. Ab heute würde alles anders werden, nicht nur für ihn, auch für alle, die ihn kannten. Im Moment war er jedoch zu erschöpft, um einen klaren Gedanken zu fassen. Er legte sich auf die Steine, die gnadenvolle Dunkelheit des Schlafes umgab ihn nach wenigen Sekunden, er verlor sich in der Surrealität der Träume, in denen er noch immer unschuldig und unbefleckt war.