Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 12
Kapitel 11
ОглавлениеEs war bereits heller Tag, doch Pelleus saß immer noch wach in den Gewölben seines abgedunkelten Hauses. Im Gegensatz zu Vincus wohnte der alte General mitten in der Oberstadt, direkt am Parlamentsplatz in einem riesigen Wohnhaus. Hier gab es reichlich Platz, genügend Häuser, um alle Familien mit klangvollem Namen bequem unterzubringen. Selbst die, deren Namen eher niederen Ranges waren, wohnten am Rande der Oberstadt, mussten keinen Platzmangel fürchten, auch wenn sie bei Weitem nicht so komfortabel lebten wie die am höchsten Geborenen. Pelleus' Miene war finster, agitiert bewegte er den Stumpf seines Armes hin und her. Er war nicht allein im Zimmer und doch war niemand da, mit dem er sich hätte austauschen können. In ihm raste eine Wut, die so groß war, dass sie sich selber aufwog, beinahe zur Bewegungslosigkeit verkam, wenn sie sich nicht doch durch ein leichtes Zittern in seiner Gestalt verraten hätte. Die hohen Fenster im Erdgeschoss waren mit schweren Holzverschlägen gesichert, zusätzlich sorgten dunkelste Vorhänge aus Nilux dafür, dass selbst der winzigste Lichtstrahl regelrecht vernichtet wurde. Nur die Reichsten der Hochgeborenen konnten sich Nilux leisten, ein knappgehaltener Stoff, der Lichtstrahlen anzog und somit alles, was sich dahinter oder darunter befand beschützte. Selbst das Reisen am helllichten Tag war den Reichen auf diese Weise möglich, auch wenn das selten notwendig war. Die meisten Orte in der Oberstadt waren unterirdisch durch ein Straßensystem verbunden. Dieses stammte aus jüngster Vergangenheit, nur die Gebäude der höchsten Punkte um das Parlament herum waren jedoch angeschlossen. Dadurch hatten die Hochgeborenen auch die alte unterirdische Stadt nie entdeckt, die sich im unteren Teil der Oberstadt befand.
Pelleus seufzte tief, sah auf den Körper seines Sohnes. Noch immer hatte Gladicus seine Rüstung an, die über und über mit dem dunkelsten blauen Blut bedeckt war, ein Zeichen, dass die Wunde, die er sich zugezogen hatte, von ernster Natur war. Er war kurz vor Sonnenaufgang hierher gebracht worden, der Arzt der Armee hatte sofort mit Pelleus gesprochen, ihm gesagt, dass er nichts habe ausrichten können, dass die Verwundung tödlich gewesen war, auch wenn es etwa eine Stunde gedauert hatte, bevor Gladicus innerlich verblutet oder erstickt sei.
Alle, die davon wussten, befanden sich in einem Schockzustand. Die Armee war bereits unterrichtet, die Wut der Soldaten konnte Pelleus bis in den Keller hinein spüren. Der Tragus der Nocturnen hatte sofort reagiert und eine Versammlung einberufen, die gleich bei Nachtbeginn einsetzen sollte. Diese Schmach hatte es noch nie gegeben, ein durch Namenlose getöteter General war eine Schande, die sofort und rücksichtslos gesühnt werden musste.
Noch schlimmer als der Tod seines Sohnes jedoch wog die zweite Nachricht, die der Arzt ihm gebracht hatte. Gladicus war nicht sofort gestorben. Er hatte seinen Männern ebenfalls zu verstehen gegeben, wer ihn getötet hatte. Ob diese ihn richtig verstanden hatten, stand bis jetzt nicht zweifelsfrei fest. Gladicus' Luftröhre war durch den Eisenstab vollkommen zerfetzt worden, die Laute, die er noch hatte von sich geben können, waren undeutlich und vage gewesen, doch viele glaubten, ihn richtig verstanden zu haben: Naxbil, der Sohn des Vincus, seines Weggefährten und Freundes, hatte Gladicus angeblich getötet. Pelleus glaubte noch nicht daran, auch wenn Zweifel in ihm aufstiegen. Der missratene Sohn des Vincus hatte sich in der Nacht früh verabschiedet, doch machte ihn das zu einem Mörder? Niemand hatte den Vorfall gesehen. Gladicus hatte wie so oft an vorderster Front gestanden. Kein Hochgeborener außer den Soldaten war in der Unterstadt gesichtet worden, von niemandem. Doch die einfachen Soldaten glaubten an die Schuld des Naxbil, zu eindeutig wären die letzten Worte des Gladicus gewesen. Noch in der Nacht waren sie aufgebrochen, um dem Hause DeRoveres einen Besuch abzustatten. Sie waren noch nicht zurück. Das konnten sie auch nicht, denn die Villa des Vincus lag außerhalb und die zwei Dutzend Soldaten würden den Tag in diesem riesigen Gebäude verbringen, vermutlich mit dem Verhör der Verdächtigen.
Pelleus blickte auf das verzerrte Gesicht des Gladicus. Sein Sohn war im Stehen gestorben, pflichterfüllt und tapfer wie ein echter Magnus. Er lag tot vor ihm. Der, der ihm folgen sollte, der die besten seiner Eigenschaften geerbt und entwickelt hatte. Pelleus' Herz war angefüllt mit Stolz, die selbst seine Trauer überdeckte. Doch die Zweifel wurden immer größer, je mehr ihm die Realität ins Bewusstsein kam. Eine Realität, die grausam und erschütternd den langsamen Verfall seiner Familie bedeuten konnte.
Pelleus hatte noch einen weiteren Sohn. Brochma, um die 30, hatte sich entscheiden, dem Ophras zu dienen. Nicht etwa aus der Motivation des Ketauro heraus, sondern aus purer Überzeugung. Brochma musste für diesen Glauben, den er sich seit frühester Jugend erkämpft hatte, leiden, denn bald schon merkte er, wie korrupt die Priesterschaft war, wie weit sie sich vom Weg des Ophras entfernt hatte. Wer Brochma jedoch kannte, der einen stählernen Willen und eine unerschütterliche Sturheit besaß, wusste, dass dieser niemals aufgeben würde, die Religion der Nocturnen zu erneuern und zu reinigen. Brochma wurde bei seinen oft undiplomatischen Predigten nur vom Namen seines Vaters geschützt, der deshalb bei der Priesterschaft ausgesprochen unbeliebt war. Doch die Freundschaft oder besser Bekanntschaft zu Vincus hatte bislang die komplizierten Verhältnisse im Gleichgewicht gehalten. Um seinen Sohn hatte sich im Laufe der Zeit eine kleine Anhängerschaft versammelt, meist einfache Hochgeborene, die Brochma vergötterten. Noch konnte Pelleus die Taten seines Sohnes, die bereits einige wichtige Hochgeborene zumindest hatten aufhorchen lassen, kaschieren, aber wie lange das noch gut gehen würde, wusste er nicht.
Das alles verschwamm in dem Ozean der Unwichtigkeit, wann immer er die Leiche des Gladicus ansah. Langsam stieg in ihm die Trauer hoch. Er unterdrückte sie nicht mehr. In seinen Augen bildete sich die erste Träne, die, als sie endlich floss, einen Damm brach.
Er schrie seinen so lange zurückgehaltenen Schmerz hinaus, den die Liebe zu seinem Sohn auslöste, tobte über die Grausamkeit, ihn sterben zu sehen, wo doch er, Pelleus, an der Reihe war, zu seinen Ahnen zu gehen.
Nach einer halben Stunde versiegten die Tränen, Pelleus gewann die Oberhand über seine Trauer. Er löste sie durch Wut ab, die jetzt stärker denn je in ihm emporstieg.
Er schwor Rache. Rache demjenigen, der ihm seinen Sohn genommen hatte. Gleich in der nächsten Nacht hatte er eine Sitzung einberufen, er würde sich nicht nur dafür einsetzen, den Fall bis ins Letzte hinein aufzuklären. Auch die Vergeltungsaktion, die folgen musste, sollte ob des schändlichen Verbrechens ihresgleichen nicht kennen.