Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 8

Kapitel 7

Оглавление

Naxbil schlich zufrieden die Gassen der Unterstadt entlang. Er hatte bekommen, was er wollte. Seine Wahl war auf zwei reizende Geschöpfe gefallen, die ihn und sich selbst bis zum Letzten verwöhnt hatten. Die sexuellen Fähigkeiten, die Namenlose bereits in so jungen Jahren besaßen, erstaunten ihn immer wieder. Hemmungslose körperliche Liebe schien ihnen ins Blut geimpft. Beide Nocturninnen waren wunderschön gewesen, eine schlanke schwarzhaarige mit festen Brüsten, die andere eine üppige Blondine mit sanften Kurven. Die Zeit war in diesem unscheinbaren Haus wie im Flug vergangen und er war erstaunt, dass es bereits so spät war. Die Beiden musste er unbedingt wiedersehen, auch wenn es schwierig werden würde, denn ihre Namen kannte er nicht.

Naxbil kam in einen Teil der Stadt, in dem es wie in den meisten lauter zuging. Es wurde sogar immer voller, so dass Naxbil drängeln musste, um voranzukommen. Er wollte eigentlich nur noch in die Oberstadt, auf dem schnellsten Weg hier weg. Noch hatte er drei Stunden Zeit, bevor die Sonne aufging und die lange Nacht beendete, doch hatte er keinen weiteren Grund zu bleiben. Die Enge störte ihn anfangs nicht, er wusste, dass die Stadt hier unten überbevölkert war. Je weiter er lief, desto dichter standen die Nocturnen zusammen, ein selbst für diesen Ort ungewöhnlicher Auflauf. Jetzt hörte er es auch, jemand sprach im Dialekt der Unterstadt, eine etwas andere Form im Vergleich zur Oberstadt. Die Endungen zogen sich in die Länge, Ausdrücke und Worte waren verschieden, denn in den Jahrhunderten der Trennung und der geringen Vermischung waren zwei Sprachen entstanden, auch wenn beide noch genug Gemeinsamkeiten hatten, um sich zu ähneln.

Naxbil hatte diese Sprache der Unterstadt bereits vor langen Jahren lernen müssen, denn noch mehr als das falsche Gewand konnte ihn der falsche Dialekt zur jeder Zeit überall verraten. Er sprach ihn fast perfekt und nur manchmal, in seltenen Momenten, hielten Namenlose für einen Augenblick inne, bevor sie die Gedanken an einen Hochgeborenen in ihrer Welt mit einem Kopfschütteln verscheuchten.

Naxbil ärgerte sich bereits, dass er diesen Weg gewählt hatte. Es war der kürzeste, doch jetzt standen zu viele Nocturnen im Weg. Auch zurück konnte er nicht mehr, denn hinter ihm hatten sich die Reihen geschlossen und drängten nach vorne, wo er, gefangen zwischen der Meute, kaum noch einen Fußbreit vorankam. Eine röhrende Stimme, eindringlich und beinahe monoton, bedrängte seine Ohren. Diese Stimme wurde immer lauter, er konnte bereits Satzfetzen verstehen, auch wenn er den Sprecher noch nicht sehen konnte. Es fielen Worte wie „Aufruhr“, „Unterdrückung“ und „Sklaverei“ und langsam dämmerte es Naxbil, dass er in einen der berüchtigten Aufstände der Namenlosen hinein geraten war. Der Sprecher sprach weiter, „Ungerechtigkeiten“, „Hunger“, „Befreiung“. Es gefiel Naxbil gar nicht, denn wo das enden würde, wusste der Sohn des Vincus genau. Die Armee würde rasch Wind von der Sache bekommen und einrücken, dabei alles kurz und klein schlagen, was sich ihnen in den Weg stellen würde. Die Meute begann jetzt, den Sprecher zu unterstützen, Rufe feuerten ihn an, stimmten ihm zu und die Stimmung wurde mit jeder Sekunde aggressiver. In Naxbil wuchs bereits eine leichte Panik heran, er wollte jetzt so schnell wie möglich hier heraus, zurück in die sichere Oberstadt, doch seine Bewegungen waren jetzt vollends zum Stillstand gekommen. Statt sich in Richtung Ausgang zu bewegen, schob ihn die Masse langsam und unaufhaltsam in eine Richtung, die ihn von seinem Ziel immer weiter entfernte. Neben ihm begannen die Nocturnen, alles, was sich als improvisierte Waffe eignen konnte, aufzusammeln, Holzlatten, Eisenstangen, Steine. Die Rufe wurden immer lauter, Naxbil war mitten in den Aufstand geraten. Bislang hatte er so etwas immer nur von Erzählungen gekannt. Die Propaganda der Oberstädter berichtete in unregelmäßigen Abständen über Revolten in der Unterstadt, die die glorreiche Armee unter todesmutigem Einsatz ohne viel Federlesens zunichtegemacht habe. Dass dabei Heldengeschichten entstanden, war Teil des Plans, Gladicus gehörte immer dazu, Worte wie „Krieg“ und „Schlacht“ fielen leicht, auch wenn selten mehr als zwei Dutzend Namenlose involviert waren.

Doch das, was Naxbil jetzt erlebte, schien anders, größer, denn als er auf einen der wenigen größeren Plätze kam, auf dem er den Sprecher von Weitem auf einem zusammen gezimmerten Podest sah, wurde ihm bewusst, dass es Hunderte, wenn nicht gar Tausende sein mussten, die diesem Aufruf nach Ungehorsamkeit gefolgt waren. Irgendjemand drückte ihm eine rostige Stange in die Hand, wahrscheinlich ein altes Brecheisen, das bereits völlig verbogen war. Die Enge bedrückte ihn. Während er die Berührungen seiner beiden Gespielinnen heute Nacht genossen hatte, waren ihm die versehentlichen Kontakte mit den vor Schweiß triefenden Namenlosen jetzt so unangenehm, dass er am liebsten wild um sich geschlagen hätte. Doch es half nichts, er stand mitten in der Menge, die immer aufgeregter wurde und sich weiter in Bewegung setzte. Laut seinen Berechnungen liefen sie in Richtung Haupttor, die am meisten bewachte Anlage in der Oberstadt. Eine militärische Narrheit, die selbst Naxbil erkannte, denn er wusste um die Uneinnehmbarkeit dieser Festung.

Er versuchte sich erneut, gegen die Vorwärtsbewegung zu wehren, bemüht, sich aus der Masse zu befreien, die ihm jedoch keine Wahl ließ. Sie schob ihn unaufhaltsam weiter. Immerhin wurde die Gasse etwas breiter, was jedoch nur eine teilweise gute Nachricht war, denn sie befanden sich auf der Hauptstraße, die direkt in Richtung Verderben führte – die Oberstadt. Wie in einem Fluss, in dem er mitgespült wurde, bemühte sich Naxbil, zumindest aus der Mitte an die Seite zu kommen. Es gelang ihm nur mit größter Mühe. Nachdem er seinen Körper immer wieder nach links gedrückt hatte, befand er sich jetzt fast direkt an der Häuserwand, in der Hoffnung, irgendwo in eine kleine Gasse entschwinden zu können. Doch aus allen Winkeln drängten Nocturnen mit ihren hoffnungslos unterlegenen Waffen in Richtung Stadttor.

Naxbil geriet in Panik, versuchte stehen zu bleiben, sich in eine Nebenstraße hinein zu schieben, nur um wieder weiter in die Mitte der Hauptstraße gedrückt zu werden. Von hinten hörte er die Anfeuerungsrufe des Anführers, der der Meute gefolgt war, um deren Aggression weiter zu schüren.

Die Situation war brenzlig und Naxbil bereute und verfluchte seine Lust nach Vergnügen, die ihn in diese Lage gebracht hatte.

Er sah noch nichts, doch konnte er ein ohrenbetäubendes Donnern vernehmen. Plötzlich war alles still, niemand rührte sich mehr, denn der Schreck saß allen in den Knochen. Naxbil kannte das Geräusch, nur ein einziges Mal hatte er es gehört. Es war das Krachen der Scharniere. Vor ihnen öffnete sich das Tor zur Oberstadt, was so selten geschah, dass es jedes Mal donnerte, wenn sich das Eisen aus seinem Schlaf befreite.

Es war ein schlechtes Zeichen, denn es hieß, dass die Armee bereitstand, diese Revolution zu zermalmen. Dann geriet die Masse in Bewegung, erst langsam wie eine tiefe Welle, die sich die Kraft über Tausende von Phrakten im Ozean holt, um dann wie rasend an der Küste zu zerschellen. Sie drückte von vorne, die Wand aus Nocturnen hinter ihm gab jedoch nicht nach. Sie hielt dagegen, wich zu langsam zurück. Schon spürte Naxbil einen gewaltigen Druck in der Brustgegend, die Schreie und das Knacken um ihn herum nahm er zwar wahr, dass es sich dabei um nachgebende und splitternde Knochen handelte, verstand er nicht.

Er wich so gut es ging zurück. Langsam geriet die Masse hinter ihm in Bewegung. Der Druck auf seinen Brustkorb ließ nach, während das Geschrei um ihn herum anschwoll. Hunderte von Nocturnen gerieten in Panik, einige stolperten, verschwanden auf dem harten Stein der Straße und unter den Füßen der Flüchtenden. Auch Naxbil spürte, wie sich seine Kehle langsam vor Angst zuzog. Er schob und drückte, um zu überleben. Ohne Vorwarnung fühlte er einen Ruck, hinter ihm war eine ganze Gruppe hingefallen. Naxbil taumelte. „Jetzt nicht stürzen.“ ging ihm durch den Kopf, denn niemand würde jetzt auf irgendjemanden achten, der auf der Erde lag. Mit einiger Mühe konnte er sich auf den Beinen halten, trat dabei auf weichen, unebenen Untergrund, der lebendig und schmerzerfüllt unter ihm aufheulte. Er kümmerte sich nicht darum, stürzte weiter, konnte sich umdrehen und sah bereits den großen Platz mit dem Podest vor sich, das ihn immer mehr an ein Schaffot erinnerte. Hier hatte er etwas mehr Raum, doch die Masse nahm ihm noch immer den größten Teil der Sicht. In seiner Aufregung konnte er sich nicht orientieren, längst reagierte er nur noch auf die äußeren Ereignisse, anstatt in aller Ruhe nach einem Ausweg zu suchen.

Dann kamen sie, die Horden aus der Oberstadt. In ihren glänzenden, schwarzen Rüstungen preschten sie vor. Erst die Kavallerie auf den Meganten, die Megantorier, vor der jeder panisch floh. Das bestätigte die Gefährlichkeit der Situation, denn die Meganten waren die mächtigste Waffe der Armee, furchterregend ihr Gebrüll und das schwere Getrampel versetzten alle in Angst und Schrecken.

Die sechsbeinigen, stahl-gepanzerten Monster hieben wild um sich, ihre langen Hälse aufgerichtet, nach Beute spähend, die gewaltigen Zähne in der kurzen Schnauze gruben sich bereits in das Fleisch der Feinde. Ihre Reiter waren nicht weniger furchterregend. Ebenfalls stark gepanzert, klirrend und scheppernd, schlugen sie mit ihren scharfen Klingen auf die Namenlosen ein.

Voller Panik sah Naxbil sich um, nach allen Seiten stoben die Unglücklichen auseinander. Schon lag der Geruch von Blut in der Luft, Naxbil meinte es sogar zu schmecken, den eisernen Geschmack auf der Zunge. Keine drei Phrakten von ihm entfernt wütete eines dieser Biester. Er sah, wie es einen Namenlosen im Genick packte. Der versuchte sich zu befreien, schreien konnte er nicht, doch der erschrockene, verzerrte Gesichtsausdruck sprach ohne Laute. Der Unglückliche wusste, dass er verloren war, der Tod selbst hatte ihn am Kragen. Lange musste er nicht leiden, denn ein plötzliches Krachen zeigte an, dass das Genick gebrochen war. Eine Sekunde später saß der Kopf nicht mehr auf dem Rumpf, der weiße Megant mit seiner schwarzen Rüstung war über und über mit blauem Blut beschmiert. Den Kopf hatte er hinuntergeschluckt, Naxbil sah das runde Etwas den langen Hals des Meganten hinunter rutschen. Er erschauerte, kaum in der Lage sich zu rühren. Der Reiter auf dem Untier lachte laut, ein Lachen, dass wie der Donner ertönte und sich über den ganzen Platz legte. Ein wahrer Riese, der das Licht des Mondes verdunkelte, seine kräftige Gestalt in einer ebenfalls schwarzen Rüstung versteckt. Das Visier, das Gesicht und Hals schützte, war einer Megantenschnauze nachempfunden. Wie aus einem Traum wachte Naxbil auf, vernahm die entsetzlichen Schreie der Namenlosen, die um ihn herum zu Dutzenden zermalmt wurden. Die Armee hatte sogar Phospirabomben eingesetzt, jenes Material aus Phiro und Ralis, das im richtigen Verhältnis vermischt heißer als die Hölle und völlig lichtlos und unsichtbar brannte. Nur mit Phosphira konnte der harte Stahl geschmiedet werden, den Naxbil jetzt vor sich sah.

Lichtlos brannten die Phosphirabomben, die Lebendige oder Tote entzündeten. Der Gestank drang in Naxbils Nase. Rauch legte sich über den Platz, der bereits angefüllt war mit zuckenden Leibern und verzweifelten Namenlosen, die noch immer versuchten, dem Massaker zu entkommen.

Der Megant hatte Naxbil entdeckt, und wenn der Reiter ihn nicht mit einer ruckartigen Bewegung der Zügel zurückgehalten hätte, wäre jetzt sicher auch Naxbils Kopf auf dem Weg in einen der drei Mägen des Meganten. Das Tier jedoch gehorchte seinem Besitzer, senkte den Kopf, ohne dabei Naxbil aus den Augen zu verlieren. Die gelben, schmalen Pupillen leuchteten, strahlten Gier und Gewalt aus, die jederzeit bereit dazu waren, sich auf die Beute zu stürzen. Langsam stieg der Kämpfer vom Monster, die stählerne Rüstung klirrte laut. Der Krieger strich mit seinen eisernen Pranken über die roten Federn auf seinem Helm, sein Lachen ertönte immer noch, doch klang es jetzt heller.

Naxbil fiel auf die Knie, er wusste auch nicht genau warum. Was jetzt geschehen würde, lag nicht mehr in seiner Hand. Seine Angst war verflogen, denn es gab nichts, was er noch fürchten musste. Sein Leben war nichts mehr wert, eigentlich hätte ihn der Megant bereits verspeist haben müssen, so dass jede weitere Sekunde seines Lebens ab jetzt ein Geschenk war. Und innerlich bettelte er nach vielen dieser Geschenke, auch nur für einige Sekunden mehr auf dieser Welt wäre er bereit, alles zu tun. Er flehte zu Ophras, zu dem er seit seiner Kindheit nicht mehr gebetet hatte. Er versprach in seiner Not, den Namenlosen zu helfen, wenn Ophras ihn aus dieser Zwickmühle befreien würde. Dieser Gedanke war der Erste, denn das Leid, die Angst, der Schmerz und der Tod lagen nur wenige Phrakten von ihm entfernt.

Der Riese vor ihm hatte seine Hand auf das Visier gelegt, das Lachen war verstummt.

„Was immer auch geschieht, oh Ophras, hilf mir“ dachte Naxbil, bevor er in das Gesicht des Hochgeborenen schaute...

Nocturnia - Die langen Schatten

Подняться наверх