Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 9

Kapitel 8

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Der Bote kam zur rechten Zeit. Zumindest empfanden Vincus und sicher auch die Borjas diese Störung als Genugtuung oder auch als Zeichen. In voller Kampfmontur zeigte sich der Hochgeborene, Antricio, der Sohn der Pesiphonia Chikato und Adjutant des Gladicus, somit Mitglied des Megantorions, der Elite - Einheit, die Gladicus führte. Diese Stoßtruppe war immer an vorderster Front zu finden, brach die Formationen der gegnerischen Truppen auf und bildete die stärkste Einheit in der Armee. Egal wie groß die Truppenstärke des Gegners, die Megantorier hatten schon zahlenmäßig weit überlegene Aufstände der Namenlosen in Windeseile aufgerieben. War die Formation des Gegners erst einmal gestört, konnten die Infanteristen den Rest erledigen, meist nur noch eine Frage von Grausamkeit und Zeit.

Der Soldat hatte eine dringende Botschaft für Gladicus, der gerade im Hochzeitsgewand durch den Saal schritt. Die beiden redeten kurz, dann wandte sich der General an die Anwesenden.

„Meine Verehrtesten, die Kunde hat mich erreicht, dass ein gewaltiger Aufstand die Unterstadt erschüttert. Meine Anwesenheit ist umgehend erforderlich, daher bitte ich, mich zu entschuldigen. Ich weiß, dass es ein ungünstiger Zeitpunkt ist, doch die Situation ist so brenzlig, dass ich nicht zögern kann. Vater (er wandte sich eher an Vincus als an Pelleus), bitte sorgen Sie dafür, dass wir die Zeremonie so bald wie möglich nachholen.“

Verflogen war seine Unterwürfigkeit, er wirkte beinahe größer als er war. Sein stolzer Körper streckte sich, wirkte gigantisch neben den anderen. Jetzt fühlte er sich sichtlich wohler in der Rolle des Generals, der seine Worte plötzlich eloquent wählt. Selbstsicher und würdevoll schritt er davon, ließ die beunruhigten Gäste zurück. Juchata traf Gladicus, als dieser gerade hinaustreten wollte. Sie strahlte in ihrem schwarzen, seidenen Gewand, ihr durchsichtiger Schleier konnte das Rot der feurigen Haare nicht verdecken, das unter dem Stoff hervor schien wie die nie gesehene, untergehende Sonne in den Bergen selbst.

Gladicus, für einen Moment überwältigt und geneigt, die Revolte anderen zu überlassen, riss sich förmlich von ihrem Anblick los. Zuerst jedoch nahm er ihre Hand:

„Juchata, meine Gattin, ich habe keine Zeit für Erklärungen. Bitte verzeihen Sie mir, Ihr Vater wird mit Ihnen reden. Ich bin untröstlich, doch kehre ich wieder, sobald ich kann. Ich verspreche, es wird nicht lange dauern.“

Abrupt ließ er sie los und drehte sich um, denn er wusste, wenn er nur eine Sekunde länger in dieses wundervolle Gesicht schauen würde, wäre er nicht mehr in der Lage, seine Pflicht zu erfüllen. So stark waren seine Gefühle, dass er wankte. Doch dann fing er sich, schritt voran, Antricio folgte ihm. Baribas schaffte es gerade noch, das Tor zu öffnen, sonst wäre Gladicus sicher hindurch gelaufen wie durch harmloses Gestrüpp. So aber krachte die Pforte hinter ihnen zu und ließ die verwirrten Familien zurück.

Als Erstes fingen sich die Borjas. Pelates nickte Vincus mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zu. Pelleus wirkte enttäuscht, mit seinem ihm verbliebenen Arm gestikulierte er, während er sich für etwas entschuldigte, von dem selbst er wusste, dass es für einen General wie Gladicus sogar in dieser privaten Situation kein Zögern gab. Die Pflichterfüllung stand an oberster Stelle, alles andere hatte sich unterzuordnen. Jeder im Saal wusste das, niemand war böse, was sicherlich zum großen Teil daran lag, dass niemand außer Pelleus und seiner Gemahlin Livia, deren Meinung nicht zählte, diese Heirat wollte. Selbst Juchata wirkte erleichtert, was sie eine Spur zu stark zeigte, denn das Lächeln in ihrem Gesicht breitete sich aus wie eine überschwappende Welle. Doch Pelleus war zu sehr mit der Absage der Zeremonie und dem Stolz über die Wichtigkeit seines Sohnes beschäftigt, um derlei mikroskopische Zeichen zu bemerken. Vincus hingegen nahm es wahr. Er fragte sich, wie er seiner Tochter begegnen sollte. Bislang war das im Grunde egal, denn die Heirat würde stattfinden, sobald Gladicus von seinem blutigen Ausflug zurückkehren würde. Es war ausgeschlossen, dass das noch in dieser Nacht geschehen würde, denn nur noch wenige Stunden trennten sie vom Sonnenaufgang.

Daher wandte sich Vincus an seine Gäste:

„Liebe Freunde und Weggefährten, Ihr habt es gehört. Unser tapferer General muss seinem Volk dienen und ist in aller Eile dem Ruf nach Hilfe gefolgt. Wir bleiben zurück und gedenken seiner, der sein Leben für unser aller Sicherheit aufs Spiel setzt. Meine untröstliche Tochter (er wusste nicht, ob er es wirklich so meinte oder ob der Sarkasmus seinen Weg längst in seine Worte gefunden hatte) wird auf ihren Bräutigam warten und sich zurückziehen. Da uns nur noch wenige Stunden dieser Nacht verbleiben, schlage ich – Euer Einverständnis vorausgesetzt, werter Pelleus – vor, die Zeremonie auf die morgige Nacht zu verschieben. Wir alle wollen uns gleich nach Sonnenuntergang wieder hier im Saal einfinden, um den Bund zu beschließen und die göttliche Wahl zu ehren. Ketauro, ich hoffe, du hast gegen diese Verzögerung nichts einzuwenden. Du hast selbst gesehen, dass wir keine andere Wahl hatten und ich hoffe ebenfalls, dass das göttliche Gesetz diese kleine Verzögerung verzeiht.“

Ketauro schaute stolz und wichtig in die Runde:

„Macht Euch keine Sorgen, alter Freund, diese Verzögerung ist von Ophras selbst gesandt. Morgen, gleich früh in der Nacht, wollen wir einen erneuten Versuch starten. Hoffen wir, dass Gladicus gesund und mit einem weiteren Sieg zu uns zurückkehrt. Ich werde für ihn beten.“

Ketauro sprach so feierlich er konnte und beschloss damit die Versammlung. Pelleus brummte zwar unzufrieden, denn er war ein Mann der Tat, der eine Geschichte so schnell wie möglich hinter sich zu bringen gedachte, doch auch seine Hände waren gebunden. Die Borjas gaben sich auf natürliche Weise ebenfalls mit der Verzögerung zufrieden, waren gespannt wegen des Plans, den Vincus ausgeheckt hatte. Der Tragus selbst hatte Zeit gewonnen, es war mehr als er noch vor wenigen Minuten zu hoffen gewagt hatte, doch das Problem war nur hinausgezögert worden, eine Lösung weiterhin nicht in Sicht.

Während er die Gäste verabschiedete, verschwand Juchata in ihren Gemächern. Zuerst legte sie die kostbaren Hochzeitsgewänder ab, viel zu hastig, so dass die eine oder andere schwarze Perle vom Bustier sprang, doch konnte sie es nicht länger ertragen, dieses Spiel weiter zu spielen. Mit aller Kraft warf sie das zusammengeknüllte Kleid in die Ecke. Nach der Wut folgte Verzweiflung. Die Worte von Calavus hallten in ihr wider, fast war sie geneigt, ihren Entschluss zu bedauern, verwarf diese Idee, holte sie dennoch nach einer Sekunde wieder an die Oberfläche, um sie erneut zu zerkauen und diese zum Anlass zu nehmen, sich Vorwürfe zu machen. Alles war so verwirrend, so aussichtslos. Auf eine für sie annehmbare Lösung vermochte sie nicht zu kommen.

Ihre Gliedmaßen wurden mit jeder Sekunde schwerer, die Verzweiflung immer schlimmer, die bald einer sanften Depression wich. Kaum noch war sie in der Lage, sich zu bewegen, lag auf ihrem Himmelbett, die roten Tücher hingen lustlos vom Gestänge.

Sie nahm das Bild ihrer Mutter, ein winziges, in Öl gemaltes Werk eines namenlosen Künstlers, der es kurz vor ihrem Tod erschaffen hatte. Ihre Mutter Marletta war gestorben, als sie vier war. Sie erinnerte sich kaum noch an sie. Juchata sprach manchmal mit ihr, hatte das Gefühl, ihr nahe zu sein, sie zu verstehen und selbst verstanden zu werden. Sie wusste nicht viel von ihr, nur dass sie immer schon kränklich gewesen war und eine Epidemie, die zu dieser Zeit in der Unterstadt wütete, nicht überlebt hatte. Oft schon hatte sie sich gefragt, warum ihre Mutter ihr so wenige Sachen hinterlassen hatte. Das Bild war Juchata am wichtigsten. Mit dem Inhalt der Schatulle, eigenartige Flaschen, schwerer Schmuck und Amulette, konnte sie nichts anfangen. Wahrscheinlich hatte ihr Vater nach ihrem Tod alles vernichtet, um sich nicht all zu lange mit der Erinnerung zu plagen.

Sie schaute auf das Bild, fühlte langsam, wie sich ihre Lebensgeister erholten. Sie rekelte sich auf den Laken, war zwar von einem Lächeln noch weit entfernt, doch das Bild half ihr, wieder zu sich zu finden.

Sie stand auf, legte den Rest ihrer Kleidung ab und entledigte sich somit sämtlicher Zeugen dieser schicksalhaften Nacht. Splitternackt setzte sie sich wieder auf das Bett, sah sich im Spiegel und musste lachen. Es war ein dunkles Gelächter, von dem sie nicht sagen konnte, wo es herkam. Ihre festen Brüste schaukelten bei jedem ruckartigen Atmen, ihr leicht geöffneter Mund entließ das meckernde Geräusch einer bösen Ahnung. Plötzlich war es vorbei, Tränen flossen ihre Wangen hinunter. Sie sah sich, doch wie aus der Ferne, denn die Person, die sie anblickte, schien nicht mehr sie selbst zu sein. Sie war es nicht, die gelacht hatte, sie war es nicht, die weinte.

Oder doch?

Die Kontrolle war schon längst geschwunden und hatte starken Emotionen Platz gemacht, die sie beherrschten und die sie nicht verstecken konnte. Nach diesen schwierigen Augenblicken in einer Welt, die sie nicht kannte, kam sie wieder zurück in die Realität.

Jetzt musste sie zu ihrem Vater, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Es war ein Spiel, das er gespielt hatte. Sie hatte es angenommen, jedoch nicht nach seinen Regeln gespielt. Es geschah ihm recht. Plötzlich bedauerte sie es nicht mehr, so gehandelt zu haben. Sie wusste auch, dass diese Heirat mit Gladicus niemals zustande kommen, dass sie lieber sterben als sich diesem Schwachkopf hingeben würde. Jahrelang hatte sie getan, was ihr Vater von ihr verlangt hatte. Nun war der Moment gekommen, ihn zu überwinden.

Es blieb nicht viel Zeit, um sich aus dem Staub zu machen. Sie zog sich an, zwängte sich wieder in ihr Korsett. Ihre schwarze Hose hatte sie rasch zugeknöpft. Die Haare bändigte sie diesmal zu einem Megantenschwanz, der sie nicht behinderte.

Auch wenn sie fest entschlossen war, diesen Ort, der so lange Zeit ihr zu Hause gewesen war, so schnell wie möglich zu verlassen, zögerte sie. Langsam packte sie einige Sachen, überlegte hin und her, was sie mitnehmen sollte, bevor ihr klar wurde, dass sie nach Gelegenheiten suchte, länger zu verweilen. Wieder setzte sie sich aufs Bett, überlegte, was sie eigentlich machen wollte. Wohin sollte sie gehen?

Aus der Stadt hinaus, doch niemand wusste, was sie dort erwartete. Wo sollte sie sich vor dem Licht schützen, wovon sollte sie sich ernähren? Gab es etwas außerhalb dieses Ortes? So viele Jahre hatte sie hier gelebt, niemals war ihr der Gedanken gekommen, irgendwo anders hinzugehen, denn die antiken Sagen berichteten von grauenhaften Ungeheuern und tödlichen Schrecken, die sie außerhalb der Heimatstadt erwarten würden. Aber war nicht die größte Gefahr besser als ein Leben in Gefangenschaft an der Seite von einem Ehemann, den sie nicht liebte? Wurde der Tod selbst nicht zu einer süßen Option, wenn sie an die Ketten der Gesellschaft dachte, in die eine Nocturnin bereits seit ihrer Geburt unausweichlich gelegt war? Wieder erschien alles hoffnungslos, wieder fühlte sie die aufkeimende Traurigkeit, die unausweichlich wieder in erstarrender Depression enden würde. Sie nahm das Bild ihrer Mutter, das ihr ein weiteres Mal half. Als steckte ihr gesamter Mut in diesem winzigen Gemälde, drückte sie es an ihr Herz. Sie würde gar nichts mitnehmen außer den wenigen Dingen, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Das Bild verstaute sie in ihre Ledertasche, ebenso die kleine Schatulle. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie ihr diese geheimnisvollen Gegenstände helfen sollten, tat sie es trotzdem. Den Dolch von ihrem Vater steckte sie in ihren breiten Gürtel, sonst ließ sie alles zurück.

Die schlurfenden Schritte hörte sie bereits von Weitem. Baribas näherte sich ihrem Gemach. An ihm gab es jetzt keinen Weg vorbei, denn der Flur war die einzige Möglichkeit, zur Treppe zu gelangen. Sie fluchte laut, verwünschte sich selbst für die verschwendete Zeit. Fünf Minuten eher und sie wäre nicht mehr hier gewesen. Stattdessen hatte sie gezögert, den Augenblick der Flucht verpasst. Insgeheim jedoch war sie Baribas dankbar, der ihre Entscheidung zur Ungehorsamkeit vereitelt hatte. Sicher wollte ihr Vater mit ihr reden. Vielleicht war es besser so. Der Diener würde noch einige Minuten benötigen, bevor er ihr Zimmer erreichte. Diese Zeit nutze Juchata, um sich auf die Begegnung mit Vincus vorzubereiten. Sie würde ihm die Stirn bieten, sich seinen Wünschen widersetzen. Sie versuchte, sich die Situation vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Noch nie hatte sie es gewagt, den Willen ihres Vaters zu ignorieren. Tief im Innern wusste sie, dass ihr eine gewaltige Auseinandersetzung bevorstand, denn trotz der kontrollierten Art ihres Vaters kannte sie sein Temperament, seine Hitzigkeit, die nur sie sehen konnte und die er so gut versteckte. Von klein auf hatte sie die Rolle, die Vincus spielte, durchschaut. Würde er jetzt, in dieser Situation, sein wahres Gesicht zeigen? Sie ahnte es, doch hoffte sie auf seine zerreißende Logik. Ihr war sie ebenfalls nicht gewachsen, doch war es etwas Bekanntes, dass sie deshalb weniger fürchtete, auch wenn ihr damit der Erfolg gleichfalls versagt bleiben würde.

Baribas klopfte, sie stand bereit. Wie sie erwartet hatte, wollte ihr Vater sie sehen. Sie gehorchte umgehend, folgte dem Diener, der langsam voranging. Während sie lief, zweifelte sie, ob sie nicht doch nachgeben und zumindest ohne weitere Komplikationen den General heiraten sollte. War nicht durch sie bereits genug Unheil entstanden, in dem sie sich dem Willen ihres Vaters widersetzt hatte? Zwar konnte sie sagen, dass sie nicht verstanden, er sie nicht genügend in seine Pläne eingeweiht hatte. Doch beide wüssten, dass das eine Lüge wäre, um die Situation, in der sie sich beide befänden, erträglicher zu machen. Sie wankte, wusste nicht, ob sie den Mut aufbringen würde. Sie trug ihre Tasche, hatte nicht gemerkt, dass sie sie nicht abgelegt hatte. Das Bild ihrer Mutter drückte leicht gegen ihre Hüfte, sie spürte es als wäre es ein Teil von ihr. Die magische Wirkung trat wieder ein, Juchata fand ihre Entschlossenheit wieder. Sie wollte nicht zögern, spürte, dass sie sich nicht für das Unrecht, dass ihr Vater ihr und dieser Gesellschaft angetan hatte, entschuldigen musste. Ganz im Gegenteil, die anderen sollten sich ihr beugen, denn sie hatten sie alle benutzt, wollten sie für ihre egoistischen Ziele einspannen.

Baribas öffnete die mit Eisen beschlagene Tür zu den Gemächern des Vincus. Der riesige Vorraum, der als Arbeits- und Empfangszimmer diente, war von schlichter Einfachheit. Außer einem Podest mit einem Tisch und einem majestätischen Stuhl befand sich nichts darin. Die Adern auf den Steinplatten an den Wänden schienen zu leben, sie schillerten in die Finsternis hinein und gaben dem Raum etwas Unheimliches, so dass beinahe jeder, der ihn betrat, sich eines Gefühls der Beklommenheit nicht entziehen konnte. Auch Juchata ging es so, die Umgebung verängstigte sie, noch bevor sie überhaupt ihrem Vater begegnet war. Aber vielleicht war das der Sinn, die Taktik des genialen Politikers.

Vincus empfing sie sitzend, sein Gesicht verriet nichts, keine einzige Emotion konnte Juchata spüren. Er saß auf seinem steinernen Stuhl, vor ihm der dunkle Tisch, die Voluten der Armlehnen rollten sich unter den Händen des Tragus. Er schaute von seinem Podest aus auf sie hinab. Eine Möglichkeit, sich ebenfalls zu setzen, gab es nicht, so dass Juchata stehend zu ihrem Vater hinaufschauen musste. All die Jahre vorher hatte sie nie einen Grund gehabt, an diesem Arrangement zu zweifeln, jetzt jedoch empfand sie die tiefe Demütigung, stehen und aufschauen zu müssen, während ihr Vater saß. Erst jetzt, in dem Moment, in dem ihr Gewissen ihr verriet, dass er nicht zufrieden mit ihr war und sie seinen Zorn von oben fürchten musste.

Vincus begann, wie immer in einer feierlichen Manier:

„Meine Tochter, endlich haben wir Zeit zu reden. Lange habe ich nachgedacht, habe mit mir gekämpft, ob ich dich überhaupt vor der morgigen Zeremonie sehen sollte. Doch dann dachte ich mir, dass es besser wäre. Ab morgen wirst du nicht mehr in diesem Haus leben, morgen schon wirst du mit deinem Gatten, wer auch immer es letztlich sein wird, zusammenwohnen, so dass wir nicht mehr oft die Gelegenheit haben werden, Zeit miteinander zu verbringen. Lass uns feiern und vielleicht über die Dinge reden, die dich bedrücken.“

Juchata blickte zu ihm auf, sagte aber vorerst nichts. Hinter ihr spürte sie die Präsenz des Baribas, der sich also immer noch im Raum aufhielt.

Lange sagten sie nichts, nur der Blick des Vincus durchbohrte seine Tochter, die vergeblich versuchte, ihm standzuhalten.

Dann durchbrach Vincus die eisige Stille:

„Meine Tochter, verzeih mir. Zu viel habe ich dir zugemutet. Es sollte so kommen, wie es kam. Alles ist meine Schuld, wir hätten viel mehr reden müssen, dann hättest du verstanden.“

Juchata sah ihren Vater eindringlich an, denn sie hatte vom Versteckspiel genug, das sie ihr ganzes Leben gespielt hatte. Sie spürte, wie das Bild ihrer Mutter sich an ihren Körper drückte, es wirkte schwerer und machte auf sich aufmerksam.

„Vater, ich habe sehr wohl verstanden. Ich habe verstanden, was du von mir wolltest. Ich habe verstanden, was die Gesellschaft von mir wollte und ich habe verstanden, was dieser fürchterliche Calavus von mir wollte. Alles ist so geschehen, wie ich es wollte. Nun, fast genauso.“

Vincus lächelte milde.

„Ich sehe, ich brauche keine großen Worte mehr machen. Du hast alle durchschaut, auch mich, deinen Vater. Und du hast aus deinem freien Willen gehandelt, das kann man sehen.“

Juchata dachte: „Ach Vater, nach meinem Willen habe ich nicht gehandelt, denn den kenne ich selbst nicht. Ich habe nur das kleinste Übel gewählt.“ Doch sie sagte es nicht. Stattdessen murmelte sie:

„Ja, Ophras hat aus mir gesprochen.“

„Wie du willst, doch jetzt müssen wir zusehen, dass Ophras Wille sich ein wenig ändert. Wir müssen einen Weg finden, den Eindruck, den du heute Nacht erweckt hast, nämlich Gladicus zu heiraten, in eine Situation umzuwandeln, in der du Calavus heiraten kannst. Es ist essenziell, verstehst du?“

Alles war so eindeutig, ihr Vater machte es ihr einfach, denn er ließ zu, dass sie ihn ausrechnen konnte. Er probierte es nicht auf seine diplomatische, wenn auch spitzfindige Art, die im Parlament so gefürchtet war. Er sprach, ohne Widerspruch zu dulden, ohne Zorn zwar, doch mit Nachdruck, tyrannisch väterlich, so wie sie ihn kannte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, jetzt galt es zu widersprechen, alles andere vorher war ein reines Vorspiel des Kampfes, unbedeutend.

„Vater, ich werde morgen niemanden heiraten. Nicht Gladicus, nicht Calavus.“ Sie sprach leise, doch in der Stille der hohen Gemächer hallten ihre Worte nach, denn sie waren das schwerwiegendste, was sie je zu ihrem Vater gesagt hatte. In der Gesellschaft der Nocturnen war weiblicher Widerspruch undenkbar. Es hatte Fälle gegeben, in denen Väter ihre Töchter, Ehemänner ihre Gemahlinnen, Brüder ihre Schwestern aufs Schwerste misshandelt hatten, nachdem diese es auch nur ansatzweise gewagt hatten, Widerstand gegen das männliche Wort zu leisten. Sie wusste nicht, was ihr drohte, kannte nur ihren Vater sehr gut, dem sie alles zu traute, selbst die gemeinste Gewalttat, auch wenn er ihr noch nie Anlass für eine solche Annahme gegeben hatte.

Vincus war zu schlau, um seine Überraschung zu zeigen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte es ihn gewundert, dass Juchata erst jetzt begann, diesen Wesenszug ihrer Mutter zu zeigen. Aber ausgerechnet jetzt, in diesem Moment, empfand er es als unpassend und störend. Er dachte an Marletta zurück, ihre Art, ihn zu durchschauen, seine Schwächen, die er gelernt hatte, so gut zu verstecken, sofort zu entdecken. Dieser Gefahr war er sich auch bei Juchata bewusst. Doch er würde nicht die gleichen Fehler wieder machen. Fehler, die unabwendbar in die Katastrophe geführt hatten, die er niemals wieder gutmachen konnte, auch wenn heute kaum jemand davon wusste, außer ihm selbst. Dieses Geheimnis trug er tief in seinem Herzen, ebenso wie die Liebe zu seiner Tochter. Niemals könnte er einen ähnlichen Weg gehen, nicht einmal jetzt. Doch selbst die größte Überzeugung, die stechendste Logik greift nicht, wenn das Temperament den Verstand umnebelt.

„Du wirst gehorchen.“ sagte er ruhig, aber bestimmt.

„Niemals. Es geht zu weit, es hört auf. Hier und heute.“

Sollte Juchata noch vor wenigen Minuten gezweifelt haben, war ihre Entschlossenheit jetzt geweckt, ihr Widerstand gewachsen. Auch Vincus spürte, dass er diese Machtprobe bestehen musste, sonst war es um sein Lebenswerk und die Zukunft seines Namens geschehen. Seine Stimme hob sich, seine aufsteigende Wut war nun deutlich zu spüren.

„Wie gesagt, du wirst gehorchen. Was immer du jetzt empfindest, es ist falsch. Du kannst jetzt, heute Nacht sagen, was immer du willst. Morgen Nacht, bei der Zeremonie, wirst du nicht mehr reden. Das musst du auch nicht. Es ist der Gatte, der dich annimmt, nicht du, denn dein Teil ist mit der heutigen Nacht beendet. Wenn nötig, erlebst du die morgige Zeremonie ohne Bewusstsein, dafür sorge ich schon. Und wenn du erst verheiratet bist, wage nicht, Calavus zu widersprechen. Er ist nicht so gütig wie ich, der hätte dich grün und blau geschlagen, was sein Recht ist. Damit ist wohl das Nötigste geklärt. Ich werde mir jetzt überlegen, wie wir es anstellen können. Du gehst zurück in deine Gemächer, die Baribas ab jetzt bewachen wird.“

Juchata stand wie vom Donner gerührt. Jetzt war sie es, die ihren Vater mit ihren Blicken durchbohrte.

„Das ist nicht dein Ernst. Niemals, niemals wird das geschehen. Von wegen gütig. Du sprichst Worte, die du nicht einmal verstehst. Willst du es genauso machen wie bei Mutter? Willst du das?“ Sie schrie und tobte, wäre beinahe auf Vincus losgegangen, konnte sich jedoch gerade noch beherrschen. Schon stand sie neben ihm auf dem Podest, hatte den Arm bereits zum Schlag erhoben.

Vincus war wie erstarrt. Was wusste Juchata über ihre Mutter? War es eine Ahnung? Oder hatte sie seine intimsten Gedanken, seine größten Sünden entdeckt? Seine Tochter war gefährlich, das ahnte er spätestens jetzt. Für einen Moment verlor er die Beherrschung. In dem Moment, als Juchata ihre Hand wieder senkte, erhob er sich. Juchata sah noch, dass auch er seinen Arm hob.

Der mächtige Schlag traf sie unvorbereitet. Es war das erste Mal, dass er sie körperlich gezüchtigt hatte. Mit der Rückseite seiner Handfläche traf er sie, mit voller Wucht, so dass sie schwungvoll zu Boden stürzte.

„Baribas....“ Vincus rief donnernd seinen ergebenen Diener, der herbei gelaufen kam, schneller als sonst, denn seine Verletzung schien wie verschwunden.

„Bring sie zurück in ihre Gemächer und bewache sie. Du verantwortest ihr Wohlsein mit deinem Leben.“

Baribas nickte, sah auf Juchata, die noch immer benommen vor den Beiden lag. In seinem Gesicht spiegelte sich lechzende Zufriedenheit wider, seine blassen Backen waren bläulich angelaufen, seine Augen fieberten vor gewalttätiger Lust. Wie sehr er es genoss, sie so zu sehen, sie, die ihn behandelt hatte wie Luft, die beinahe besser war als er, ein männlicher Nocturn.

Baribas packte Juchata am Arm. Sicher hätte er noch warten können, bis sie aufgestanden wäre, doch die Gelegenheit, ihr Schmerzen zuzufügen, wollte er nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Er zerrte an ihr, bis sie vor ihm stand. Mit hasserfülltem Gesicht blickte sie nun auf Vincus, machte sich mit einer ruckartigen Bewegung von ihrem Widersacher los, dessen Brutalität ihr durchaus bewusst war.

Ihr Vater stand daneben, tat nichts.

Juchata flüsterte ihm zu:

„Wir werden noch sehen, was morgen geschieht. Ich hasse dich, du wirst mich nie wiedersehen, das verspreche ich dir. Was immer geschieht.....“ ihre Worte brachen ab, denn sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Doch diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben.

Vincus lächelte nur schief und unecht, sagte aber nichts mehr, sondern machte nur eine Handbewegung in Richtung Baribas, der Juchata sofort wieder packte und aus dem Saal zog. Draußen machte sie sich wieder von ihm los, rannte in die Richtung ihrer Gemächer. Baribas bemühte sich, ihr zu folgen, bereute, dass sie freiwillig lief. Zu gerne hätte er sie noch ein wenig misshandelt, vielleicht sogar geschlagen. Der Gedanke daran erregte ihn noch mehr, doch es blieb bei dem Gedanken. Als er mit seinem hinkenden Gang ihre Gemächer erreichte, waren diese bereits vollständig von innen verriegelt. Mit einem tiefen Seufzer bezog er Stellung vor der Tür, folgte dem Befehl seines Herren und würde an diesem Tag kein Auge schließen. Die Erinnerung an die vergangen Szenen hielten ihn jedoch wach, so sehr erfreute er sich selbst im Nachhinein daran.

In der Kammer saß Juchata betrübt auf dem Bett. Sie wusste, dass sie in der Falle saß, machte sich noch nicht einmal Gedanken, wie sie hier unbemerkt herauskommen könnte. Sie war in den Händen Ophras, zu dem sie jetzt betete. Er war ihr letzter Ausweg, die letzte Hoffnung. Wie weit war es gekommen, dass sie sich nun auf einen Gott verlassen musste?

Sie bemerkte die Tränen nicht, die ihr in Strömen über die blassen Wangen liefen. Irgendwann schlossen sich ihre Augen von selbst und ein dumpfer Schlaf umhüllte sie. Wenigstens spürte sie nichts mehr.

Sie schlief so fest, dass sie auch durch das laute Klopfen nicht erwachte. Sie integrierte die Geräusche in ihre Träume, die wild und verwirrend waren. Erst als Vincus begann, sie zu rufen, ihren Namen zu schreien, erwachte sie. Juchata sah sich verwundert um. Nur langsam kamen ihre Erinnerungen wie durch einen Nebelschleier zu ihr zurück, nahmen Kontur und Form an, bis sie wieder ganz bei ihr waren. In aller Grausamkeit und Härte. Benommen stand sie auf, noch immer hämmerte ihr Vater gegen die Tür. Sie verspürte nicht die geringste Lust, ihn zu sehen, eine innere Stimme sagte ihr jedoch, dass sie es besser doch tun sollte. Mit einem Schwung öffnete sie, wollte bereits zu einem Wutausbruch ansetzen, doch verstummte sie, als sie in das Gesicht ihres Vaters sah, der ihr, kreidebleich und voller Sorgenfalten, wie ein Gespenst gegenüberstand. Noch nie hatte sie ihn so gesehen.

„Es ist etwas Furchtbares geschehen. Komm mit, schnell, wir dürfen keine Zeit verlieren. Pack einige Sachen ein, nichts Schweres, du musst weg.“

„Aber..“ Juchata verstand nicht.

„Ich erzähle es dir im Laufen, beeil dich.“

Juchata gehorchte ihrem Vater, der sie mit seinen Sorgen, die sie noch nicht kannte, bereits angesteckt hatte.

Nocturnia - Die langen Schatten

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