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Kapitel 10

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Naxbil erwachte. Er schaute sich um, doch erkannte er lange nicht, wo er war. Dann fiel es ihm wieder ein. Alles kam ihm wie ein schlechter Traum vor, der Aufstand, die Toten, sein Verbrechen am angehenden Bräutigam seiner Schwester. Als er sich jedoch umschaute, blickte er auf die Namenlosen, die ihm gefolgt waren. Der Junge, den er gerettet hatte, lag tief schlafend in seiner Nähe. Auch die anderen schliefen, Naxbil vernahm ihr gleichmäßiges Atmen, das – beinahe synchronisiert – bewies, dass er nicht nur einen Hochgeborenen schwer verletzt hatte oder schlimmer. Er hatte auch viele Leben gerettet, auch wenn diese Namenlosen kaum etwas wert waren. In diesem Augenblick begann er, das anders zu empfinden. Noch immer zogen vor seinem Auge die Bilder dieser Nacht vorbei. Es war, als rieche es wieder nach Rauch, Blut und Exkrementen. Noch immer vernahm er die Schreie der Sterbenden und Verwundeten, sah ihre zermalmten Körper beinahe deutlicher vor sich als zum Zeitpunkt des Geschehens.

In der Höhle waren an die 20 Namenlose, vorwiegend junge, aber auch einige ältere Nocturnen, die sich an der aufrührerischen Versammlung in der Nacht beteiligt hatten. Naxbil blickte an sich hinunter. Auch er trug immer noch die Torgu. Das erste Mal empfand er so etwas wie Stolz, was ihn wunderte, denn seiner Meinung nach hatte er heute Nacht nichts getan, das ihn zu dieser Empfindung berechtigt hätte.

Er dachte nach, machte sich Gedanken über das, was jetzt geschehen sollte. Er konnte nicht mehr zurück, wusste allerdings nicht weiter. Es schien ihm wichtig, die Nocturnen hier nicht allein zu lassen, auch wenn es ihn im Grunde nichts anging. Instinktiv jedoch fühlte er, dass er mehr denn je Teil dieser Welt geworden war, wahrscheinlich bereits in dem Moment, als er das erste Mal die Torgu angezogen hatte, um das, was er nicht kannte, kennenzulernen.

Ein älterer Namenloser in seiner Nähe blinzelte, ein untrügliches Zeichen, dass er erwachte. Naxbil wartete, bis der drahtige, beinahe kahle Nocturn realisiert hatte, wo er war. Bevor dieser sich jedoch in seinen Erinnerungen verlieren konnte, flüsterte Naxbil:

„Mein Freund, warte hier und pass auf die anderen auf. Ich werde uns etwas zu essen besorgen und zusehen, dass ich in Erfahrung bringe, wie die Dinge draußen stehen.“

Naxbil machte sich nicht die Mühe, seinen Hochgeborenen Akzent zu verbergen. Der Namenlose schaute ihn verwundert an.

„Ja, ich bin hochgeboren, das ist ab jetzt nicht mehr wichtig. Meine Zeit in der Oberstadt ist vorbei. Wartet hier auf mich, ich komme zurück, sobald ich mehr weiß. Bewegt euch nicht, ihr werdet sonst niemals wieder hinausfinden. Glaubt mir, es hat mich Jahre gekostet, den Lauf dieser Gänge zu verstehen.“

Der Namenlose nickte nur verwirrt. Naxbil machte sich sofort auf den Weg. Selbst er brauchte einige Zeit, bis er einen Ort fand, den er kannte. Das Höhlensystem hatte er noch lange nicht vollständig erkundet, kannte aber die Wege zwischen den beiden Zugängen, so dass er nur lange genug umherlaufen musste, bis er einen Weg fand, den er irgendwann einmal markiert hatte. Naxbil prägte sich alles genau ein, um die Gruppe wiederzufinden, die ohne ihn hier unten ganz sicher verloren war. Er musste so schnell wie möglich in die Oberstadt zu seinem Freund Mintros, der sicher weiter wusste. Er war weit entfernt vom Ausgang, musste lange laufen und viele Anstiege bewältigen. Es war hier unten völlig still, nach den Ereignissen der Nacht eine Wohltat, auch wenn er in die Stille hinein die Schreie der Getöteten vernahm, die in seinem Kopf lauter schrien als auf dem Feld, auf dem sie gestorben waren. Während er lief, machte sich Naxbil Gedanken. Er spekulierte, was nach seiner Flucht passiert sein konnte. Die Unwissenheit war dabei fast noch schlimmer zu ertragen als die bereits geschehenen Gewalttaten, deren Zeuge er geworden war. Das erste Mal kam ihm der Gedanke, dass nicht nur er die Konsequenzen seiner Taten zu tragen hatte, sondern auch seine Verwandten. Was würde mit seinem Vater geschehen, wenn Gladicus überlebt hatte? Was wenn ihn jemand erkannt hatte? Beinahe wünschte er sich, dass der General dort, im Stehen, gestorben wäre. Naxbil war sich recht sicher, dass niemand anders ihn gesehen hatte. Doch wenn doch, was dann? Konnte man seine Schwester für das, was er getan hatte, verurteilen? Die Gesetze der Hochgeborenen waren kompliziert und besonders streng, wenn es um den Kontakt mit Namenlosen ging. Er kannte jedoch keinen Fall, in dem jemand etwas Vergleichbares getan hatte. Aber vielleicht würde alles gut werden und er würde einfach nach Hause zurückkehren, ohne dass jemals jemand von seinem Ausflug erfahren würde. Doch wollte er das? Und was würde mit den Namenlosen hier unten geschehen? Sie würden hier verhungern, niemand würde sie jemals finden, außer vielleicht Mintros. Wenn er ihm nichts erzählte, würde dieser allerdings niemals die Wahrheit erfahren, denn die Gruppe hätte auch zufällig den Eingang gefunden haben können. Dann hätten sie sich verirrt und wären schließlich, nach langem Umherirren, verhungert.

Naxbil schüttelte sich, wenn er daran dachte. Vielleicht noch vor wenigen Stunden hätte er eine solche Tat fertiggebracht, hätte nicht gezögert, auch dreimal so viele Namenlose in diesen grausamen Tod zu schicken. Doch jetzt? Waren es nicht seine Leute, die er elendig verrecken lassen würde? Er schaffte es nicht, einen Entschluss zu fassen, ertappte sich dabei, seinen ohnehin langen Weg durch Umwege zu verlängern. Schließlich stand er doch vor dem Stein, hinter dem sich der Keller des Hauses seines Freundes verbarg. Leise schob er diesen zur Seite. Mit einiger Kraft hob er den Schrank an, um sich Platz zu schaffen, dann war der Weg in die Oberstadt frei.

Mintros hatte ihn bereits gehört, kam ihm entgegen. Naxbil blickte auf seinen Freund, versuchte in seinem Gesicht zu lesen, was geschehen war.

Dann begann Mintros zu reden...

Nocturnia - Die langen Schatten

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