Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 3

Kapitel 2

Оглавление

Für Naxbil war es ein kurzer Tag gewesen, denn lange hatte er mit seinen trinkfesten Freunden gefeiert. So hatte er auch erfolgreich verdrängt, was für ein wichtiges Ereignis seiner Schwester Juchata bevorstand, denn zu ihrer Bekanntgabe der Heirat war auch er geladen. Es sollte eine wichtige Nacht für die DeRoveres werden, aus diesem Grund hatte er bereits vor einigen Nächten entschieden, der Zeremonie fern zu bleiben. Auch wenn sein Vater den Ophraces, einen Hohenpriester des Ophras, hinzubestellt hatte, um die Bedeutung zu unterstreichen. Doch Naxbil wusste, dass es um mehr ging als nur die Höherstellung der Schwester gegenüber ihm, dem Sohn und Erstgeborenen. Die Enttäuschung über das Scheitern seiner eigenen Hochzeitspläne saß noch tief im Gemüt seines Vaters fest, so dass diese Zeremonie nur auf eine Demütigung Naxbils selbst hinauslaufen konnte.

Seit Jahrhunderten wurde der erstgeborene Sohn vermählt, danach alle anderen Geschwister. Die Tatsache, dass seiner Schwester Juchata nun diese Ehre zuteil wurde, bedeutete für Naxbil nichts Gutes. Zwar hatte sein Vater ihm offiziell verziehen, die öffentliche Waschung im Tempel des Ophras vollzogen, doch Naxbil wusste, dass das, was er getan hatte, in einer Gesellschaft, wie die der Nocturnen nicht geduldet werden würde. Missmutig zog er die Decke über den Kopf und bereute bereits, überhaupt nach Hause gekommen zu sein. Insgeheim wünschte er sich, jemand würde kommen und ihn zwingen, doch zu erscheinen, aber das würde nicht geschehen. Er hatte zwar die Einladung erhalten, der er folgen konnte oder auch nicht. Keiner würde sich dafür interessieren oder darauf achten, ob er erschien. Zu tief saß die Wut seines Vaters, als dass dieser ihm seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Es war als wäre seine Chance ein für alle Mal vorbei. Er hatte es gespürt, als er es tat, selbst in den Sekunden vorher wusste er, dass seine Handlungen beobachtet wurden. Selbstzerstörerisch hatte er dennoch weiter gemacht, bis es geschehen war, seine Gedanken immer bei der Sache, von der er wusste, dass sie ihn für alle Zeit ins Abseits schicken würde.

Wie hatte es nur soweit kommen können? Er hätte wählen können zwischen drei bildschönen Nocturninnen, alle aus angesehenen Familien, alle drei mit besten Verbindungen und gefüllten Schatullen. Seine Zukunft war gemacht, denn Vincus hatte seit seiner Geburt für diesen Augenblick gelebt und gearbeitet, hatte genau so viel Zeit für seine Karriere wie für diese Verbindungen getan. Auch hatte er das Kunststück fertiggebracht, ihm überhaupt eine Wahl zu gewähren, was selbst unter Nocturnen seines Standes höchst ungewöhnlich war. Vincus' Taktik hatte wie immer die Zufriedenheit aller Parteien umschlossen, selbst die beiden Nicht-Erwählten hätten profitiert, weil ihre Töchter in die engere Wahl gekommen waren. Wie genau das Geschäft ausgesehen hatte, wusste Naxbil nicht, nur dass es ein Privileg gewesen war.

Die angehenden Bräute waren ihm vorgestellt worden, alle drei zusammen. Am Anfang waren noch deren Mütter zugegen, dem Ritual folgend bewirteten sie den Gatten und die heiratswilligen Töchter. Naxbil hatte sich umworben gefühlt, es genossen, im Mittelpunkt zu stehen, und dieses seltene Gefühl ausgekostet. Sein Vater wartete im Zimmer nebenan, samt den anderen Vätern und Naxbil war sicher, dass sie dem Schauspiel durch geheime Löcher in Wänden und Möbeln folgten. Dann waren die Mütter gegangen, Naxbil wurde Zeit allein gewährt, um seine Braut zu wählen. Bis dahin war alles gut gelaufen, der nötige Abstand zwischen den Parteien war gewahrt worden, eine Unterhaltung über Nichtigkeiten in Gang gekommen. Als nur noch er und die drei jungen Nocturninnen in seinem Gemach waren, begann die Beklommenheit, der er nicht Herr wurde. Das Zimmer wurde von den Müttern versiegelt, niemand durfte dieses Siegel brechen außer er selbst, wenn er seine Entscheidung getroffen hatte. So wollte es der Brauch in diesen Fällen, der Jahrhunderte alt war. Selbst die Väter durften nicht eingreifen, was immer auch geschehen sollte.

Vielleicht war es die uneingeschränkte Macht in diesem Moment, mit der Naxbil nicht umgehen konnte, vielleicht auch seine unbändige Lust, die er mehr auslebte, als alle anderen ahnten und die ein so großer Teil von ihm geworden war, dass er sie kaum mehr kontrollieren konnte. Auch hatte immer sein Vater für ihn entschieden, hatte ihm aufgetragen, was zu tun wäre und durchgesetzt, dass das auch getan wurde. In dieser Situation aber war er ganz Herr seiner selbst und nicht nur das. Auch drei wunderschöne Nocturninnen hatte er in seiner Gewalt, die sich allem fügen mussten, was er von ihnen verlangte. Anfangs konnte er sich noch zügeln, hielt eine Art Gespräch am Laufen, doch bald schon fing er damit an, Unzüchtigkeiten von seinen Bräuten zu verlangen. Er befahl ihnen, ihre Kleider abzulegen, was an sich schon eine Schande für sie bedeutete. In diesem Augenblick war es vorbei, das wusste er, denn die Väter beobachteten alles. Wie von Sinnen war er, hörte seine Stimme, seine Befehle aus weiter Entfernung, sah sich selbst neben sich stehen, beobachtete seinen roten Kopf, als er den Nocturninnen befahl, Zärtlichkeiten auszutauschen. Die wagten nicht, sich zu widersetzen, zwei von ihnen gehorchten ihm nur widerwillig, die Dritte schien sogar erregt, auch wenn sie sich vordergründig wehrte. In diesem Augenblick war schon alles zu spät, so dass er fortfuhr, selbst eingriff. Er wurde sogar kurz gewalttätig, nahm sich, was er wollte, auch wenn er dazu Schläge austeilen musste. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. An eine Wahl dachte er jetzt nicht mehr, denn er hatte, statt zu wählen, die drei Nocturninnen entweiht, für alle Zeiten. Sie waren alle von höchster Geburt und ihre Väter und Mütter waren Zeugen seiner Tat geworden, die nicht zu verzeihen war.

Keiner der Älteren jedoch hatte es gewagt, ihn zu stoppen, für alle war der Brauch wichtiger gewesen als die Ehre ihrer Töchter. Die Drei saßen danach verängstigt in der Ecke des Zimmers, als er langsam auf die Tür zutrat. Er wusste, dass dahinter sein Untergang wartete, ob körperlich oder seelisch, deshalb zögerte er mit dem Aufbrechen des Siegels. Am Ende jedoch war es ihm egal, ob er es jetzt tat oder noch einige Minuten wartete, sein Schicksal war bereits geschrieben.

Als er die Tür öffnete, sah er nur noch für den Bruchteil einer Sekunde die wutverzerrte Visage seines Vaters, der ihm mit aller Kraft einen Faustschlag verpasste, der ihn in eine gnädige Ohnmacht versetzte.

Stunden später war er in seinem Gemach aufgewacht. Von seinen Freunden hatte er erfahren, dass die Familien sich geeinigt, das Ansehen seines Vaters durch diese Eskapade jedoch stark gelitten hatte. Der Vergleich war ihn teuer zu stehen gekommen, und es waren nicht nur die vielen Arcinmünzen aus der Schatzkammer, sondern der folgende Machtverlust, von dem einige glaubten, er würde sich davon nicht erholen.

Binnen kürzester Zeit waren alle drei seiner Gespielinnen vermählt, mit zweitklassigen Gatten, etwas, dass die Eltern der hohen Familien nur akzeptiert hätten, wenn sie etwas anderes, Höheres, bekommen hatten. Was das war, wusste Naxbil nicht, auch seine Freunde konnten ihm nicht helfen, so geheim musste das Übereinkommen sein. Über die Sache schwiegen alle, kein Wort drang nach außen. Und doch ahnte es jeder. Einer seiner Freunde hatte etwas mehr erfahren als die anderen, woher war Naxbil ein Rätsel.

Vincus ließ nichts anbrennen, sondern zwang den jungen Nocturn, bei seinem Leben niemandem etwas zu erzählen. Geld und Rohheit, das waren seines Vaters Mittel, mit denen er erfolgreich alle zum Schweigen brachte, die von der Sache wussten. Selbst seine Schwester kannte nicht jedes Detail, doch war sie zu schlau, um sich nicht ihren Teil zu denken.

Widerwillig wälzte Naxbil sich aus dem Bett. Er würde doch gehen. Und wenn er nur seinen Vater mit seiner Anwesenheit ärgern konnte. Der riesige, schwarze Spiegel zeigte ihn in seiner ganzen Größe. Aus irgendeinem Grund hielt er sich für unwiderstehlich. Trotz seiner jungen Jahre hatte er bereits einen prächtigen Bauchansatz, seine Arme und Beine schienen kaum zu dem aufgeschwemmten Körper zu passen, zu dünn, um ihn zu tragen. Sein Gesicht war aufgedunsen vom üppigen Genuss des Miestas, doch Naxbil liebte sich selbst zu sehr, als dass er seinen körperlichen oder moralischen Schwächen all zu viel Bedeutung beigemessen hätte. Sein Erfolg beim weiblichen Geschlecht gab ihm recht und jeder, der ihn sah, musste zugeben, dass er etwas hatte, etwas Unbeschreibliches, dass ihm eine Art Aura gab, die besonders auf den ersten Blick alle anderen Merkmale übertünchte. Das hatte er mit seiner Schwester gemein, obwohl es bei ihr nicht so auffiel, war sie doch von Natur aus eine erotische Erscheinung.

Anders als Juchata, die mit einem einfachen Lebensstil zufrieden war, umgab Naxbil sich mit allem Luxus, den er finden konnte. Er hatte sich von Namenlosen einige Skulpturen schaffen lassen, die seine Gemächer zierten. Ebenfalls hatte er eine Schwäche für weiche Stoffe, die überall hingen oder lagen. Sein Kleiderschrank war voll mit den besten Stücken, kaum jemand in der Oberstadt legte so viel Wert auf Kleidung. Zwar ließ sein Geschmack etwas zu wünschen übrig, manchmal passten die Farben nicht unbedingt zueinander, doch alles war von feinster Qualität und immer sehr teuer.

Das ganze Zimmer strahlte deshalb eine kitschig-heitere Atmosphäre aus, die allerdings selten jemand zu Gesicht bekam, denn wenn er seine Freunde traf, tat er das in der Oberstadt, die einige Hundert Phrakten vom Haus der DeRoveres entfernt lag.

Langsam zog er sich an, wählte seinen teuersten und farbenfrohsten Anzug, ein Pigmanie neuester Mode. Er wusste, dass sein Vater diesen Pigmanie hasste, er hielt ihn für dekadent und weibisch. Vielleicht wählte Naxbil ihn aus diesem Grund, doch er gefiel ihm auch, den grell-gelben, extra-lange Kragen, das rote Jackett mit den grünen Taschen und dem bunten Muster auf den unteren Partien, die bis zu den Beinen reichten. Naxbil sah sehr elegant aus und jeder, der ihn so sah, musste bestätigen, dass der moderne Pigmanie Naxbil überaus gut kleidete, seine ungünstige Figur in ein besseres Licht rückte. Diesmal geschmackvoll wählte Naxbil eine besonders einfache Brosche, die ganz im Gegensatz zu seinem verschnörkelten Auftritt stand. Sie fiel auf, in ihrer männlichen Simplizität und hielt die Erscheinung zusammen. Sie schmückte seinen Kragen, verband diesen mit der Schärpe, die – ganz in Schwarz – ebenfalls aus dem Ensemble heraus stach.

So wollte er zur Zeremonie, sich den Vätern und Müttern der Bräutigame zeigen, besonders aber seinem Vater. Zufrieden mit sich legte er sein dünnes, kurzes Haar mit Pomade an seinen Kopf, blickte auf seine stolze Gestalt und war zufrieden mit sich. Ihm war nicht bewusst, was er eigentlich erreichen wollte oder ob es überhaupt eine Rolle spielen würde, dass er erschien, aber in diesem Aufzug fühlte er sich wohl und damit sicher. Schließlich wollte er Blicke erhaschen, Blicke, die eigentlich seiner Schwester gehörten. Und auch wenn er das nicht schaffen sollte, war es immer noch besser aufzutreten und in seiner Schande präsent zu sein, als im Nichts der Dunkelheit seines Gemachs zu verschwinden.

Seine innere Uhr, die alle Nocturnen besaßen, damit sie den Tagesanbruch nicht verpassten, sagte ihm, dass es Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Noch hatte die Zeremonie nicht begonnen, doch durfte er sich Hoffnungen machen, dass bereits einige Gäste anwesend waren, vor allem natürlich sein Vater. Langsam schritt er sein Gemach der Länge nach ab, so als ob ihm im letzten Moment Zweifel gekommen wären. Sollte er oder sollte er nicht? Wie würden die Familien reagieren, wenn er auftauchte? Würden sie ihn mit Schimpf und Schande davon jagen? Doch Naxbil kannte den Einfluss seines Vaters, der, auch wenn er durch Naxbils Verhalten gelitten hatte, noch immer groß genug war, um jeden Skandal im Keim zu ersticken. Sie würden ihn vordergründig achten, wenn er ihnen jedoch den Rücken zukehrte, sich die Mäuler über ihn zerreißen. „Gut so,“ dachte er sich,„dann reden sie wenigsten über mich.“

Fest entschlossen riss er die schwere, mit schwarzen Eisennieten beschlagene Tür auf. Der unendliche Korridor vor ihm schien ihm jetzt noch länger als sonst. Mit unnatürlich lauten Schritten verschaffte er sich Gehör, sie waren ganz sicher noch in vielen Etagen über und unter ihm zu hören. Man sollte vernehmen, dass er auftauchte, sich auf seinen Auftritt vorbereiten, vielleicht sogar Angst vor ihm haben und sei es auch nur wegen des Skandals und der Furcht davor, wie man sich ihm gegenüber verhalten sollte. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr freute er sich, doch noch seine Meinung geändert zu haben. Und wer wusste es schon, vielleicht würde er nach der heutigen Nacht wieder der Erste sein, denn er kannte seine Schwester, der er zwar keine Dummheit, aber eine kaum vergleichbare Sturheit zutraute. Sein Instinkt, den alle DeRoveres in schwächerer oder stärkerer Form besaßen, sagte ihm, dass es auch für ihn eine bedeutende Nacht werden würde. Er fühlte sich bereit dazu, seinem Schicksal erneut zu begegnen.

Nocturnia - Die langen Schatten

Подняться наверх