Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 2
Kapitel 1
ОглавлениеDer Mond stand hell und voll am Himmel und beleuchtete die fernen Berge auf der einen und die Stadt auf der anderen Seite. Sein pockennarbiges Antlitz schien zu grinsen, denn er beherrschte das Firmament, an dem die Sterne neben ihm verblassten.
Die Landschaft lag ruhig vor der weiblichen Gestalt, die aus ihrem Gemach nach draußen schaute. Sie liebte den Ausblick, doch in dieser Nacht rückte er in den Hintergrund, wurde zur unbeachteten Kulisse in dem Stück, das ihr bevorstand und in dem sie die Hauptrolle inne haben sollte. Juchata spielte mit dem schwarzen Dolch, ein Geschenk ihres Vaters zur Weihung. Eine spitze Klinge, wie aus Pech geschmiedet, doch härter und schärfer als alles, was sie bislang gekannt hatte. Gab ihr der Ausblick aus ihrem Gemach sonst Ruhe, konnte sie ihn heute kaum ertragen. Mit einem Ruck zog sie die dunklen, schweren Vorhänge zu, die das Mondlicht vollständig aus dem Zimmer verbannten. Ihr schlanker Körper schmiegte sich an die Dunkelheit um sie herum. Ihre Augen sahen alles, nahmen jeden Winkel wahr, denn in der Finsternis fühlte sie sich wohl. Das Sonnenlicht ertrug sie nicht, denn die Nocturnen, zu deren Rasse sie gehörte, verbrannten unter den sengenden Strahlen.
Heute Nacht sollte sie wählen. Am liebsten hätte sie sich den Dolch in die zarte Brust gerammt, nur um dieser Entscheidung aus dem Weg zu gehen. So viel wusste sie jedoch schon, dass der Stahl nur eine hässliche Narbe hinterlassen würde, denn niemals könnte sie den Mut aufbringen, ihre Tat auch zu vollenden. Zu sehr liebte sie das Leben, auch wenn es momentan unerträglich und aussichtslos schien.
Verzweifelt begutachtete sie die Klinge, ließ die Kante über den Daumen rutschen, die so scharf war, dass sie ihre winzigen Härchen an den Armen mit einem Ruck abrasieren konnte. Sie legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Ihre Vermählung war das wichtigste Ereignis in der Familie seit Jahren. Zwei Freier hatten um ihre Hand angehalten, beide stattliche Nocturnen, die aus ehrwürdigen Familien stammten. Zum einen Calavus, Sohn des Pelates Borja. Ein Nocturn von eleganter Gestalt, mit blau-hartem Blick aus einem bleichen, ebenmäßigen Gesicht, das eine Spur Grausamkeit und Mystik in sich vereinte. Calavus wäre eine ausgezeichnete Wahl, seine Intelligenz war schon jetzt, in jungen Jahren, legendär. Das taktische Kalkül, seine geschmeidigen Bewegungen und die klugen, messerscharfen Worte hatten ihm bereits mehrfach den Respekt der Älteren eingebracht, die in ihm die Zukunft sahen, auch wenn sie das niemals zugegeben hätten. Sein Vater bildete ihn zu einem Politiker aus, der es rhetorisch mit jedem Gegner aufzunehmen verstand. Seine beinahe schon hinterlistige Art wurde von seinen Gegnern gefürchtet, die, wenn sie konnten, seine Unterstützung lange vor wichtigen Abstimmungen sicherten, um nicht im entscheidenden Moment über seinen Scharfsinn zu stolpern. So umworben strahlte der junge Calavus ein beinahe schon unnatürliches Selbstbewusstsein aus, das oft an Arroganz zu grenzen schien. Zwar behandelte er andere mit dem größtmöglichen Respekt, doch war man sich seiner nie sicher, denn die Ironie war beißend, der Sarkasmus feinzüngig und oft nur von den Intelligentesten unter den Nocturnen zu verstehen.
Trotz seiner vielen Vorzüge war er für Juchata ein fast schon geschlechtsloses Wesen, das sie durchschaute. Denn hinter seiner süffisanten Art und seinen verletzenden Bemerkungen stand ein Nocturn, der tief verunsichert war und deshalb laufend verbal attackierte, auch wenn er sich dessen kaum mehr bewusst war. Wenige Male hatte er sie besucht, um sie zu umwerben. Seine Furcht vor ihr war nur Juchata selbst aufgefallen und sie war sicher, dass sie, sobald sie heirateten, seine schlimmste Gegnerin werden würde. Nur einer der beiden konnte siegen, durch Unterdrückung und Macht, die sich einstellt, wenn die Partner sich an Intelligenz und Rang in nichts nachstehen. Und vor allem wissen, wo sie den anderen anpacken konnten. Denn die Kenntnis um die Schwäche des anderen ist ein gefährliches Gut, das man hüten muss oder zur rechten Zeit gebrauchen. Calavus war ihr nicht unsympathisch, doch seine Wahl hätte für sie und ihr weiteres Leben weitreichende Konsequenzen. Zwar achtete sie seinen Intellekt, doch sah sie auch die Grausamkeit in seinen Augen, der sie nicht entgehen würde. Er würde nie aufgeben, sie zu beherrschen, nie aufhören mit ihr zu kämpfen und sie am Ende unterdrücken.
Auf der anderen Seite stand Gladicus Magnus, dessen Familie noch einflussreicher, noch stärker war als die der Borja. Sein Vater Pelleus hatte schon viele Jahre den Posten des Tragus, des höchsten Führers der Nocturnen, inne, den er sich mit Vincus DeRovere, ihrem Vater, teilte. Gladicus war einige Jahre älter als sie, ein Bär von einem Nocturn, der sich in unzähligen Schlachten mit den Namenlosen geschlagen und einen Ruf als furchterregender Krieger verdient hatte. Was ihm an Intelligenz fehlte, machte er durch Mut und Ausdauer wett. Sein tadelloses Verhalten hatte ihm die bedingungslose Bewunderung der Truppen eingebracht, die ihn wie einen Gott verehrten. Als Führer im Feld war Gladicus immer in vorderster Front zu finden, wo er alle Schläge auffing, die auf seine Männer einprasselten und lieber selbst einsteckte, als einen seiner Männer verletzt zu sehen. Wo er und seine Elitetruppe, die Megantorier, auftauchten, herrschte deshalb Angst und Schrecken und schon manch ein Gegner hatte beim bloßen Auftauchen des Gladicus die Segel gestrichen, so furchterregend war sein Ruf. Seine Härte auf dem Schlachtfeld wurde begleitet durch eine fast schon peinliche Schüchternheit im öffentlichen Leben. Konnte er vor seinen Leuten brutal-motivierende, wenn auch kurze Reden schwingen, fehlte ihm diese Fähigkeit, sobald er vor dem Parlament stand, wo er sich bereits mehrfach von völlig unerfahrenen jungen Adhiben, den Mitgliedern des Nocturnen Parlaments, hatte vorführen lassen. Juchata war einige Male mit ihm zusammen gewesen, um ihn im Rahmen ihrer Heiratswahl zu treffen. Dabei hatte sie in ihm ein fast kindliches Gemüt entdeckt, das in völligem Gegensatz zu seiner imposanten Erscheinung stand. Er hatte sie übervorsichtig behandelt, fast schon ehrerbietig, hatte sich untergeordnet, was ihr zwar geschmeichelt hatte, doch auch unmännlich vorgekommen war. Leicht könnte sie diesen gutmütigen Riesen beherrschen, er würde ihr aus der Hand fressen wie ein Schoßhündchen, doch bereits nach wenigen Treffen langweilte sie sich fast zu Tode mit ihm, der ihrer Intelligenz nicht gewachsen war.
Juchata blinzelte. Auch wenn der Mond schon lang am Himmel stand und die Vorhänge sie schützten, schmerzten ihre Augen, die nicht sehen wollten, was auf sie zukam. Schon bald würde ihr Vater nach ihr rufen lassen, dann würde Baribas, der langjährige Hausdiener der Familie, sie holen und in das Hochzeitsgemach bringen, wo sie auf ihre beiden Freier treffen würde. So beschützt sie auch in ihrem Haus aufgewachsen war, konnte es sie dennoch nicht vor ihrem Schicksal bewahren. Sie liebte ihre Gemächer. Die gotischen Bögen wölbten sich über ihr, die dunklen Steine rochen nach der unendlichen Zeit, die diese gesehen hatten. Juchata schaute in den Spiegel, der sich über eine gesamte Wand erstreckte, ein reich verziertes Werk mit einem schwarzen Holzrahmen, der über und über mit geschnitzten bizarren Kreaturen bedeckt war. Sie bewunderte sich. Ihre blasse Haut wurde von einer prächtigen Mähne aus üppigen roten Locken geziert. Halb nackt stand sie vor ihrem Abbild, selbst für eine Hochgeborene, die die schönsten aller Nocturninnen hervorbrachten, war sie eine außergewöhnliche Erscheinung. Ihre kleinen Brüste standen spitz hervor. Sie spielte weiter mit dem Dolch, den sie nur zum Probieren an ihren festen Bauch legte. Wie es wäre, sich zu verletzen und so diesem Treffen zu entgehen. Doch es war sinnlos, denn ihr Vater duldete keine Schwäche. Selbst halb tot hätte er sie noch in das Hochzeitsgemach gezerrt und sie zu einer Entscheidung gezwungen. Vielleicht war er der einzige Nocturn, den sie fürchtete. Zwar zweifelte sie nicht an seiner Liebe zu ihr, doch versteckte er diese tief im Innern, zeigte ihr Härte, wo er konnte. Vielleicht aus Enttäuschung über den Sohn Naxbil, ihren Bruder, der alle Tugenden für ein erfolgreiches Leben als Hochgeborener vermissen ließ und für ihn somit kaum mehr existierte. Längst hatte Vincus aufgegeben, Naxbil auszubilden, doch hielt er sämtliche Exzesse seines Sohnes unter strengstem Verschluss und drohte erfolgreich jedem, der daraus ein öffentliches Ärgernis machen wollte.
Juchata ging dazu über, die Klinge auf dem steinernen Tisch zwischen ihren langen Fingern hin und her hüpfen zu lassen. Langsam ertönte das stählerne Geräusch auf dem dunklen Stein, das in den Gewölben dumpf widerhallte. Immer schneller ließ sie den Dolch springen, geschickt und mit einem Hauch von Risiko legte Juchata ihr Schicksal in die bedeutungsvollen Bewegungen der Waffe. Sie sprach einen mythischen Spruch, den ihr ihre Mutter vorgebetet hatte, als sie klein war. Bliebe die Klinge am Ende zwischen den geraden Zwischenräumen, würde sie Calavus heiraten, bei den ungeraden Gladicus. Doch auch der Spruch half nur, wenn man die Antwort bereits kannte, soviel wusste Juchata über die Künste ihrer verstorbenen Mutter, die sie eher erahnte als eine tiefere Kenntnis darüber zu haben. In dem Augenblick, bevor sie die letzte Silbe murmeln konnte, bohrte sie den Dolch neben ihre Hand in den Stein, der der Härte des Stahls nachgab. Zitternd blieb die Waffe im Tisch stecken, direkt neben Juchatas Daumen, keinen Recken entfernt. Nachdenklich schaute sie auf die zarte Klinge, deren Grazie über ihre tödliche Wirkung hinweg täuschte und somit zu Juchata passte wie ihr maßgeschneidertes, schwarzes Korsett, das sich jetzt wie angegossen an ihren weißen Körper schmiegte. Geschickt knotete sie es hinten zu.
Sie streifte danach ihr hauchdünnes, durchsichtiges Seidenhemd über und ließ ihre roten Locken frei und ungebunden über ihren Rücken fallen, die sich so wie ein Umhang um sie herum legten. Sie schlüpfte in ihre ebenfalls schwarze Hose, schnürte die Seiten zu wie vorher das Korsett, ließ danach ihren Dolch im breiten Gürtel verschwinden.
Ein kleines Flakon stand auf ihrem steinernen Nachttisch, ein Geschenk ihrer Mutter mit scheinbar nie versiegendem Parfüm, das zwar betörend nach bekannten Blüten duftete, doch eine ganze Reihe unbekannter Stoffe enthielt, die Juchata nicht kannte. Zwei Tropfen genügten, die sie hinter ihren Ohren und dem Dekolleté verteilte. Sie kannte die Wirkung dieses Duftes auf andere, doch ihr Vater schien dagegen immun und würde sich nicht davon überzeugen lassen, ihr die Qual der nächsten Stunden zu ersparen. Auf einen letzten Versuch kam es dennoch an, auch wenn sie kaum Hoffnung auf ein Gelingen hatte.
Juchata seufzte. Zwar war sie jetzt bereit für das Treffen, eine Entscheidung hatte sie immer noch nicht gefällt.
Sie öffnete die Vorhänge vor ihrem Fenster wieder und blickte in die wohltuende und beruhigende Dunkelheit hinaus. Vielleicht würde die Aussicht, die sie schon seit so vielen Jahren kannte, ihr endlich eine Antwort schenken. Der Mond stand jetzt beinahe im Zenit. Auch wenn er hell leuchtete, machte es ihr nichts aus, ganz anders als die Sonne, die selbst wenn sie hinter den Wolken schien, jeden Nocturnen töten würde. Selbst wenn sie noch nicht einmal erschienen war, gerade im Begriff war aufzugehen, war jedes Nocturnen-Auge so überfordert, dass es erblinden konnte. Einmal, als Kind, hatte Juchata die Zeit vergessen und war in die Nähe des Sonnenaufgangs geraten. Es war zum Glück ein Wintertag gewesen, die Sonne hatte sich hinter einem dicken Schleier aus grauen Wolken versteckt, war aber noch nicht aufgegangen. Doch ein einziger Blick in ihre Richtung hatte Juchata so geschmerzt, dass sie sich, blind und vorwärts tastend, gerade noch hatte nach Hause retten können. Die folgende Blindheit war zu ihrem Glück nur vorübergehend gewesen, doch hatte sie drei Nächte lang angehalten, bevor ihr Augenlicht zurückgekehrt war. Ihre Eltern hatten damals an ihrem Bett gewacht, denn es war eine lange Zeit über nicht sicher gewesen, ob sie jemals wieder würde sehen können. Doch die legendären Heilkünste Marlettas, ihrer Mutter, hatten Juchata damals geholfen, und auch wenn sie schier unerträgliche Schmerzen gelitten hatte, eines Nachts war schließlich alles vorbei gewesen. Die rasenden Kopfschmerzen verschwanden, ebenso der Druck in den Augen. Wie ein wunderschöner Makel in einem perfekten Gesicht war eine winzige Narbe an Juchatas Augenlid zurückgeblieben, die wie zur Warnung zu schmerzen begann, wenn auch nur ein Hauch von Licht sie berührte.
Selbst Feuerschein ertrugen die Nocturnen nicht, denn es hatte auf sie eine ähnlich blendende Wirkung. Allerdings starben sie nicht, da das Licht des Feuers nicht die Intensität der Sonne erreichte. Doch in der Zeit, in der sie dem Feuer ausgesetzt waren, erblindeten sie völlig. Auch wenn die Wirkung nur temporär war und in der wohltuenden Dunkelheit sofort nachließ, wären Nocturnen in beleuchteten Räumen allem schutzlos ausgeliefert, was auch immer sie dort erwartete.
Das Mondlicht jedoch war anders, auch die Sterne konnten Juchata jetzt nichts anhaben. Im Gegenteil, als wenn dieses Licht das gute Licht war, eines, dass sie vertrug und dem sie sich gerne aussetzte. Kein Wunder also, dass die Nocturnen den Mond als Gottheit verehrten.
„Ophras, sag mir, was ich tun soll.“ Doch wie immer antwortete Ophras nicht, denn die Antwort trug Juchata in ihrem Herzen, tief versteckt und für sie selbst unauffindbar, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.
Sie vergötterte ihren Vater und war ihm in allem gehorsam. Doch jetzt, in diesem Augenblick, verfluchte sie ihn. Sie verstand genug von Politik, um ihren Vater richtig einzuschätzen, der mächtige Verbündete suchte, um seine Ideen voranzutreiben. Da Naxbil dafür nicht geschaffen war, musste Juchatas Ehemann für ihn einspringen, den Vincus einzunehmen und auszubilden gedachte. Sollte das nicht möglich sein, bliebe Juchatas Sohn, der noch ungeboren war, was Vincus nun so schnell wie möglich ändern wollte.
Ihr Vater hatte sie zu blindem Gehorsam erzogen, ein Schicksal, dass sie mit allen Nocturninnen in der Oberstadt teilte, vor allem, nachdem ihre Mutter so früh gestorben war. Sie verstand die Politik der Adhiben, ein nie enden wollendes Intrigenspiel zwischen den mächtigen Familien, die somit ihre Macht, auch untereinander, gegenüber den normalen Nocturnen verteidigten.
Schon lange bevor er vor Juchatas Tür stand, waren seine Schritte zu hören. Baribas, der alte Diener, hinkte nach einer schweren Verwundung in einer seiner zahllosen Schlachten und zog das linke Bein nach, so dass sein Gang unverkennbar in den langen und hohen Korridoren widerhallte. Die schweren, roten Wandteppiche fingen die Geräusche nicht auf, sondern verstärkten sie auf geheimnisvolle Weise, wodurch Juchata schon lange vorher wusste, wann jemand den Korridor zu ihrem Gemach betrat, der sicher hundert Phrakten maß. Ihr Zimmer, das einzige bewohnte in diesem Flügel, hatte sie sich selbst ausgesucht, als ihr Vater sie vor die Wahl gestellt hatte. Damals war es ihr leicht gefallen, nicht nur handelte es sich um den größten Raum, er lag auch am höchsten und hatte als Einziger einen kleinen Erker, von dem aus Juchata einen fantastischen Blick auf die Umgebung hatte. Der größte Vorteil jedoch war die Entfernung zu den anderen Gemächern. Sie logierte weit entfernt von ihrem Vater, der im Hauptgebäude wohnte und auch die Räume des Bruders waren in einem gänzlich anderen Flügel, was Juchata wohl am ehesten erwogen hatte, dieses Zimmer zu wählen. Einst hatten sie sich gut verstanden, als Kinder und Heranwachsende waren sie unzertrennlich gewesen. Doch dann war die Bande gerissen, Naxbil hatte mit seinen Ausschweifungen begonnen, die Vincus sehr verärgert hatten. Seine Reaktion auf Naxbil war kühl gewesen und hatte ihren Bruder verletzt, der nun seine Eifersucht auf die Verbindung lenkte, die zwischen Vater und Tochter herrschte, auch wenn diese eher auf Strenge als auf Herzlichkeit beruhte. Mit der Zeit waren sie immer mehr dazu übergegangen, getrennte Wege zu gehen, schon bald redeten sie so selten wie Fremde, nur noch zu den wenigen gemeinsamen Mahlzeiten sahen sie sich. Zwischen ihnen erstreckten sich nun Korridore und Gänge, die kaum überwindbar wie ein Labyrinth die Geschwister trennten. Eine schier endlose Zahl von Zimmern war unbewohnt, die Möbel mit grauen Laken bedeckt, die einst weiß gewesen waren und nun zwischen Staub und Spinnweben immer mehr vor sich hin moderten. Zu einer anderen Zeit musste die Villa der DeRoveres nahezu vollständig bewohnt gewesen sein. Bilder von unbekannten Verwandten, aus grauer Vorzeit, über die sich wie auf alles andere bereits der Staub des Vergessens gelegt hatte, hingen noch an den Wänden in der Ruhmeshalle. Warum diese so hieß, wusste niemand mehr, doch bildete sie den Mittelpunkt des Hauses, ein hoher, sich über drei Stockwerke erstreckender Saal mit gigantischen Säulen, der aus dem gotischen Gebäude heraus stach. Dieser Saal stieg nicht nur in die Höhe, sondern zog sich auch in die Länge, an die 50 Phrakten reihte sich Säule an Säule, die aus weißem, kalten Stein gefertigt waren. Einige von ihnen wiesen merkwürdige Inschriften auf, die niemand mehr entziffern konnte. Es war der einzige helle Ort in dieser Villa, die düster wirkte mit ihren Kreuzgratgewölben und dunklen Granitsteinen. Doch der Saal war vollständig mit diesen weißen Steinplatten bedeckt, deren helle Adern beinahe lebendig wirkten. Jedes Mal, wenn Juchata eintrat, schmerzte ihre Narbe über dem Auge für einige Momente, auch wenn es vollständig finster war. Hier hingen auch die Bilder der verschollenen Ahnen, Ölbilder für die Ewigkeit, deren Existenz länger gedauert hatte als die Erinnerung an die Modelle. Auf einer Erhebung am Ende des Saales stand nun ein langer, schwerer Holztisch, der eigentlich Platz für 20 Gäste bot, doch nun meist nur für drei gedeckt wurde. Baribas, der alte Weggefährte des Vaters, bediente nun ihren Bruder, sie und Vincus in den seltenen Fällen, wenn sie zusammen Mahlzeiten einnahmen. Der einzige weitere Angestellte war der alte Koch Elotril, der wie Baribas auch gedient hatte und deren Kochkunst sich auf die einfache Küche der Krieger beschränkte. Aus Dank für irgendeinen Dienst hatte Vincus ihn übernommen, warum wusste Juchata nicht. Die beiden wohnten in den Kellergewölben, irgendwo weit unter der Villa, und Juchata hätte nicht sagen können, wo genau, zu weit erstreckten sich die Gewölbe unter dem Bauwerk, das sicher ebenso viele Etagen unter wie über der Erde hatte. Vielleicht sogar mehr. Juchata hatte es nie vollständig erkundet. Eine Klingel an jeder Tür war jedoch mit den Quartieren der Diener verbunden, so dass sie diese nur betätigen musste, um die Dienste des Baribas zu erbitten, was nur in seltenen Fällen geschah.
Jetzt hörte sie ihn kommen, er musste noch Dutzende Phrakten entfernt sein, doch Juchata geriet bereits in Panik. Sie fühlte, wie die überall gefürchtete Wut in ihr emporstieg, eine Wut, die sie selten zu kontrollieren wusste, die jedoch gegenüber ihrem Vater allerhöchstens eine stumpfe Waffe war, deren er sich meist rasch und wortgewandt entledigte. Die Schritte kamen näher, auf Juchatas Ärger folgte Verzweiflung, danach Trauer.
Es gab keinen Ausweg.