Читать книгу Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - Страница 4

Kapitel 3

Оглавление

Seine innere Unruhe bemerkte niemand im Raum, zu stark war sein Wille, zu routiniert sein Verhalten, um irgendjemanden spüren zu lassen, was er wirklich dachte oder fühlte. Vincus war von groß gewachsener Gestalt, schlank und drahtig. Sein schlichtes, schwarzes und weites Gewand war von feinstem Stoff und hing beinahe schwerelos um seinen Körper. Seine Gesichtszüge waren hart und die Falten tief. Selbst für einen Fünfunfsechzigjährigen wirkte er älter als er war. Seine ganze Art strahlte Würde und Ruhe aus, der Fels in der Brandung, doch in seinem Innern loderte es heißer als sich irgendjemand vorstellen konnte. Er kannte die Gefahr, die heute lauerte, wusste, dass es seine letzte Chance war, den Familiennamen, der nun schon seit Generationen vererbt wurde, weiter zu führen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet er, der die Familie zu höheren Ehren geführt hatte als sämtliche DeRoveres zuvor, an der simplen Frage der Nachkommenschaft scheitern sollte. Der schwere Schlag, den sein Sohn ihm mit seinem Verhalten verpasst hatte, war beinahe sein Ende gewesen, was kaum jemand wusste. Das erste Mal in seinem Leben hatte er sich verkaufen müssen, seine Dienste in die Macht jener gestellt, die er früher noch ausgelacht hätte. Doch die Situation war nun eine andere, denn wenn sie wollten, wäre er ihre Marionette, was in seiner Position fatale Folgen haben konnte. Sein Leben lang hatte er nur seinem Gewissen über Rechenschaft ablegen müssen, hatte sich niemals von anderen abhängig gemacht. Jetzt war es anders und er wusste es.

Mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßte er seine Gäste, Pelates Borja und Pelleus Magnus samt Gemahlin, einer beleibten Nocturnin mit dem Namen Livia, die aus einer der angesehensten Familien stammte. Die männlichen Nocturnen waren ähnlich gekleidet wie er, schlichte schwarze Gewänder, ihre Haare martialisch kurz geschnitten. Pelleus Magnus war ein Hüne von einem Nocturn, der mit den Jahren auch in der Breite gewachsen war. In jungen Jahren ein ebenso gefürchteter General wie sein Sohn jetzt, der mit dem gleichen Hang von selbstzerstörerischem Mut seine Truppen befehligt und die Schlachten gegen die Namenlosen wie durch ein Wunder überlebt hatte. Dass er dabei einen Arm durch den Biss seines eigenen Meganten, den gefährlichen Reittieren der Nocturnen, verloren hatte und nur noch auf einem Auge leidlich sehen konnte, war Teil seiner Geschichte. In späteren Jahren sprach er dem Miesta zu, während er sich auf den erkämpften Lorbeeren ausruhte. Er lebte von seinem Ruhm, wurde vom Volk nahezu vergöttert, was ihm eine nahezu uneingeschränkte Macht einbrachte. Zwischen ihm und Vincus herrschte eine Art berührungsloser Respekt, denn weder konnte Pelleus mit dem Intellekt des Vincus mithalten, noch Vincus mit der gewaltsamen Kraft des Pelleus, die von fast allen Hochgeborenen bewundert wurde. Durch das ausbalancierte Verhältnis der Beiden war eine Co-Existenz und fruchtbare Zusammenarbeit möglich, die in ihren schon lange währenden Regierungsjahren bereits viel bewegt hatte.

Dem gegenüber stand Pelates Borja, ein ständiger Rivale von Vincus, der ebenso wie der Älteste der DeRoveres schlank und hochgewachsen war. Beide hatten ähnliche Eigenschaften, eine Intelligenz und Scharfzüngigkeit, die andere in den Schatten stellte. Während jedoch Pelates der noch bessere Redner war, fehlte es ihm an Charisma, ein Umstand, der vielleicht auf seinen Sprachfehler zurückzuführen war. Das leichte Lispeln machte sich besonders in den ernsten Situationen bemerkbar und führte häufig dazu, dass Nocturnen mehr auf den Fehler achteten als auf den brillant vorgetragenen Inhalt. Pelates war seit jeher eifersüchtig auf den Erfolg der DeRoveres, ein Umstand, der ihn zu einem gefährlichen Gegner machte. Mit einer eventuellen Heirat wollte Vincus diese tödliche Rivalität abschwächen und er hoffte, dass Juchata den Sohn des Pelates wählen würde, denn Calavus war ihm näher als Gladicus. Vielleicht würde er auf diese Weise nicht auf den Enkel warten müssen, sondern genug Einfluss auf den Schwiegersohn gewinnen können, um das Familienerbe bereits früher in würdige Hände zu legen. Mit seinem Erzfeind hatte Vincus eine lose Vereinbarung getroffen. Aber dieses Spiel hatte sich noch nicht entwickelt und wie eine Partie Machroon, dass er meisterhaft beherrschte, würde er seine Figuren setzen und sehen, welche Situationen sich mit der Zeit entwickelten.

Die Gemahlinnen von Pelleus und Pelates, Domitia und Livia, hielten sich im Hintergrund, ganz nach den Regeln Nocturner Gesellschaft. Sie waren etwas aufwendiger gekleidet, doch hielten sie sich an die Tradition der Hochgeborenen, nach der sich Nocturninnen in allen Belangen im Hintergrund halten mussten. Die beiden Söhne Calavus und Gladicus warteten bereits auf Juchata im Hochzeitsgemach, das Vincus eigens für diese Zeremonie hatte herrichten lassen. Das Zimmer, in dem ihm Naxbil diese unauslöschliche Schande zugefügt hatte, lag auf der anderen Seite des Hauses und war von nun an verschlossen, als könnte so die Erinnerung an die schmachvolle Tat endgültig ausgelöscht werden. Um Überraschungen und Zeugen zu verhindern, hatte Vincus diesmal nur ein einziges Spähloch anbringen lassen, von dessen Existenz nur er wusste. Nicht dass er Juchata ein ähnliches Verhalten wie Naxbil zutraute, im Gegenteil, er zweifelte nicht, dass sie gehorchen und wählen würde. An den Ernstfall eines Patts mochte er nicht einmal im Traum denken, denn jetzt brauchte er die stärksten Verbündeten, um aus der Situation heraus zu kommen.

Seine Tochter hätte eigentlich längst hier sein sollen, bereits vor einer halben Stunde hatte er nach ihr geschickt. Baribas war sicher nicht der Schnellste, doch langsam könnte er mit seiner Tochter auftauchen. Das Gesicht des Vincus spiegelte keine seiner Befürchtungen wider, still und würdevoll strahlte er die Ruhe aus, die ihn zu dem gemacht hatten, der er war. Ein glänzender Politiker und Führer, der andere inspirieren und zu Taten bringen konnte, die diese selber nicht für möglich gehalten hätten. Aber auch jemand, der vorne lächelte und ohne mit der Wimper zu zucken seine Feinde hinten herum erledigen konnte, ohne dass diese merkten, woher der Schlag kam.

Erst aber tauchte Naxbil auf, den er nicht erwartet hatte. Vincus bemerkte ihn bereits von Weitem, hörte seine übertrieben lauten Schritte und fragte sich, ob er sich wirklich so undeutlich ihm gegenüber ausgedrückt hatte. Die Einladung war zwar erfolgt, doch in der seichtesten Form, die jeder Nocturn von Rang sofort als Ausladung verstanden hätte. Nur nicht Naxbil, der anscheinend noch nicht genug angerichtet hatte. Als sich die schwere Holztür öffnete und Vincus seinen Sohn erblickte, diesen albernen Aufzug, sein Gehabe, verlor er für einen Bruchteil einer Sekunde die Herrschaft über seine Gesichtszüge. Der Hass, der in ihm brannte, nahm ihn für diesen Augenblick gefangen. Niemand, außer Naxbil, bemerkte es, der zusammenzuckte, denn mit einer derart starken emotionalen Reaktion seines Vaters, der so selten Gefühle zeigte, hatte er nicht gerechnet.

Naxbil verbeugte sich vor seinem Vater, der seine Fassung sofort wieder gefunden hatte. Dieser legte seine Hand auf den Kopf des Sohnes, die ehrerbietige Begrüßung vor Zeremonien, wie sie in der Gesellschaft der Nocturnen unter Familienangehörigen üblich war. Sie sprachen kein Wort, Naxbil machte danach zuerst den männlichen Gästen seine Aufwartung, Pelleus begrüßte ihn beinahe schon wie seinen eigenen Sohn, denn der Tragus gab nichts auf die Gerüchte, die über Naxbil im Umlauf waren. Pelates hingegen warte Abstand, war sich der Schwachstelle im Hause DeRoveres bewusst und ließ Naxbil durch wenige sarkastische, gut gewählte Worte spüren, dass er gedachte, die Situation zu nutzen, die ihm Naxbil ermöglicht hatte. Sein Plan stand fest, nur noch ein kleiner Schritt und die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Zwischen den DeRoveres und Borjas würde nie Eintracht herrschen, selbst eine Zweckheirat konnte die vielen Jahre der Feindschaft nicht tilgen, soviel stand für Pelates fest. Er konnte nicht glauben, dass Vincus einen solchen Fehler begehen würde, vielleicht wurde er doch alt und sein scharfer Geist ließ ihn nach den Schicksalsschlägen der letzten Zeit im Stich. Doch Pelates war klug und kannte seinen alten Gegner zu gut, als dass er ihn jetzt, in der Stunde der Entscheidung, unterschätzen würde. Zu oft hatte ihm dieser alte Haudegen bereits einen sicher geglaubten Sieg im Parlament entrissen. Also blieb Pelates vorsichtig, ließ sich nichts anmerken und benahm sich wie der perfekte Vater des angehenden Bräutigams, denn er zweifelte keine Sekunde daran, dass die schöne Tochter des Vincus seinen brillanten Sohn Calavus dem Tölpel Gladicus vorziehen würde. Was hatte dieser einer so intelligenten Nocturnin schon zu bieten als Gewalt und Eintönigkeit?

Die Tochter ließ weiter auf sich warten. Schon wurden Livia und Domitia in das Hochzeitsgemach geschickt, in der sie der Tradition gemäß für einige Zeit mit den jungen Herrschaften zusammen sein würden. Auch Ketauro Constantinus, der Ophraces, war bereits eingetroffen. Sein rotes Gewand wies ihn sofort als Priester aus, die arcinerne Schärpe, die nur die höchsten Ophraces tragen durften, deuteten auf seine Position hin. Die silberne Farbe war allein den Ophraces vorbehalten, die ihrerseits mit der göttlichen Pracht sehr sparsam umgingen und diese nur zu besonderen Anlässen trugen. Vincus hatte sicher alles in Bewegung gesetzt, um zu erreichen, dass der Ophraces heute diese und keine andere Schärpe trug. Die Väter waren jedenfalls beeindruckt, obwohl nur Pelleus dies auch offen zugab. Ketauro kannte Vincus seit seiner Kindheit, ein jetzt fülliger Lebemann, der dem Kult beigetreten war, um einen gehobenen Lebensstil leben zu können. Den Ophraces, den Priestern des Ophras, fehlte es an nichts. Früher durften sie nicht heiraten. Jetzt aber mussten sie nicht, auch wenn sie dem Geschlechtsleben frönen konnten, wie es ihnen beliebte. Und selbstverständlich wurde darüber niemals geredet, selbst die geschwätzigsten Nocturninnen hielten sich zurück, weil es bei Strafe verboten war, die heiligen Ophraces zu verleumden. Ihre Macht in der Gesellschaft war mit den Jahrhunderten stetig gewachsen, auch heute gab es kein Gesetz, keine wichtige Aktion, kein Gesetzesentwurf, denen sie nicht zustimmen mussten. Vincus' große Stärke war seine Kontrolle der Ophraces, seine treusten Anhänger befanden sich unter der Priesterschaft des Ophras. Heikle Abstimmungen hatte er so bereits des öfteren zu seinen Gunsten entscheiden können, auch wenn er es einmal nicht geschafft haben sollte, das Parlament zu überzeugen. Auf dieses Bollwerk seiner Macht konnte er sich noch immer stützen, auch wenn sein Einfluss unter den Adhiben, den Parlamentariern der Nocturnen, geschwunden war.

Wenn Juchata gewählt hatte, würde Ketauro an Ort und Stelle die Heirat vollziehen, eine Zeremonie, die zwei ganze Nächte dauern würde. Alles war vorbereitet, Naxbil hatte sich in eine Ecke verzogen, allein, bekam, anders als gehofft oder erwartet, kaum Beachtung. Vincus redete mit seinen Gästen, hielt das Gespräch am Laufen, um die Zeit zu überbrücken. Juchata hatte ihn noch nie warten lassen, hätte schon eine ganze Weile da sein sollen. Doch auf Baribas war Verlass, er würde die Tochter herbringen, wenn nötig mit allen Mitteln. Das war sein Auftrag. Doch Vincus bezweifelte, dass seine Tochter es so weit kommen lassen würde, zu geschickt und vorsichtig war sie, als dass sie die Situation nicht verstehen würde.

Aber wo blieb sie?

Vincus entschuldigte sich für einen Moment, übertrug Ketauro die Aufgabe, die Gäste zu unterhalten, und ging selbst in Richtung der Gemächer seiner Tochter. Als er jedoch an der Treppe stand, die nach oben zum Stockwerk führte, in dem Juchata wohnte, sah er sie bereits kommen. Ihre roten Haare wehten trotz Windstille hinter ihr her, die ihn so sehr an seine Gemahlin Marletta erinnerten. Zwar hatte sie seine Statur, groß und schlank, doch die Züge waren weicher, genau so lieblich wie die Marlettas. Ihrer Mutter, seiner Frau.

Er hatte ihr nie offen gezeigt, wie sehr er sie liebte, hatte sie immer auf Abstand gehalten. Er hatte seine Gründe dafür, kannte ihre schlummernden Fähigkeiten, von denen er nicht wollte, dass sie sie je entdeckte. Jetzt aber, in diesem Moment, als sie ihm entgegen eilte, mit ihrer ganzen Weiblichkeit, entschlossen und zielgerichtet, spürte er diese tief vergrabene Liebe, die aufbegehrte. Ganz wie es seine Art jedoch gebot, kontrollierte er jede Emotion, zeigte nichts. Ganz im Gegenteil, er sah geduldig und reglos zu ihr empor.

Baribas folgte Juchata in gehörigem Abstand, konnte er doch der Jugend nicht länger folgen. Als Juchata ihren Vater erblickte, erstarrte sie für den Bruchteil einer Sekunde, fing sich aber sofort wieder. Wie immer bei öffentlichen Anlässen siezte sie ihren Vater.

„Vater, vergeben Sie mir. Ich wäre schon eher gekommen, hätte ich nicht Mutters Ohrringe suchen müssen. Es fiel mir erst im letzten Augenblick ein, ich wollte sie heute tragen. Aber wie Sie sehen, sie haben sich nicht angefunden. Dabei sind sie immer in meiner Schatulle.“

Die Schatulle hatte Juchata von ihrer Mutter geerbt, sie enthielt so manches Stück, meist Schmuck, doch auch andere Sachen, deren Bedeutung Juchata nicht einmal erahnte.

„Es ist schon gut, nun bist du ja da.“ Als Vincus seiner Tochter gegenüber stand, küsste er sie vorsichtig auf die Stirn, ein seltenes Zeichen der Zuneigung.

„Wie schön sie ist, fast so groß wie ich, doch hat sie die Linien ihrer Mutter,“ dachte er. Für einen Augenblick wollte er alles absagen, fühlte, dass es nicht richtig war und nur seinem Zweck diente, doch wischte er diese leisen Zweifel weg, bevor sie zu etwas Größerem heranwachsen konnten.

Juchata nickte nur stumm, während Vincus ihre Hand nahm, sich umdrehte und den Arm hob, so dass beide mit den Händen auf Brusthöhe voran in das Hochzeitsgemach schreiten konnten. Das Gemach war für Juchatas Geschmack zu aufwendig geschmückt. Bunte Tücher hingen von der Decke, die in den Ecken des großen Raumes befestigt waren. In der Mitte stand ein arcinerner Tisch, von Kissen umzingelt, auf denen bereits die beiden Freier saßen. Überall standen prächtige Gefäße mit den teuersten Nachtgewächsen, die in allen Farben blühten und einen betörenden Duft verströmten. Juchata wich diesen Pflanzen aus, wusste sie doch um deren giftige Gefährlichkeit, wenn man ihnen zu nahe kam. Doch heute würde ihr kein Missgeschick dieser Art geschehen.

Die Mütter hatten auf den Sitzen weiter hinten Platz genommen, saßen auf den niedrigen Liegen und tuschelten erregt miteinander als die Braut und Vincus eintraten. Wenn Juchata unsicher oder aufgeregt gewesen sein sollte, sah man es ihr nicht an. Sie schritt selbstsicher auf den erhöhten Stuhl vor dem Tisch, überragte somit alle anderen. Selbst Gladicus wirkte winzig gegen die Gestalt Juchatas auf ihrem Thron. Der General war vollständig versteinert, als sie eintrat, konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Er betete sie bereits jetzt an, was immer sie sagte, er würde gehorchen. Calavus hatte den Kopf zur Seite gelegt, seine Lippen spielten mit einem Lächeln, das schlecht einzuschätzen war, vielleicht heimtückisch, vielleicht ironisch, eventuell aber auch erfreut. Er beherrschte das Mienenspiel bereits wie ein Alter, nur hin und wieder zeigte er sein wahres Gesicht. Juchata konnte er nicht täuschen.

Bevor sie sich setzte, schaute Vincus ihr nochmals kurz in die Augen.

„Was ich dir eigentlich sagen will, kann ich dir nicht sagen. Tue heute das Richtige, was immer das auch sein mag. Vielleicht bin ich ein alter Narr und du tust recht daran, abzulehnen, was ich dir vorgesetzt habe. Wer weiß das schon. Wenn nicht, verzeih mir. So weit sind wir gekommen, so viel steht auf dem Spiel, doch die Schuld kannst du mir nicht nehmen. Was immer heute geschieht.“ Vincus sagte nichts, dachte nur, sein Blick intensiv, seine grauen Augen hart wie Stahl.

Juchata nickte kurz als hätte sie ihn gehört, seine intimsten Gedanken gelesen. Es war ihr Vater, der den Blick mit ihr brach, nur durch ein Blinzeln und Juchata war sich später nicht sicher, ob es stimmte, was sie beobachtet hatte. Vincus schaute auf die Szene vor ihm, die erwartungsvollen Gesichter ruhten auf ihm. Dann sprach er die Worte in Noctus, der alten Sprache der Vorfahren und eröffnete damit die Zeremonie. Jetzt kam Ketauro hinzu, der gewartet hatte, bis Vincus fertig war. Auch er sprach dieselben Worte in der antiken Sprache, die kaum noch jemand verstand. Sie gaben der bevorstehenden Zeremonie etwas Feierliches, etwas, das höher und damit reiner war. Uralte Traditionen, die sie schon so lange ausführten, dass sich ihr Sinn verwässert und aufgelöst hatte. Doch Ketauro wich ab, nur Nuancen und ein unwissender Nocturn hätte kaum verstanden. So wählte Ketauro statt des Wortes „Resnja“, das Liebe bedeutete, den Begriff „Resnjasata“, der eher Freundschaft, im anderen Kontext aber auch Feindschaft bedeuten konnte. Zweifellos hatte Vincus seine Hand im Spiel, eine letzte Botschaft an sie?

Juchata konnte jeder Silbe folgen, denn sie sprach Noctus. Calavus sicher auch und sie wusste, dass auch er verstanden hatte, was Ketauro, der es wie kein Zweiter verstand, Vincus zu unterstützen und blind zu verstehen, hatte sagen wollen. Selbst wenn es eine Nachricht an sie war, regte sich Widerstand in ihr. Sie hatte es nicht nötig, so gegängelt zu werden und ihre gefürchtete Wut stieg in ihr auf. Juchata schüttelte leicht den Kopf, ihre roten Locken kamen in Wallung, womit sie alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie ärgerte sich bereits über diese Regung und nahm sich vor, ab jetzt nicht mehr zu reagieren. So wie ihr Vater es sie gelehrt hatte.

Dann verstummten die Worte, sie hallten jedoch noch lange im Raum nach, was Juchata und wer weiß noch wer spürte. Dann verließen Vincus und Ketauro das Gemach. Die Mütter reichten der Tradition folgend Erfrischungen, herrliche Speisen aus Nakreet, aber auch Früchte von den Bäumen der Felder, die kaum noch trugen, bedienten die Drei, bevor auch sie, nachdem sie die besten Wünsche ausgesprochen hatten, das Zimmer verließen.

Vincus und Ketauro versiegelten den Saal. Flüssiges Arcin wurde in eine Einrichtung an der Tür gegossen, noch bevor es erhärtete, presste Vincus seinen Siegelring darauf. Sofort erstarrte das Metall. Ketauro beschwor den Fluch, der jeden treffen sollte, der es wagte, das Siegel zu brechen. Nur Juchata durfte es tun, aber erst, wenn sie ihre Wahl getroffen hatte. Oder sie eine Wahl ablehnte.

Dann waren Juchata, Gladicus und Calavus allein. Keiner wagte zu sprechen, die Stille erschien allen beinahe unerträglich. Gladicus war der Erste, der sich rührte, allerdings anders, als er sich vorgestellt hatte. Aus lauter Nervosität griff er eines der Häppchen, doch viel zu hastig, so dass es in hohem Bogen durch die Luft flog und mit einem sanften Klatschen auf den nackten Boden fiel. Juchata lachte laut auf, während Calavus die Stirn runzelte.

Gladicus sprang auf und versuchte, das kleine Ungeschick zu beseitigen.

„Lass gut sein, Gladicus, das machen später die Diener. Es ist in Ordnung, wir sind alle nervös. Mach dir nichts daraus.“ Freundlich lächelte Juchata Gladicus zu, der sich dadurch beruhigte und selbst langsam ein entspannteres Lächeln zeigte. Das gefiel Calavus nicht, doch sagte er nichts, seine Miene jedoch verriet Hohn und Spott für seinen Konkurrenten, denn er spürte, dass der General ihm nicht gewachsen war.

Gladicus hatte Mut gefasst. Zwar fühlte er sich auf dem Schlachtfeld sicherer, zog sogar den ärgsten und kräftigsten Feind dieser Situation vor, doch war es jetzt nicht zu ändern.

„Was machen wir jetzt? Juchata, wen von uns willst du wählen?“

Die direkte Art des Soldaten gefiel Juchata, der schmachvolle Blick des Kriegers erinnerte sie jedoch daran, dass sie diesen Nocturn niemals würde respektieren können.

Calavus mischte sich ein, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. „Warum die Eile, mein Freund. Lasst uns erst mal tafeln und etwas reden. Danach ist für wichtige Entscheidungen immer noch Zeit.“

Beide Freier sahen Juchata an, die jetzt nachdenklich auf ihrem Thron hin und her rutschte.

„Calavus hat recht“, sie bereute diese Worte in dem Moment, in dem sie sie sagte, denn einen Gegner wie Calavus baute man nicht auf. „Ich habe noch nicht entschieden und um ganz ehrlich mit Euch zu sein, ich brauche auch noch etwas Zeit. Lasst uns reden. Vielleicht hilft das.“

Gladicus schaute auf den Boden, das war nicht sein Terrain, zu schlüpfrig und ungewohnt. Calavus hingegen schien bester Laune.

„Gladicus, mein Freund, warum so trübsinnig? Jetzt sind wir hier beisammen, warum nicht ein wenig Spaß haben und unsere Gesellschaft genießen? Oder bist du etwa unzufrieden mit uns?“

„Das ist es nicht. Ich mag euch beide.“ Juchata glaubte ihm das sogar, denn sie hielt den Kämpfer für einen einfachen und aufrichtigen Nocturnen, der keine Erfahrung mit Täuschungen und Lügen hatte. Er fuhr fort.

„Ich weiß, ich bin nicht der beste Redner. Juchata, bitte wähle mich, ich liebe dich, habe dich bereits geliebt, als wir uns das erste Mal sahen.“

Dieser Ausbruch traf Juchata, obwohl sie auf die direkte Art des Soldaten vorbereitet war.

Calavus kam ihr zuvor.

„Also, mein Freund, ich bitte dich. Nun lass sie doch in Ruhe. Sie wird sich schon entscheiden und wird das Beste tun. Sie muss an vieles denken, glaube mir. Liebe steht dabei nicht gerade an erster Stelle. Denke an ihren Vater, der faktisch ohne Sohn einen Erben finden muss. Niemand weiß zwar genau, was geschehen ist, doch es muss ja einen Grund dafür geben, warum Juchata als Erste heiratet.“

„Lass meinen Bruder aus dem Spiel“ Juchata fuhr auf, fauchte Calavus an, der nicht zurück wich.

„Meine Liebe, ich spreche doch nur die Fakten aus. Natürlich weiß ich nichts, reime mir nur zusammen, was geschehen sein könnte. Also nichts für ungut. Du wirst richtig wählen, davon bin ich überzeugt. Es steht so viel mehr auf dem Spiel als nur Liebe oder das, was man im Allgemeinen dafür hält.“

„Ach so, und was wäre das zum Beispiel?“

„Auch wenn es dich ärgert, das Fortbestehen der Familie DeRovere hängt von deiner Entscheidung ab. Also musst du die Richtige treffen. Mehr sag ich nicht, alles andere wird sich dann zeigen.“ Selbstsicher spielte Calavus mit seinem spitzen Kinn, der seinem Gesicht auch ohne Ausdruck eine höhnische Fratze verlieh. Seine glatten langen Haare umspielten sein ebenmäßiges Gesicht, das man als schön bezeichnen konnte. Welch ein Gegensatz zur runden, fast bäuerlichen Visage des Gladicus, der seinem Vater so sehr ähnelte.

„Du scheinst ja zu wissen, was die richtige Entscheidung wäre. Teile doch deine Weisheit mit uns.“ Juchata wurde immer wütender, Gladicus war die Situation bereits peinlich und er zog sich so weit er konnte zurück. Ein Riese, der sich klein machte wie ein winziges Tierchen und es schaffte, seine körperliche Präsenz auf ein Minimum zu reduzieren.

„Meine Liebe, das liegt doch auf der Hand. Ich muss es dir nicht sagen, aber ich denke, du kommst selbst darauf. Dein Vater braucht einen würdigen Nachfolger und das ziemlich schnell. Schau dich um, es liegt so klar und offen vor uns wie diese....ja... diese Kuachti.“ Er zeigte auf die bittere Frucht, die zwar selten war, doch kaum jemandem schmeckte.

Juchata wusste, dass Calavus recht hatte. Den Hinweis auf die bitterste aller Früchte hatte sie verstanden. Doch seine Arroganz war noch größer als sonst und sie hasste ihn dafür. Noch mehr jedoch hasste sie ihren Vater, der sie in diese Situation gebracht hatte. Sie steckte in der Klemme, denn plötzlich wurde ihr das Spiel ihres Vaters bewusst. Die Familie des Gladicus würde Vincus immer unterstützen, egal, was heute geschah. Die Borjas jedoch wären ein neuer, aufstrebender Verbündeter, alte Gegner der Familie, die Allianz würde Vincus neuen Auftrieb geben. Ihr Vater hatte sie betrogen, denn eigentlich hatte sie keine Wahl. Calavus kannte das Spiel und war sich seiner Sache so sicher, dass er die aggressivste Form der Unterhaltung gewählt hatte: Ehrlichkeit. Und die war kaum zu ertragen. Aus seinem Mund klang es auch beinahe wie eine Drohung. Doch Juchata hatte er unterschätzt. Sie war keine Nocturnin, die mit sich spielen ließ, auch ihre Familie hatte dazu kein Recht.

Trotzdem fühlte sie ihre Pflicht, neigte den Kopf und schwieg.

„Wir wollen speisen.“ Juchata musste Zeit gewinnen, in der Hoffnung, dass ihr doch noch ein Ausweg einfiel.

Calavus lächelte siegesgewiss. Die Zeit spielte für ihn und er wusste es.

Gladicus hatte nicht viel verstanden, machte sich jetzt relativ entspannt über die Köstlichkeiten her. Die bewundernswerte Naivität beschützte ihn davor, im tiefsten Innern verletzt zu werden.

Juchata und Calavus ließen sich kaum aus den Augen, ihre Blicke waren hasserfüllt, seine einfach nur eiskalt. Und doch spürten beide eine Anziehung, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt hatten.

Es war trotzdem ein ungleiches Spiel, denn die Machtverhältnisse schienen eindeutig. Beide wussten es. Nur einer erfreute sich an der Situation.

Vincus hatte das Gespräch von seinem Guckloch im Nebenzimmer aus verfolgt, während Ketauro die Gäste unterhielt. Er wusste, dass Juchata sein Spiel jetzt verstand. Die Wahl war keine, er wunderte sich nur, dass sie es vorher noch nicht durchschaut hatte. Er rechnete damit, dass sie sich noch ein wenig zieren würde, doch im Grunde konnte er beruhigt sein. Das erste Mal in dieser Nacht erlaubte er sich ein leises Lächeln, das nach einer Sekunde erstarb. Wieder wurde er sich bewusst, was er seiner Tochter antat. Das wäre alles nicht notwendig gewesen, wenn Naxbil ihn nicht verraten hätte. Sein Sohn hatte sich still und leise wieder entfernt, niemand hatte Kenntnis von ihm genommen. Es war so als hätte er nicht existiert. Dass Naxbil für alle Zeiten erledigt war, wusste auch Vincus, denn die elitäre Gesellschaft ignorierte ihn bereits und strafte ihn mit Nicht-Achtung. Vincus würde sich eines Tages mit der Zukunft seines ältesten Sohnes auseinandersetzen müssen, was eine unangenehme Geschichte werden würde. Vielleicht ein Posten in der Armee, um ihn einige Jahre in den Kasernen verschwinden zu lassen oder sogar das Amt eines Ophraces, auch wenn das trotz seines Einflusses ungleich schwieriger zu bewerkstelligen sein würde. Vincus schob diese Gedanken davon, das hatte Zeit. Im Moment brannte es an anderer Stelle. Er schaute wieder durch das Guckloch, noch immer war keine Entscheidung gefallen. Also lehnte er sich zurück, stand nach einer Minute auf und ging wieder in den Aufenthaltsraum, in dem sich die Familien aufhielten. Seine Abwesenheit war kaum aufgefallen, denn Ketauro hatte eine der alten Geschichten aus seiner Zeit vor der Weihung erzählt, die immer gut ankamen und mit jedem Erzählen einige Details hinzugewannen. Vincus atmete auf und hörte seinem alten Freund zu, ließ sich von seinen Abenteuern gefangen nehmen und vergaß für diese Zeit alle Sorgen.

Nocturnia - Die langen Schatten

Подняться наверх