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26.2.2014

Tara, meine geliebte Zwillingsschwester!

Zu unserer Intensivstation gehören auch drei Einzelzimmer, in denen vorherige Intensivpatienten zu weiterer Beobachtung liegen. In einem von diesen liegt Herr Kurt Wolter, ein netter fünfundsiebzigjähriger Mann. Er hatte sich bei einem Sturz von der Leiter beide Schultergelenke ausgerenkt, das rechte davon auch noch gebrochen, sowie die rechte Kniescheibe zertrümmert. Und als er vor einigen Tagen entlassen werden sollte, klagte er über Atemnot. Im Röntgenlabor stellte man fest, dass er sich eine doppelseitige Lungenembolie zugezogen hatte. Gott sei Dank hatte man diese noch rechtzeitig bemerkt, sodass er noch mittels eines Blutverdünnungsmittels vor einem sicherlich bald sich einstellenden Exitus bewahrt werden konnte. Nach seiner Entlassung wird er noch länger mit einer Knieschiene herumlaufen und gegen eine weitere Thrombosegefahr auch lange Kompaktstrümpfe tragen.

Während unserer Spätschicht läutete er. Als ich im Zimmer das Notlicht ausgeschaltet hatte und vor seinem Bett stand, sagte er, ob ich ihm bitte sein Buch aufheben könne, das heruntergefallen sei. Ich bückte mich und hob den dicken Band auf und las Goethes Werke Band 13 bis 16. Ich reichte ihm diesen zurück. Er bedankte sich und ich fragte ihn, was er gerade darin lese. Und er sagte, dass in diesem Band der 1920 erschienen Ausgabe von Goethes sämtlichen Werken der Wilhelm Meister, Dichtung und Wahrheit, Die Natürliche Tochter und auch Werthers Leiden vereinigt seien. Im letzteren lese er wieder einmal und sehe auch die Unterstreichungen und Anmerkungen, die er damals als Germanistikstudent dort eingefügt hatte. Und ich fragte, welches seine Lieblingsschriftsteller seien. Und er entgegnete, dass diese die deutschen Klassiker von Goethe bis hin zu Thomas Mann seien, wobei die beiden soeben genannten seine besonderen Lieblinge wären. Diesen dicken Band habe ihm heute Morgen seine Schwester auf seinen Wunsch hin aus seiner Bibliothek gebracht. Und ich sagte, dass ich ebenfalls die großen Klassiker, aber auch die Gedichte der Romantiker liebe, wie zum Beispiel Brentano, Eichendorff, Uhland, Mörike und andere. Ich habe einmal, so ergänzte ich, mit meiner Zwillingsschwester noch zur Schulzeit öfters ein Gedicht auswendig gelernt, bis wir selbst gemeinsam Gedichte verfassten. Und ich erklärte ihm, wie diese zustande gekommen seien. Er war sehr interessiert und meinte, dass ich ihm diese einmal zeigen sollte. Doch ich entgegnete, dass ich mich geniere, einem Verehrer der göttlichen Lyrik unsere zusammengereimten Gedichte zu zeigen. Und er fragte mich, ob ich das folgende Gedicht von Eichendorff kennen würde. Und er begann: Und meine Seele spannte …und ich sagte die zweite Zeile: … weit ihre Flügel aus. Und er wieder: Zog durch die weiten Lande, und ich zitierte nun den Schluss: als flöge sie nach Haus. „Ja“, so sagte er, „das ist ja wunderbar, dass Sie dieses Gedicht, das Robert Schumann so herrlich in Töne gesetzt hat, kennen. Ich hatte dieses Gedicht im Deutschunterricht meinen jungen Gymnasialschülern auf der Platte einige Male vorgespielt, bis alle es auswendig hersagen konnten. Ja, mit Musik kann man besser auswendig lernen.“

Und er öffnete das Buch auf einer Seite, auf der er wohl vorhin gelesen hatte, und las mir einen Satz daraus vor, der lautet: Dass das Leben nur ein Traum sei, ist manchen Menschen so vorgekommen. Und er fragte mich, ob ich mir auch vorstellen könne, dass wir in einer höheren Welt wach sind und das hiesige Erdenleben dort erträumen. Und ich ergänzte: „Das würde ja heißen, dass unsere irdischen schlimmen und uns großen Schaden zufügenden Ereignisse nur erträumt sind. Und wenn wir wieder dort aufwachen, lachen wir darüber, denn es war ja nur ein Traum.“ „Bravo! Woher haben Sie diese tieferen Einsichten?“ „Dies kam mir gerade so in den Kopf, ohne nachzudenken.“

Nun, ich musste wieder gehen, um meinen anderen Pflichten nachzukommen. Doch später brachte ich ihm noch den Nachttee. Und er bat mich, auch aus dem Werther noch ein Zitat anzuhören, das lautete, wenn ich mich recht erinnere: „Was ist unserem Herzen die Welt ohne die Liebe.“ Und wir unterhielten uns beide für einige Minuten über die Macht der Liebe. Doch dann musste ich wieder hinauseilen, weil mein Pieper in meiner Schürze summte. Doch ich fügte noch beim Hinausgehen hinzu, dass ich ihm morgen ein Gedicht zu dieser Thematik mitbringen würde, über das er staunen werde. Ja, so nahm ich mir vor, morgen jenes in der Sonntagausgabe erschienene und von mir auswendig gelernte Gedicht Der Dichter abzuschreiben und ihm zu überreichen. Ich bin gespannt, was er mir dazu zu sagen hat. Ich werde dir dann, geliebte Tara, darüber berichten.

Lebt wohl ihr beiden. Ich liebe euch.

Eure Leo

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Geliebte Zwillingsschwester

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