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28.2.2014

Meine geliebte Zwillingsschwester, meine Tara!

Ich bin ganz aufgeregt, dir darüber zu berichten, was ich gestern am Bett von Herrn Wolter erlebt habe. Als ich sein Zimmer betrat, sagte er erfreut, dass er schon ungeduldig auf mich gewartet hätte und neugierig sei, welches Gedicht ich ihm zeigen werde. Ich nahm einen Stuhl und setzte mich an sein Bett, nachdem ich wieder auf seinen Wunsch hin die Rückenlehne etwas weiter nach obenhin einstellte. Obwohl ich, wie du weißt, das Gedicht auswendig konnte, las ich es, da ich es für ihn handschriftlich abgeschrieben hatte, vor. Er hörte aufmerksam zu. Und als ich die vorletzte Strophe, die mit den Zeilen … und er mit seinem ganzen Lieben für unser Glück sich selbst verzehrt gelesen hatte, berührte er meinen Arm und sagte zu meinem Erstaunen die letzte Strophe, ohne auf mein Blatt geschaut zu haben, auswendig auf, die da heißt:

Drum weiset ihm ein wenig Güte

für seine Lieb’ euch zugetan,

denn seines Liedes Herzensblüte

kann nur erglüh’n auf eurer Bahn.

Ich war ganz erstaunt, dass er dieses Gedicht von Unbekannt ebenfalls auswendig wie ich gelernt hatte. Und ich fragte ihn, ob er dieses ebenfalls in jener Sonntagsausgabe gelesen habe. Das verneinte er. „Aber woher kennen Sie es?“ fragte ich weiter. Und er entgegnete: „Ich habe es zwar aufgeschrieben, aber es ist nicht von mir.“ „Wer hat es Ihnen diktiert?“ „Das bleibt unbekannt. Denn es kommt aus einer höheren Quelle.“ „Das heißt also“, forschte ich weiter, „dass Sie der Dichter dieses Gedichtes sind?“ „Wie ich schon andeutete, es ist nicht von mir. Doch es ist mir eingegeben worden, so dass ich nachts aufwachte und es einfach wie nach einem Diktat niederschrieb, ohne dabei nachzudenken.“ Mir kamen die Tränen vor Rührung. Und als ich ihn bat, ihn umarmen zu dürfen, gestattete er es mir. Doch dann fragte ich weiter, warum nicht sein Name unter diesem Gedicht in der Zeitung stand. Und er erklärte mir: „Wenn ich meinen Namen genannt haben würde, hätte man es nicht abgedruckt.“ Ich drang in ihn, mir das genauer zu erklären. „Ich bin gerichtlich verurteilt worden und als solcher verfemt. Deshalb traut sich kein Zeitungs- oder Buchverleger mit meinem Namen etwas zu veröffentlichen. Also musste ich, um dieses Gedicht der Öffentlichkeit zu präsentieren, es anonym oder mit der Unterschrift ‘Unbekannt‘ an die Redaktion schicken.“ Ich wollte nun wissen, warum er verfemt sei. Doch er antwortete, dass dies eine lange Geschichte sei. Doch er würde morgen aus der Klinik entlassen, und wenn ich wollte, könnte ich ihn ja mal besuchen. Dann entnahm er aus der Nachttischschublade seine Brieftasche und überreichte mir seine Visitenkarte.

Liebe Tara, was sagst du dazu? Welch ein Zufall, dass jener Dichter, der mit diesem Gedicht als Unbekannter uns zu Tränen rührte, nun ausgerechnet auf der Krankenstation zu liegen kommt, die ich mit anderen zu betreuen habe. Ich muss das alles erst einmal verkraften. Ja, auf jeden Fall werde ich ihn in Lankwitz aufsuchen. Darüber werde ich dir natürlich ausführlich berichten.

Ich schicke euch beiden viel Liebe.

Eure Leo

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Geliebte Zwillingsschwester

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