Читать книгу Klingen, um in sich zu wohnen 1 - Gabriele Frick-Baer, Udo Baer - Страница 11

1.2 Die sechs Kostbarkeiten

Оглавление

Beginnen wir mit einem Beispiel:

Eine Klientin leidet an Entscheidungsschwäche. Immer wenn sie Entscheidungen treffen muss, große oder kleine, gerät sie ins Schwanken, wird unsicher, weiß nicht, was sie tun, in welche Richtung sie sich bewegen soll. In der Therapie hat sie dieses und jenes versucht, sie kennt auch die Quellen und Gründe ihrer Entscheidungsunsicherheit – aber es ändert sich wenig.

An der Entscheidungsfindung zu arbeiten, was für viele KlientInnen ein wichtiger Ansatz ist, hilft ihr nicht weiter, da ihre Entscheidungsunsicherheit in einer tiefgreifenden Verunsicherung ihres Selbstbildes begründet ist. Wenn andere Menschen ihr Positives zurückmelden, nimmt sie das einen Moment zur Kenntnis und lässt es dann von sich abperlen – wie von einer Teflonplatte. Sie nimmt positive Rückmeldungen nicht in sich hinein.

Zu tief und zu selbstverständlich hat sie die von ihren Großeltern oft geäußerte Haltung übernommen, dass sie nichts wert sei, dass sie letzten Endes genauso „schlecht“ sei wie ihre früh verstorbene Mutter oder wie ihr Vater, der „Tunichtgut“.

Therapeut und Klientin suchen gemeinsam nach Wegen, auf denen sie lernen könnte, sich selbst wertzuschätzen.

In einer Stunde schlägt der Therapeut vor: „Ich möchte Sie heute bitten, mich zu einem Besuch in ein chinesisches Restaurant einzuladen. Dort werden wir auf die ‚sechs Kostbarkeiten’, die auf der Speisekarte angeboten werden, aufmerksam. Die sechs Kostbarkeiten vereinen das beste, was das Restaurant zu bieten hat. Ich bitte Sie, nun zu überlegen, welche sechs Kostbarkeiten Sie haben, was Sie an sich und in sich kostbar finden.“ Die Klientin schreckt zurück und meint, dass sie doch nie sechs Kostbarkeiten finden könne.

Der Therapeut: „Auch im chinesischen Restaurant wird jede Kostbarkeit nacheinander serviert. Beginnen Sie mit einer Kostbarkeit, beginnen Sie mit einer Eigenschaft, Tätigkeit, Kompetenz, was auch immer, mit einem Aspekt Ihrer Lebendigkeit, die Sie an sich schätzen, die Sie an sich für kostbar halten.“

Die Klientin überlegt: „Vielleicht, dass ich mit mir so ehrlich bin. Und auch anderen gegenüber. Ich will mir und anderen nichts vormachen … Ja: meine Ehrlichkeit.“

„Wunderbar, die erste Kostbarkeit haben Sie schon gefunden. In chinesischen Restaurants ist es nun so, dass weiter hinten in der Speisekarte, dort, wo die sechs Kostbarkeiten zu finden sind, zumeist auch ein Farbfoto der sechs Kostbarkeiten abgebildet ist, damit sie sichtbar sind und bemerkt werden. Für unsere menschlichen Kostbarkeiten gilt Ähnliches. Der erste Schritt besteht darin, sie überhaupt wahrzunehmen, sie zu registrieren und sie ernst zu nehmen. Der zweite Schritt darin, sie kund zu tun, öffentlich zu machen, sichtbar und hörbar werden zu lassen. Ich bitte Sie nun, ein Instrument auszusuchen und ihre Kostbarkeit, die Ehrlichkeit, auf irgendeine Art und Weise erklingen zu lassen.“ Die Klientin äußert zuerst wieder ihre Unsicherheit, blickt sich dabei aber schon suchend unter den Musikinstrumenten um. Sie probiert ein Xylofon, probiert eine Trommel, probiert eine Zither, dann das Balafon und wieder die Zither und schaut den Therapeuten fragend an: „Ich weiß nicht, wie ich die Ehrlichkeit darstellen soll?“

„Ich weiß es auch nicht. Es ist Ihre Ehrlichkeit, Ihre Kostbarkeit. Probieren Sie aus und nehmen Sie den Ton oder die Klänge, die kostbar klingen, die ehrlich klingen.“

Sie greift zum Balafon, probiert einige Töne aus und wählt zwei Töne, wiederholt sie mehrmals und sieht auf: „Diese Töne sind es!“

Und so geht es weiter: Eine Kostbarkeit nach der anderen entdeckt die Klientin, immer nach Phasen der Unsicherheit und des Zögerns. Und eine Kostbarkeit nach der anderen bringt sie zum Klingen, auf jeweils unterschiedlichen Instrumenten, mit jeweils unterschiedlichen Klang- und Tonfolgen. Am Ende ist sie aufgeregt und erstaunt, glücklich darüber, so viel gefunden zu haben, was sie an Kostbarem hat, was sie an sich schätzt. Sie strahlt und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie ist freudig erregt und gleichzeitig traurig darüber, dass ihre Selbstwertschätzung so lange mit Füßen getreten wurde.

Zum Abschluss schenkt der Therapeut der Klientin – um im Bild zu bleiben: als Nachtisch – eine siebte Kostbarkeit: Ihre zarte und langsam wachsende Achtsamkeit für ihre Gefühle, die in der Therapie allmählich erblühte. Diese Kostbarkeit ist noch so neu und klein, dass sie der Klientin selbst nicht einfiel, deswegen der „Nachtisch“. Und er spielt ihr diese siebte Kostbarkeit vor: eine leise Melodie auf der C-Flöte.

Das Erklingen der sechs Kostbarkeiten dient der Selbstwertschätzung. Diese Einheit ist immer dann angesagt, wenn es gilt, die Selbstwertschätzung zu stärken oder über ihr Gewahrwerden einen inneren Boden für den weiteren therapeutischen Prozess zu schaffen. Manchmal liegt ein Thema in der Luft und eine Klientin oder ein Klient traut sich nicht daran – dann kann die Arbeit mit den sechs Kostbarkeiten einen Boden schaffen, der Selbstsicherheit verstärkt und damit den Mut, neue Wege zu beschreiten und unbekanntes Terrain des Erlebens zu erkunden. Manchen KlientInnen schlagen wir vor, alle Kostbarkeiten nacheinander zu spielen. Sie hören dann ihre persönliche Klangwelt: So klinge ich, so bin ich.

Es kommt bei dieser Arbeit nicht so sehr darauf an, welche Kostbarkeiten die Menschen entdecken und zum Klingen bringen. Häufig fallen ihnen im Nachklang einige Stunden oder Tage später noch weitere Kostbarkeiten ein. Wichtig ist der Erfahrungsprozess, wichtig ist, dass sie selbst auf die Suche gehen und dass sie ihre Selbstwertschätzung nicht nur für sich behalten, sondern auch hörbar machen. Dabei tauchen Schwierigkeiten auf, die den Prozess beeinträchtigen, manchmal auch unterbrechen können. Da kann die Angst auftauchen und gefragt werden: „Wie klingt die Angst?“ Da kann die Scham die Kostbarkeiten verschleiern und die Sprache verstummen lassen, so dass es gilt, sich gegen die Beschämung abzusichern und einen Weg zu finden, durch die Scham hindurch den eigenen Kostbarkeiten zu begegnen. Da wird bei der Entdeckung neuer Wege auch die Trauer wach, die Trauer darüber, dass diese Wege so lange versperrt waren.

Ein Klient wiederholte bei jeder Kostbarkeit den gleichen Ablauf. Er äußerte eine seiner Eigenschaften positiv, stellte sie im zweiten Satz in Zweifel und wertete sie im dritten Satz ab, als „eigentlich nichts Besonderes“ oder „doch eher negativ“. Als der Therapeut ihm dies spiegelte, war ihm sofort klar: „Das ist mein Vater, der aus mir spricht. Alles schlecht machen, alles abwerten, kein Lob, kein Kompliment stehen lassen.“ Dies erkennend gelang es ihm erfolgreich, seine Selbstwertschätzungen ernst zu nehmen und anzunehmen.

Eine Klientin nannte zügig und problemlos die erste, die zweite, schließlich die dritte Kostbarkeit und ließ sie erklingen. Alle drei Kostbarkeiten bezogen sich auf Fähigkeiten, die sie in ihrem beruflichen Leben gut nutzen und zum Tragen bringen konnte. Die Therapeutin fragte sie, ob sie denn auch Kostbarkeiten kenne, die in ihrem privaten Leben lebendig sind. Die Klientin lachte: „Das ist mal wieder typisch für mich, alles dreht sich um die Arbeit und das Private kommt zu kurz …“ Hier nun bekam es Wert.

Das Erklingenlassen der Kostbarkeiten macht erstaunlicherweise (oder vielleicht auch nicht) den meisten KlientInnen weniger Probleme als das Finden und Aussprechen dessen, was sie an sich wertschätzen. Ist es einmal benannt, gibt es zwar Unsicherheit, Suchen und Ausprobieren, bis die passenden Klänge gefunden sind, doch fast immer gelingt dieser Prozess, ohne dass weitere Hilfestellungen durch die Therapeutin oder den Therapeuten notwendig sind.

Manchmal scheint die Aufgabe, kostbare Eigenheiten zu finden, unlösbar zu sein. Dann hilft es, sich auf den umgekehrten Weg zu begeben – zuerst erklingen lassen, dann benennen.

Ein Klient war gerade so in seiner Selbstabwertung verfangen, dass er auf die Frage der Therapeutin nach seinen Kostbarkeiten nur mit tiefer Hilflosigkeit und Traurigkeit reagieren konnte. „Kostbarkeiten? Was soll an mir schon kostbar sein!“ „Ich weiß Einiges, was ich an Ihnen kostbar finde und ich bin sicher, Sie werden auch etwas finden. Aber vergessen Sie meinen Vorschlag erst einmal und suchen Sie sich bitte aus all den Instrumenten, die hier stehen, sechs aus, die gerade jetzt Ihre Aufmerksamkeit erregen. Fragen Sie nicht, wieso warum gerade die, grübeln Sie nicht zu lange, sondern vertrauen Sie Ihren Impulsen … Geben Sie diesen Instrumenten ihren jeweiligen Platz im Raum … Und nun lassen Sie eins davon erklingen … Was hören Sie? Was geht Ihnen durch den Sinn? Welche Eigenschaft, die Sie an sich schätzen, könnte das gerade gewesen sein? Welche Kostbarkeit?“ Auf die Art und Weise erspielte sich der Klient nach und nach einige Kostbarkeiten, erhörte sich selbst: auf der Trommel seine Gradlinigkeit und berufliche Kompetenz, auf dem Gong seine Fähigkeit, seine Kinder um Entschuldigung für manche Zumutungen zu bitten, auf der Kalimba seine Liebe und Zärtlichkeit für seine Familie, auf der Rassel seine offensive Verteidigungs- und Schutzbereitschaft für manche andere, auf dem Klavier seine Kreativität, auf der Mundharmonika seine Intelligenz und Neugier. Auf Nachfrage bestätigte er: Er empfand sich nicht „zur Selbstwertschätzung manipuliert“, diese Kostbarkeiten nicht als „aufgesetzt“, sondern als wahrhaftige Entdeckungen seiner ihm eigenen Wesenszüge – ein guter Boden für die therapeutische Weiterarbeit.

Die Kostbarkeiten zum Erklingen zu bringen, impliziert, dass sie auf eine besondere, intime Art hörbar werden. Dieses Hörbar-werden-Lassen bedarf der Resonanz, bedarf der Antwort, bedarf der wertschätzenden und gleichzeitig ehrlichen Rückmeldung, da sonst die Scham als Nach-Scham auch in Bezug auf diese Therapieeinheit die KlientInnen ergreifen kann.

Eine siebte Kostbarkeit von uns als Therapeutin oder Therapeut den KlientInnen mitzuteilen und musizierend zu Gehör zu bringen, machen wir nur in Ausnahmefällen. Wir bieten dies immer dann an, wenn eine Klientin oder ein Klient eine für uns sichtbare und bedeutsame Eigenschaft, Fähigkeit „überhört“, die aber für sie bzw. für den therapeutischen Prozess eine besondere Bedeutung hat.

Und noch ein letzter Hinweis: Das Entdecken, Aussprechen und Erklingenlassen der sechs Kostbarkeiten braucht Zeit, in der Regel eine halbe bis eine dreiviertel Stunde, manchmal sogar länger, in der Einzeltherapie möglicherweise mehrere Stunden. In der Arbeit mit Gruppen bitten wir die GruppenteilnehmerInnen, diese Kostbarkeiten in Kleingruppen zu finden, auszusprechen und erklingen zu lassen, und fordern die anderen TeilnehmerInnen der Kleingruppen auf, zu den jeweiligen Kostbarkeiten Rückmeldungen zu geben. Dies braucht, da alle TeilnehmerInnen ihre Kostbarkeiten finden sollen, entsprechend mehr Zeit, so dass wir häufig die Anzahl der Kostbarkeiten für jede und jeden auf drei oder vier beschränken. In der Einzelarbeit sollte in jedem Fall versucht werden, sechs Kostbarkeiten zu finden. Gerade unter den letzten benannten Kostbarkeiten finden sich oft besondere Schätze, die sonst eher im Verborgenen bleiben würden.

Klingen, um in sich zu wohnen 1

Подняться наверх