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Der Blick über den Tellerrand oder Falsche Bescheidenheit

Kleiner Essay als Einleitung für ein großes Buch Hans-Helmut Decker-Voigt

Leiborientierte Musiktherapie – ein Brückenschlag

„Leiborientierte Musiktherapie“ schildert dies Buch. Eine neue Methodenbezeichnung?

Ist damit das Rad (der Musiktherapie) – wieder einmal neu erfunden? Eine neue, weitere der mindestens zwölf „Schulen der Musiktherapie“, wie sie sich gegenwärtig allein im deutschsprachigen Bereich zeigen? Auf dem mühsamen Weg zu einem einigermaßen gemeinsamen Profil gegenüber dem Arbeitgeber Gesundheitswesen?

Dann wäre dieses neue Rad eines, das den Weg der Musiktherapie hin zu einem selbstständigen Heilberuf im Gesundheitswesen der Zukunft eher mühsamer werden ließe, zum Bremsweg, denn als Erleichterung auf diesem Weg.

Ein solches Rad ist sie nicht, diese in diesem Buch vorgestellte leiborientierte Musiktherapie, bei der nur die Begrifflichkeit vielleicht für manche musiktherapeutisch Informierte oder Profis neu sein mag.

Was die Autoren hinter dem Reichtum ihrer Praxismodelle an Menschenbild und Theoriebildung schildern (ab Kapitel 19) ist mehr als nur ein Verwandter 1. Grades „der“ Musiktherapieszene. Denn tiefenpsychologisch-phänomenologisches Empfinden, Wahrnehmen, Denken und therapeutisches Handeln sind Udo Baer und Gabriele Frick-Baer ebenso „eigen“ wie den meisten der ausgebildeten Musiktherapeuten. Zu denen sich die beiden Autoren im respektvoll-bescheidenen Abstand halten, wenn sie hoffen, dass dieses Buch denen Anregungen geben kann, die mit Musik im psychotherapeutischen Prozess arbeiten. Darunter auch MusiktherapeutInnen.

Zuviel der Bescheidenheit. Ich kann für die Musiktherapie-Szene nur hoffen, dass dieses Buch ebenso positiv überraschte Leser findet – wie ich einer wurde, dem während des Arbeitens mit diesem Buch das deltahafte Gefühl geschenkt wurde, über den Tellerrand der im engeren Sinne musiktherapiespezifischen Fachveröffentlichungen hinausgucken zu können. Fachveröffentlichungen, die für das heutige Profil der Musiktherapie in Forschung und Lehre zwar existentiell wichtig waren und sind, die aber doch – wie in allen Fächern mit zu hohem Tellerrand – von einem ziemlich gleichbleibenden, manchmal inzestuös anmutenden Autorenkernkreis gespeist werden.

Es ist ein Opus magnus, ein großes Werk, was Udo Baer und Gabriele Frick-Baer hiermit der Fachöffentlichkeit vorstellen. Einmal quantitativ, weit mehr noch qualitativ, das die Vielfalt der Musiktherapien nicht anreichert, sondern vorhandene Distanzen zwischen bestehenden Musiktherapien verringern hilft. Besonders die Distanz zwischen den Musiktherapien, die vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, der Verhaltenstherapie und der Humanistischen Psychologie gewachsen sind.

Ein Methoden-Schatz und wie er zu heben ist

Methodisch finden Leser, die ohnehin mit aktiver Improvisation oder mit rezeptiven Verfahren der Musiktherapie arbeiten, einen Schatz von weiterführenden oder überraschenden Praxismodellen vor, die in bestehendes Methodenrepertoire integriert werden können.

Beispiele, die ich als Erweiterung, Veränderung, Varianten bestehender musiktherapeutischer Praxismodelle (etwa die von Fritz Hegi, Isabelle Frohne-Hagemann und von mir, s. Literaturverzeichnis) sehe:

 das Arbeiten mit der musikalischen Biografie des Klienten (Panorama-Arbeit) in Kap. 2 („Musikalische Biografie“) oder

 das Arbeiten mit musikalischen Familien- und anderen Aufstellungen unter systemischen Aspekten (wie sie sich ohnehin durch das Buch durchziehen) in Kap. 7 („Familien- und andere Beziehungsstrukturen“)

 das Arbeiten mit Affekten in Kap. 4 („Affektive Leibregungen“). Hier ist für den Leser nur die Akzeptanz der leibphilosophisch begründeten therapeutischen Terminologie nötig, um dahinter vertraute entwicklungspsychologische Begründungen nach Daniel Stern u.a. zu finden. Also „wie bei uns zu haus“ (in der klinischen Musiktherapie). Nur mit dem Vorzug des Überschreitens des Tellerrands

 das Arbeiten mit Körperklängen, Körperbildern in Kap. 8 oder

 das Arbeiten mit musikalischen Dialogen in Kap. 10.

Beispiele, die ich als neue „Module“ sehe, die im Musiktherapie-Methodenrepertoire ausgezeichnet integrierbar sind:

 Das Arbeiten mit den Leibbewegungen des Körpers und der Musik in Kap. 3 (Leibbewegungen in der Musiktherapie) oder

 das Arbeiten mit dem „Musikalischen Verraumen“ in Kap. 6 (hocheffizient: „Die Schamsonate“ und „Andere Dreier-Formen“ für das posttraumatologische Arbeiten z. B. in dem wachsenden Bereich der Musiktherapie bei sexuellem Missbrauch oder z. B. in dem Bereich der Frühstörungen durch entgleiste Triangulierungserfahrungen).

Die Bezugsetzung der Musiktherapie zu bestimmter Klientel ist eine gute Reflexion (Kap. 18) und selbst „Banales“ (Kap. 6.3.1) – als solches betitelt – ist es in diesem Buch nicht.

Basismedizinische und neurologische Sicherheiten vermittelt dieses Werk auch durch klare Informationsbündelungen (ab Kapitel 19) – mehr als sie in manchen der „biochemisch-reinen“ analytischen Musiktherapien zu finden sind. Leider.

Wenn ich die Fülle von Praxismodellen dieses Buches hervorhebe, dann heißt dies: Kein Rezept. Vielmehr der Auftrag an den Nutzer dieses Buches, die von den Autoren geschilderten methodischen Schritte auf den eigenen Praxisrahmen zu beziehen, zu modifizieren, auf die eigene Klientel, die eigenen Patienten zu spezifizieren. Es gibt keine pädagogischen oder therapeutischen Spielmodelle für unveränderten Transfer, sondern immer nur die achtsame, sorgfältige neue Bezugsetzung zum neuen Menschen als Gegenüber in der Einzeltherapie oder der Gruppe.

Ein persönliches Buch, eines, das per-soniert

Das Menschenbild dieser therapeutischen Praxeologie ist nicht nur in den geschriebenen Worten dieses Buches geprägt vom Geist der Humanistischen Psychologie. Vielmehr beeindruckt mich, wie die therapeutischen Begegnungen mit Klienten und Patienten in den zahlreichen Fallvignetten dieses Buches wirklich als „Begegnung“ abstrahlen und den Leser in diese Begegnungen hineinnehmen – im Sinne der „Begegnung“ Martin Bubers oder der gelingenden „Kontaktgestaltung“ im Sinne von Fritz Perls.

Das Buch wärmt und lässt sicher nicht nur mich „die Überraschung“ im Abenteuer des therapeutischen Prozesses mit dem künstlerisch-therapeutischen Medium Musik ebenso miterleben wie die behutsame – von therapeutischem Eros geprägte – Compliance in Einzeltherapien wie in Gruppen.

Hinter diesem Buch stehen die Biographien der beiden Autoren, die mir auffallen, weil sie beide eine besondere Kompetenz für Brückenschläge, für interdisziplinäres Denken und Handeln ausweisen: Von den Diplom-Studiengängen in Erziehungswissenschaft und entsprechender Praxis wanderten und trafen die Autoren sich im intermodalen therapeutischen Umgang mit Tanz, Bewegung, Musik, eingebunden in das therapeutische Gespräch.

Diese Art ihres Umgangs mit den Medien erscheint mir gleichermaßen als Zentrum und Rahmen für die heutige psychotherapeutische Praxis von Udo und Gabriele Frick-Baer und die von ihnen entwickelten Weiter- und Ausbildungsgänge innerhalb ihrer „Zukunftswerkstatt“ sowie in ihren bisherigen Veröffentlichungen (s. Info-Seiten des Verlages am Schluss).

Wem gehört die Musiktherapie?

Angesichts des Reichtums in diesem Werk über die „Leiborientierte Musiktherapie“ stellte sich mir neu die Frage nach dem „Besitz“ der Musiktherapie, wem gehört sie?

Die laute Frage war in den 70er und 80er Jahren noch die zwischen Medizinern einerseits und Musiktherapeuten andererseits. Inzwischen ist diese Frage durch die Entwicklung der Musik als Künstlerische Psychotherapie einerseits und als Musikmedizin (Musik im schulmedizinischen Behandlungskonzept) andererseits friedbringend und kooperativ beantwortet worden.

Dafür tauchte später dieselbe Frage auf zwischen Musiktherapie und Sozialpädagogik. Im Kontext der Sozialpädagogik, der die Klientel von Udo Baer und Gabriele Frick-Baer häufig entstammt, fanden die frühesten Lehrveranstaltungen für Musiktherapie an den neugegründeten Fachhochschulen ab 1971 statt. Denen erst folgten eigenständige Studiengangsgründungen in Heidelberg und Hamburg.

Vor diesem Hintergrund wundert es mich nicht, dass mit der Leiborientierten Musiktherapie in aller Stille und seitab der offiziellen Musiktherapie-Mainstreams eine Akzentuierung entwickelt wurde und hier vorgestellt wird, die vom Menschenbild und dem Methoden-Pluralismus her ihre Wurzeln in diesen frühen Jahren der Musiktherapie findet, in welcher Musiktherapie noch von der Dyade „Psychotherapeutisches Denken – Sozialpädagogisches Denken“ gespeist wurde.

Ich denke nicht, dass die „Leiborientierte Musiktherapie“ einen eigenen Weg gehen sollte und wird. Das will sie auch nicht, wie ich die Autoren verstehe. Aber sie trägt zu einem Ziel bei, das nicht nur ich mir für die Musiktherapie der Gegenwart für die Zukunft wünsche: Dass Musiktherapie-Wissen und Musiktherapie-Praxishilfen eines Tages ähnlich selbstverständliche Bestandteile aller Gesundheitsberufe sind, wie es heutzutage beispielsweise „die Psychologie“ ist. In den frühen Jahren der Profilierungsnöte von Tiefen-Psychologie, Wahrnehmungspsychologie, Entwicklungspsychologie und Klinischer Psychologie achteten diese peinlich darauf, dass ihr Wissen ihr Wissen bleibe. Manche Kompetenz blieb so „Herrschaftswissen“. Teilweise angemessen und richtig, weil auch die Fächer, ihre Menschenbilder, ihre Theorien sich erst bilden und stabilisieren mussten.

Heute ist es für jede Ausbildung als Erzieherin, als Ergotherapeutin, als Ärztin und Pädagogin, also in jedem Interaktionsberuf, selbstverständlich, dass psychologisches Wissen mit vermittelt wird – ohne sich mit Psychologen verwechseln zu wollen und zu dürfen.

Dieses wünsche ich mir auch für Musiktherapie-Wissen und bestimmte Praxis-Anwendungen: Eingang zu finden in alle Ausbildungen und Weiterbildungen, in denen es um die Begleitung von Menschen geht.

Einige Musiktherapeuten kultivieren und präsentieren ihr Wissen heutzutage – immer noch – aus dem Elfenbeinturm heraus.

Natürlich müssen wir darauf achten, das berufspolitische Profil der Musiktherapeuten sorgsam zu hüten und weiter zu schärfen, indem Musiktherapie nicht inflationiert.

Aber ein Buch wie dieses zeigt mir, wie bereichernd, wie konstruktiv Musiktherapie-Wissen und Musiktherapie-Praxis wachsen können – außerhalb der enggefassten klinisch verstandenen Musiktherapie und als Beitrag für sie.

Eines Tages werden wir Musiktherapie dank der professionellen Musiktherapeuten und dank Menschen wie Udo Baer und Gabriele Frick-Baer als selbstverständliches Wissen in hoffentlich vielen anderen Interaktionsberufen finden. In denen, die sich die Prägung und Entwicklung und Begleitung menschlicher Persönlichkeit nicht ohne Musik und ihre therapeutische Wirkung vorstellen können.

Diese jetzt vorliegende „Leiborientierte Musiktherapie“ wird hoffentlich von vielen Musiktherapeuten gewürdigt – ganz sicher auch und hoffentlich durch konstruktive Kritik in Rezensionen und Diskussionen. Kritik, die in diesem Essay nicht sinnvoll platziert ist, weil er dieses Buch „wärmstens empfiehlt“. Nicht als neuerfundenes Rad, nicht als Non-plus-ultra, nicht als bremsendes fünftes Rad am Wagen der Musiktherapie. Sondern als Rad, das das Rollen des Wagens stabilisieren hilft, flexibler sein lässt.

Eben – über den Rand hinaus. Nicht des Tellers, sondern der Welt der Musiktherapie, die für manche eben doch noch eine Scheibe ist.

Hans-Helmut Decker-Voigt, Prof. Dr., ist Direktor des Instituts für Musiktherapie der Hochschule für Musik und Theater, Präsident der Akademie für Weiterbildung in Musiktherapie und künstlerischer Psychotherapie der Herbert von Karajan-Stiftung Berlin und Verfasser zahlreicher, in sieben Sprachen übersetzter Standardwerke zur Musiktherapie und zur Wechselbeziehung von Mensch und Musik.

www.decker-voigt-archiv.de

Klingen, um in sich zu wohnen 1

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