Читать книгу Klingen, um in sich zu wohnen 1 - Gabriele Frick-Baer, Udo Baer - Страница 15
2 Die musikalische Biografie
ОглавлениеWenn ein Mensch musiziert, fängt er nie am Nullpunkt an – immer schon sind musikalische Erfahrungen vorhanden. Wenn ein Mensch ein Lied hört, ist dies nie die erste Musik für seine Ohren – immer gab es schon vorher Klänge. Jedes Tönen und jedes Musikhören hat eine Geschichte: Schon unmittelbar nach der Geburt geben die Neugeborenen ihre ersten Töne von sich, schon im Mutterleib hören die Menschen die Herztöne der Mutter und viele andere Geräusche des Mutterleibes und der Umgebung. Und in der späteren Kindheit und Jugend wachsen die Erfahrungen mit Klängen, mit eigenen und fremden, verbalen und nonverbalen. Es entwickelt sich ein Ensemble musikalischer (Vor-) Erfahrungen, das bei jeder Person einzigartig ist. Wir nennen es musikalische Biografie.
In der therapeutischen Praxis und im Alltagsgeschehen begegnet uns diese Geschichte, die musikalische Biografie, manchmal unverhofft und überraschend. Da ist der Klang der Stimme am Nachbartisch, der in uns heftige Reaktionen hervorruft: „Wenn ich diese Stimme höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.“ Da hört das Ehepaar auf der Urlaubsfahrt mitten im Palaver mit den Kindern auf dem Rücksitz plötzlich im Radio ein Lied – „Unser Lied!“ – und schon ändert sich die Atmosphäre. Da findet die Frau beim Umsortieren der CDs die Aufnahmen von Joan Armatrading, deren Stücke in den ersten Wochen nach ihrer Trennung vom Ehemann ununterbrochen liefen. Oder da hört der Vater, als er sein Kind im Kindergarten abholt, das Kinderlied, das sein früh verstorbener Vater immer mit ihm gesungen hat, und wird überwältigt von Trauer. Dass musikalische Biografie in jedem Menschen existiert und dass sie eine Wirkung im Alltag haben kann bzw. hat, ist keine Erfindung der MusiktherapeutInnen, sondern Lebenserfahrung. MusiktherapeutInnen können sich diese Erfahrung zu Nutze machen.
Für MusiktherapeutInnen ist zuerst einmal wichtig zu wissen, dass sie selbst und ihre KlientInnen eine musikalische Biografie haben. Daraus können sie die Sicherheit und das Selbstbewusstsein ziehen, dass Musiktherapie bei ihnen und bei anderen einen Boden hat, etwas, woran sie anknüpfen können. Die eigene musikalische Biografie zu kennen und die der KlientInnen kennen zu lernen, ermöglicht Zugänge zu Mustern und Zugänge zu Wegen der Veränderung (s. a. Frohne-Hagemann, 2001, S.175ff). Einige der Möglichkeiten und Aspekte, mit denen musiktherapeutisch auf die musikalische Biografie Bezug genommen und mit ihr gearbeitet werden kann, möchten wir im Folgenden beleuchten.