Читать книгу Klingen, um in sich zu wohnen 1 - Gabriele Frick-Baer, Udo Baer - Страница 13
1.4 Die eigene Stimme als Zugang zum Ich
ОглавлениеSchon im vorherigen Kapitel haben wir auf die Bedeutung der eigenen Stimme im Erleben der Menschen hingewiesen. Jede Stimmung beeinflusst meine Stimme. Mit meiner Stimme kann ich Stimmungen erzeugen. Die Stimme kann ein mehr oder weniger von meinem Erleben entfremdetes Organ der Artikulation von Worten und Sätzen sein. Sie kann aber auch Ausdruck meiner Persönlichkeit sein, mein inneres Erleben zum Ausdruck bringen und Brücken zwischen meinem inneren Erleben und anderen Menschen bilden. In der Beschäftigung mit der Stimme gilt das Interesse unserer therapeutischen Arbeit einem besonderen Phänomen, das wir „die eigene Stimme“ nennen. Oberflächlich betrachtet hat jeder Mensch eine eigene Stimme, welche denn sonst. Stimme ist aber immer auch Reaktion auf andere, ist lebensgeschichtlich „eingefärbt“ und kann vom eigenen Erleben entfremdet sein. Man kann „mit fremden Zungen“, mit anderer Menschen Stimmlage sprechen, anderen „nach dem Wort reden“, die eigene Stimme kann verstummen und nur noch oberflächlich daher plappern. Der Schlüssel zur eigenen Stimme ist das Wort eigene: Was gehört wirklich zu mir? Was ist mein eigenes Erleben? Was ist meine eigene Persönlichkeit? Was kommt eigensinnig aus mir heraus? Der Eigensinn ist der Sinn für das Eigene, für das Besondere, für das Persönliche und Unverwechselbare eines jeden Menschen, Gegenteil von Konformität, Dressur und Anpassung. Eigensinn muss sich nicht über andere Menschen erheben, im Gegenteil: Menschen, die einen Sinn für das Eigene haben und dieses zum Ausdruck bringen, können sich – so unsere Erfahrung – leichter und nachhaltiger begegnen und sich dabei gegenseitig Respekt erweisen. (s. a. Baer/Frick-Baer 2003a)
Wer eigensinnig ist, kann auch eigenstimmig werden, die eigene Stimme suchen und finden. Die Arbeit an der eigenen Stimme soll dazu verhelfen, das Besondere, das Eigene erklingen zu lassen, das bei vielen Menschen, bei vielen KlientInnen, verstummt ist, weil es zu wenig gehört bzw. unterdrückt oder mit Beschämung und Verachtung bestraft wurde.
Die Entwicklung der eigenen Stimme ist nie abgeschlossen. Sie befindet sich wie die Persönlichkeit des Menschen in Bewegung. Infolgedessen wird auch die eigene Stimme sich verändern und immer wieder anders erklingen.
Wir bitten KlientInnen, ihre eigene Stimme ertönen zu lassen. Häufig bereiten wir dies vor, z. B. durch Wege vom Atmen zur Stimme, die wir an anderer Stelle beschrieben haben (s. Kap. 12).
Dann bitten wir:
„Nehmt euch einige Minuten Zeit und probiert, eure eigene, ganz persönliche Stimme erklingen zu lassen. Ganz gleich, ob ihr eine Liedzeile singt oder Lalala – sucht den Klang, der jetzt eurer Persönlichkeit und eurem aktuellen Empfinden entspricht.“ Wenn KlientInnen die eigene Stimme ertönen lassen, fragen wir fast immer: „Wie hört sich deine eigene Stimme für dich an?“ Fast nie haben wir erlebt, dass die eigene Stimme selbstverständlich war, auch nicht bei geübten oder ausgebildeten SängerInnen. Immer war es aufregend, die eigene Stimme zu hören. Immer waren damit Wünsche verbunden, dass diese freier, lauter, leiser, kräftiger, verbundener oder sonst irgendwie anders werden solle. Immer, wenn KlientInnen aufmerksam ihrer eigenen Stimme lauschten, fanden sie darüber Zugänge zu wichtigen Aspekten des eigenen Erlebens. Da die Stimme klingender Atem ist und der Atem ein wunderbarer Zugang zum Wesentlichen des Erlebens eines Menschen, führt die Beschäftigung mit der eigenen Stimme immer auch zum Zentrum des aktuellen Erlebens.
Als zweiten Schritt bieten wir, wenn dies gewünscht wird, Hilfestellungen und Unterstützung an, die eigene Stimme mehr zur Entfaltung zu bringen. Für die KlientIn kann die Vorstellung verbunden sein, lauter oder leiser, kraftvoller oder zarter zu werden – wie auch immer, es gibt kein Richtig und Falsch, kein Gut und Schlecht, nur ein mehr oder weniger „Eigen“.
In diese Interventionen beziehen wir mehrere Komponenten ein, je nachdem, wie der Klient oder die Klientin das Erleben der eigenen Stimme beschreibt, welche Wünsche er oder sie äußert und welche Ideen sich aus unserer Wahrnehmung und Resonanz ergeben:
Eine wichtige Komponente ist Bewegung. Manche KlientInnen sind es gewohnt, beim Ertönen der eigenen Stimme starr und steif zu werden. Für andere ist es so aufregend, die eigene Stimme hörbar zu machen, dass sie sich und ihre Stimme in der Aufregung festhalten und damit einzwängen. Wir schlagen dann z. B. vor: „Singe bitte die eigene Stimme noch einmal, aber remple dabei jemand anderen mit der Hüfte an.“ Oder: „Singe bitte noch einmal und geh’ währenddessen durch den Raum.“
Manchmal wirken KlientInnen, wenn sie die eigene Stimme ertönen lassen, einsam oder strahlen aus, dass sie eine andere Umgebung oder einen sozialen Kontakt brauchen. Wir sprechen dies an und fragen danach. Wenn diese Vermutung bestätigt wird, schlagen wir vor, die soziale Komponente der eigenen Stimme zu ändern bzw. mehr zum Ausdruck zu bringen. Wir fordern zum Beispiel die Klientin oder den Klienten auf, den Therapeuten oder die Therapeutin oder ein Gruppenmitglied anzusingen. Manchmal gewinnt die Stimme dabei an Eigenheit, wenn sie von einem oder einer anderen stimmliche Resonanz erfährt und in einen stimmlichen Dialog geht. Einer Klientin schlugen wir vor, sich vier Personen aus einer Gruppe auszusuchen, die sich mit den Armen verschränkt hinter sie stellten und sich so als „Sofa“ anboten, in das sich die Klientin singend legen konnte. Andere wurden gebeten, die eigene Stimme zu singen und aus dem Singen heraus klangliche und/oder Bewegungs-Impulse zur Gruppe hin entstehen zu lassen. Manchmal reichte dann schon der bewusste Augenkontakt, ein Augenblinzeln oder Fingerschnippen, damit sich die Stimme entsprechend veränderte.
Häufig arbeiten wir mit den Leibbewegungen (s. Kap. 3 und Kap. 20). Ein Klient veränderte seine eigene Stimme, indem er beim Ausatmen und Ertönenlassen des Atems kräftig auf den Boden auftrat und damit der Leibbewegung nach unten folgte. Eine anderen Klientin schickte ihre Stimme himmelwärts. Wieder andere brauchten rechts und links Unterstützung oder bedurften der Rückendeckung, indem sie sich an die Therapeutin anlehnten. Eine Klientin empfand z. B. eine Enge im Hals, die Therapeutin bot sich als ihr Katzenkratzbaum an, an dem sich die Klientin singend rieb. Es entstand ein Rücken-an-Rücken-Tanz, der Hals- und Schulterbereich lockerte und der eigenen Stimme zu freierer Entfaltung verhalf. Zu den Leibbewegungen gehört auch das Gerichtetsein. Ein Klient stand dem Therapeuten gegenüber, schickte die Stimme in seine Richtung. Diese verhallte aber im Umkreis von einem Meter um den Klienten herum. Sie war für den Therapeuten hörbar, erreichte ihn aber nicht in seinem Erleben. Als der Therapeut ihm dies sagte, konnte der Klient versuchen, die Stimme gezielter in Richtung des Therapeuten zu senden. Die Stimme wurde von ihm immer weiter geschickt, bis sie den Therapeuten erreichte, was dieser zurück meldete. In diesem Prozess wurde die Stimme voller und deutlicher, der Klient war hör- und erlebbar. Viele Menschen, deren Töne für die Umgebung früher nicht interessant waren, haben es sich angewöhnt, wenn sie schon ihre eigene Stimme ertönen lassen, dies nur für sich zu tun, ohne andere erreichen zu wollen oder zu können.
Auch die Arbeit mit den primären Leibbewegungen Schauen, Tönen, Drücken, Lehnen und Greifen (s. Kap. 20.5) ist häufig sinnvoll. Die eigene Stimme kann sich verändern, kann z. B. voller oder herzhafter werden, wenn Menschen einen Gegenstand in die Hand nehmen oder nach einer anderen Person greifen. Das Sich-Anlehnen an andere haben wir schon erwähnt, auch den Blickkontakt, die Leibbewegung des Schauens.
Das Erleben der eigenen Stimme hat immer auch räumliche Aspekte, greift in den Raum hinein, schafft Bedeutungen für Räume bzw. nutzt deren Bedeutungen. Wenn die eigene Stimme unsicher, irritiert oder verloren erklingt, kann es sinnvoll sein, mit der Klientin oder dem Klienten einen geschützten Raum zu schaffen, den sie zum Beispiel mit Decken, Kissen oder Seilen gestaltet. Anschließend kann der Therapeut oder die Therapeutin die Klientin oder den Klienten bitten, dort hinzugehen und noch einmal ihre eigene Stimme erklingen zu lassen. Sie wird sich verändern.
Häufig werden in der Arbeit mit der eigenen Stimme Szenen lebendig. Wird z. B. eine Klientin gefragt, wo denn diese Stimme ertönen könnte, die sie gerade singt und hört, mag sie sagen „im Wohnzimmer“ oder „in der Disco“ oder „auf dem Wochenmarkt“ oder „im Konzert“ … Vielleicht auch: „hinter dem Vorhang in der Ecke“, wenn sie sich vor Menschen versteckt, die ihr Böses wollen. Häufig entstehen solche Szenen. Wenn sie bewusst werden, kann man sie aufgreifen und gegebenenfalls verändern. Manchmal schlagen wir als Therapeut oder Therapeutin auch Szenen vor: „Stell dir vor, du gehst mit deiner eigenen Stimme singend in einen Raum hinein, in dem du freudig erwartet wirst. Du kommst hinein und die Leute begrüßen dich, lächeln dir zu und beklatschen dich …“ Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Die Szenen, die beim Singen der eigenen Stimme im Erleben der KlientInnen lebendig werden, stehen häufig im Bezug zu ihrer eigenen Geschichte. Bei Menschen, die im Ausland leben oder ihre eigenen Dialekte verloren haben, ist es häufig einen Versuch wert, die eigene Stimme in der Muttersprache, in der Sprache der Zeit, als ihre eigene Stimme zum ersten Mal als Säugling und Kleinkind erklang, singen zu lassen. Manchmal fühlen sich KlientInnen wie ein kleiner Junge oder wie ein junges Mädchen. Wenn sie ihre eigene Stimme singen, ist es hilfreich zu fragen: „Was hast du in dieser Zeit gern getan?“ oder „Was haben Sie damals beim Spielen gesungen?“, um dann im Sinne der Biografiearbeit diese Szene wieder auferstehen zu lassen. Der eigenen Stimme kann so eine Chance gegeben werden, wieder an das Alter der Jugend oder der Kindheit anzuknüpfen, nachdem sie verstummt ist oder zum Verstummen gebracht wurde.
Auch eine örtliche Veränderung kann Teil eines Szenenwechsels sein. Wir schlagen z. B. vor: „Bitte lassen Sie Ihre eigene Stimme noch einmal ertönen, aber diesmal, indem Sie auf einem Stuhl stehen.“ Und schon ändern sich die Szene und das Erleben der Klientin oder des Klienten. Solche Vorschläge brauchen, wie die Stimmarbeit überhaupt, einen vertrauensvollen Boden.
Auch körperliche Veränderungen können die eigene Stimme prägnanter, „eigener“ werden lassen. Wir schlagen z. B. vor, die Beine etwas weiter auseinander zu stellen oder die Schultern mehr zurückzunehmen. Wir fragen, ob wir beim nächsten Durchgang eine Hand auf den Nacken legen dürfen oder schlagen ähnliche Berührungen bzw. körperliche Veränderungen vor.
Da die Arbeit an der eigenen Stimme so nachhaltig wirkt, möchten wir Ihnen noch drei Situationen aus einer Gruppenarbeit mit therapeutischen Interventionen, die mehrere der genannten Aspekte beinhalten, schildern:
Eine zartgliedrige, schmale Frau mit geübter, kräftiger und klarer Stimme spürt diese Kraft und Klarheit im ganzen Körper – außer in ihren Armen, die sie wie leblos und als nicht zugehörig zu sich erlebt. Sie wirkt auf die Therapeutin deshalb auch ein wenig wie ein etwa 12- oder 13-jähriges Mädchen, das im Singen lebt, aber mit seiner Stimme nicht wirklich bei einem Gegenüber „landet“: ein wenig einsam, resigniert und ungeschützt dem fehlenden Echo ausgeliefert. Die Therapeutin schlägt deshalb vor: „Nimm irgendetwas in die Arme, was du dir vor deinen Oberkörper halten kannst. Und stell dir vor, du bist z. B. Montserrat Caballé.“
Die Klientin greift zu einem großen Teddybären, den sie mit dem Gesicht nach vorne vor ihren Bauch hält. „Und nun schaffe dir bitte eine Bühne. Wo ist dein Publikum?“ Nachdem die Klientin sorgfältig ihre Umgebung gestaltet, die Bühne bestimmt und die Gruppe auf ihre Plätze gewiesen hat, singt sie mit dem Teddy vor dem Bauch mit solch beeindruckender Ausdruckskraft, dass die Gruppe standing ovations gibt und begeistert ein Da-capo verlangt. Endlich hat die Stimme der Klientin die Wertschätzung und Würdigung erfahren, die ihr gebührt.
Eine andere Frau, die ebenfalls ihre Stimme sehr kräftig hört und damit eigentlich sehr zufrieden ist, stellt fest, dass ihr nach dem Tönen die Halsmuskeln vor lauter Anspannung weh tun. Der Therapeutin ist aufgefallen, dass die Klientin beim Singen den Blick leicht nach oben richtete und dabei offensichtlich den Hals überstreckte, während gleichzeitig ihr Rückenbereich und der Raum hinter ihr merkwürdig unbelebt erschien. Deshalb der Vorschlag, in den zum einen die Leibbewegungskategorien oben – unten (s. Kap. 3.2.4) und hinten – vorne (s. Kap. 3.2.1) einfließen sowie das Wissen darum, dass die Klientin kompetent darin ist, anderen Menschen afrikanisches Trommeln zu lehren: „Was hältst du davon, Menschen aus dieser Gruppe hinter dir zu sammeln und mit ihnen einen rituellen Tanz, begleitet und angefeuert von deiner Stimme, zu machen zum Thema: ‚Ich beschwöre die Geister des Himmels und die Geister der Erde’?“
Dieser Versuch verhilft der Klientin zu einer Erfahrung und Erkenntnis darüber, was sie braucht, um entspannt und kräftig, eben eigen, zu erklingen.
Eine dritte Gruppenteilnehmerin holt sich einen großen Stoff-Löwen aus dem Regal, bevor sie ihre eigene Stimme, die sie sonst nur ganz für sich allein erklingen lässt, den anderen GruppenteilnehmerInnen zu Gehör bringt: „Ich brauche den Löwen des Mutes.“ Sie schließt die Augen und tönt. Die Therapeutin: „Ich weiß, dass das Wichtigste bereits passiert ist, nämlich, dass du deine Stimme hast hörbar werden lassen, dass du deinen Weg gefunden hast, durch Scheu und Scham hindurch. Daran gibt’s meiner Meinung nach nichts zu verändern, oder? Wenn du dennoch jetzt hier noch etwas ausprobieren möchtest, dann suche dir doch eine Person, die du anschauen kannst, um mit ihr oder durch sie Mut zu schöpfen. Gibt es so einen Menschen hier, der dich mit seinem Blick unterstützen kann?“ Die Klientin weiß sofort, wen sie für diesen Versuch wählen mag und ist zufrieden und erleichtert, erleben zu können, dass sie Mut nicht immer nur aus sich allein heraus schöpfen muss – eine Erfahrung, die sie für ihr Alltagsleben generalisieren kann und will.
Alle diese Interventionen sind Vorschläge und Angebote. Nie weiß die Therapeutin, der Therapeut den einen „richtigen“ Weg, die Stimme „eigenstimmiger“ erklingen zu lassen. Immer gilt es, an Hand der beschriebenen Anhaltspunkte ein Experiment vorzuschlagen, zu dem die Klientin, der Klient Nein sagen kann oder in dem er bzw. sie die eigene Stimme erproben kann.