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The Village, Hell’s Kitchen Island, Maine,

12. März 2007, 16.35 Uhr (Montag)

Hell’s End, die einzige Bar in der einzigen Ortschaft von Hell’s Kitchen Island, hieß deshalb Hell’s End, weil sie tatsächlich am nördlichsten Ende von The Village lag. Dabei hatte die kleine Bar nicht das Geringste mit der Hölle zu tun, ganz im Gegenteil. Für die Bewohner von Hell’s Kitchen Island war sie so etwas wie eine Zuflucht, um zumindest für eine Weile dem kargen und windgepeitschten Leben auf der Insel vor der Küste von Maine zu entfliehen. Hier versammelten sich die Einwohner des Dorfes am Südufer des Hell’s Cove, um miteinander zu reden, ein paar Pint zu trinken und ihre abgeschlossene Gemeinschaft zu pflegen. Denn das Festland war beinahe zwanzig Meilen entfernt.

Hell’s Kitchen, inmitten des Golfs von Maine, war eine von beinahe fünfhundert Inseln, die sich um die Küste des Bundesstaates schmiegten, wie die Perlen einer Kette um den Hals einer wunderschönen Frau. Rund vier Dutzend Menschen lebten hier. Einige im Dorf, das den einfallslosen Namen The Village trug, andere auf den grasbewachsenen Hochebenen des Verdana Uplands oder der Steilküste am Western Peak. Früher, als die Atlantic Seafood Inc. noch existierte und frischer Meeresfisch in den großen und mittlerweile maroden Hallen am New Haven zerteilt, ausgenommen und filetiert wurde, lebten auf der Insel beinahe dreimal so viele Menschen wie heute. Doch das war Jahre her, und nur der verblasste, bläulich schimmernde Schriftzug an den verfallenen Mauern der Fabrikhallen erinnerte noch an die Zeit, als auf Hell’s Kitchen Island die Fangschiffe der nördlichen Atlantikflotte ihre Ladung löschten.

Neunundvierzig Bewohner waren in dem Melderegister der Insel im Village verzeichnet. Dazu kamen noch die vier Mönche, die das alte Kloster Saint Benedictus am Violent Beach im Norden bewohnten. Jedoch grasten beinahe dreitausend Schafe auf der Hochebene des Verdana Uplands. Zwei Familien beherrschten seit Generationen schon das Grasland im Osten bis zu den steilen Felsen des Northern Face. Die Breeds, auf Peterson Grange im Norden, waren sehr gläubige Menschen. Eine Großfamilie, die vor zweihundert Jahren aus England nach Amerika ausgewandert war und dem Quäkertum angehörte. Im Südosten lebten die Bratts, die auf der Sunlight Grange residierten und ebenfalls seit mehreren Generationen Schafe züchteten. Niemand wusste genau, wo der Ursprung der Familienfehde zwischen den beiden Schäferdynastien lag und wie lange die Feindschaft der Familien bereits andauerte, doch wusste jedermann auf dieser Insel, dass sich die Breeds und die Bratts nicht ausstehen konnten.

Zu den Stammgästen im Hell’s End gehörte Kenny Logan, der den einzigen Laden auf der Insel betrieb, in dem man von Lebensmitteln über Stoffe, Nadel und Faden bis hin zu Pastellfarben und Pinseln alles erwerben konnte, was rechtzeitig bestellt worden war. Als er sich gerade an der Theke zwischen den beiden Fischern Henry Phelps und William Evans niedergelassen hatte und sehnsüchtig auf sein Bier wartete, das Mia Honeywell, die Betreiberin der Bar, für ihn zapfte, flog die Tür auf. Ein Schwall Regen, durchsetzt vom eisigen Windhauch des seit Tagen tobenden Sturms, drang zusammen mit dem alten Joshua Breed in die mollige, warme Idylle aus dunklem Eichenholz. Joshua Breed schob mit seinen Stiefeln die Tür zu, nahm seinen Südwester ab und schüttelte das Wasser achtlos auf die hölzernen, dunklen Bohlen des Fußbodens.

»Hier sitzt er und hält Maulaffen feil, während die Rattenbrut der Bratts die gesamte Insel verwüstet«, polterte der alte Breed los, trat an den Tresen heran und warf dem verblüfft dreinschauenden Kenny Logan eine Kette vor die Füße.

Logan sprang erschrocken von seinem Stuhl auf und starrte auf die metallenen Glieder, von denen eines in der Mitte aufgesägt war.

»Was soll das, Josh!«, maßregelte Mia Honeywell den triefenden Gast.

»Seit Stunden bin ich auf der Suche nach ihm«, versetzte Joshua Breed und zielte mit seinem nassen Zeigefinger auf Logan, als wolle er ihn damit durchbohren. »Das ist ihr Werk. Nichts ist ihnen heilig, an allem vergreifen sie sich, diese Ratten und ihre dahergelaufenen Vagabunden.«

Kenny Logan, der vor zwei Jahren von den Bewohnern zum Master of the Island gewählt worden war, was in etwa dem Amt eines Bürgermeisters entsprach, bückte sich und hob die nasse und kalte Kette auf. Eingehend betrachtete er das aufgesägte Glied. »Ich habe dir schon ein paar Mal erklärt, dass die Schutzhütten auf dem Verdana Upland für alle Schäfer zugänglich sind. Für deine Jungs ebenso wie für die der Bratts. Du hast kein Recht, die Hütten mit einer Kette zu verschließen.«

»Ich habe die Hütte am Sandfort mit eigenen Händen wieder aufgebaut, nachdem sie der Wind im letzten Jahr umgerissen hat«, protestierte Joshua Breed lauthals. »Und da soll ich kein Recht haben, mein Eigentum zu schützen?«

Logan warf die Kette auf den Tresen. »Ich bin der Master auf der Insel, und ich alleine übe hier die Polizeigewalt in Vertretung des Portland Police Department aus. Du hast kein Recht, die Schutzhütten für dich alleine zu beanspruchen. Diese Hütten wurden vor mehr als hundert Jahren erbaut und stehen jedem Schäfer offen, der auf der Ebene seine Schafe hütet und vor dem Wetter Zuflucht sucht. So ist es festgeschrieben in den Verordnungen. Die Hütten und die Weiden sind frei und stehen allen zu. Wenn ich noch einmal erfahre, dass du vor den Eingang eine Kette legst, dann werde ich ein Ordnungsgeld gegen dich verhängen.«

»Und was ist mit meinem Stall und mit der Scheune am Poundrell Spring?«, widersprach Joshua Breed. »Gehört das auch jedem hier auf der Insel, obwohl ich sie im Schweiße meines Angesichts mit meinem eigenen Holz erbaut habe?«

»Das ist etwas anderes.«

»Die Rattenbrut ist dort eingedrungen und hat den gesamten Boden umgegraben. Soll ich das etwa auch dulden?«

»Ich sagte doch, das ist etwas anderes und war außerdem im letzten Jahr. Ich habe den Täter noch nicht ermitteln können, es ist nicht sicher, dass es Otis oder seine Männer waren.«

»Hier an diesem Ort der Sünde bei Braten und Bier wirst du ihn auch niemals finden. Es war diese Rattenbrut, wer denn sonst. Ich will …«

Logan hob abwehrend die Hände. »Ich sagte, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Auch bei den Bratts wurde eingebrochen und in die Henderson-Villa ebenfalls. Dennoch hast du kein Recht, die Schutzhütten abzusperren. Wenn du das noch einmal tust, dann wird es dich eine Kleinigkeit kosten.«

»Ha, du willst mir drohen, das kannst du nicht. Jedermann hat das Recht in diesem Land, sein Eigentum zu schützen. Und du kannst mir dieses Anrecht nicht nehmen.«

Logan schüttelte den Kopf. »Ich bin der Master der Insel und der Richter in Yarmouth wird dir schon zeigen, welches Recht ich habe.«

Joshua Breed trat einen Schritt vor und griff nach seiner Kette. »Und ich habe dich nicht gewählt, weil du zu weich bist«, zischte er, ehe er seinen Südwester wieder aufsetzte und eilends hinaus in den Sturm verschwand.

Mia stellte das Bierglas vor Kenny Logan auf den Tresen. »Dieser verbohrte alte Mann«, bemerkte sie. »Führt sich auf wie die Axt im Walde.«

»Was ist denn überhaupt in ihn gefahren?«, fragte William Evans.

Logan zuckte mit der Schulter. »Ich sage euch, wenn ich gewusst hätte, auf was ich mich da einlasse, dann hätte ich mich nie zur Wahl gestellt. Gestern war Otis bei mir und beschwerte sich darüber, dass Josh die Schutzhütten auf dem Verdana Upland mit Ketten sichert, damit seine Jungs bei diesem Sauwetter draußen auf der Weide bleiben müssen. Ich habe ihm geraten, sie einfach aufzubrechen. Diese beiden Gipsköpfe werden sich wohl nie ändern.«

Henry Phelps grinste. »Die Breeds und die Bratts, die sind wie Feuer und Wasser. Und das wird immer so bleiben.«

Logan griff nach seinem Bier und nahm einen kräftigen Schluck. »Na ja«, seufzte er. »Wir können froh sein, dass sie sich nicht die Köpfe einschlagen. Aber komisch ist es schon. Ich möchte wirklich zu gerne wissen, wer damals in die Scheune und die Villa eingebrochen ist und warum er diese Löcher im Boden hinterließ.«

»Du hättest die Polizei aus Yarmouth holen sollen«, sagte Mia beiläufig, während sie ein gespültes Bierglas abtrocknete.

»Ich habe sie informiert, aber sie hatten kein Interesse«, entgegnete Logan. »Sie behaupteten, solange nichts weggekommen ist, liegt nur ein Hausfriedensbruch vor, und deswegen kommt kein Detective auf die Insel. Da muss schon bedeutend mehr passieren.«

Henry Phelps warf einen Dollar auf den Tresen und schaute auf die Uhr über den Spiegeln. »Es ist Zeit für mich«, sagte er.

»Was willst du tun?«, fragte Evans. »Dieser verdammte Sturm wird noch eine ganze Weile hier wüten, vor nächster Woche können wir nicht hinaus.« Wie zur Bestätigung erhellte ein Blitz die kleine Bar am Ende des Village. Der Donner grollte. »Im Radio wird in einer Stunde eine Krimilesung gesendet«, verabschiedete sich Phelps und warf seinen Mantel über. »Das will ich nicht versäumen. Ich liebe Krimis.«

Americana Motel, Old Orchad Beach, Maine,

12. März 2007, 17.40 Uhr (Montag)

Die Vorhänge in dem kleinen Apartment des Americana Motel in Old Orchad waren zugezogen und hielten das Licht der untergehenden Sonne draußen zurück. Die bedrückende Stille wurde durch die schweren Atemzüge von Wesley Tyler unterbrochen, der mit schmerzhaft verzerrtem Gesicht auf dem Bett lag und die Arme vor seinem muskulösen Bauch verschränkt hatte.

Tyler hatte bislang wenig Glück in seinem Leben. Er war kaum geboren, als sein Vater, der sich mehr schlecht als recht mit kleinen Diebereien und Einbrüchen über Wasser hielt, nach einem Einbruch in ein Juweliergeschäft von einer Polizeikugel getroffen wurde und mitten in einem Abfallcontainer zwischen matschigen Tomaten und verfaultem Obst sein Leben aushauchte. Kaum drei Jahre später, seine Mutter hatte ihm ein Dreirad zum Geburtstag geschenkt, wurde ihm eine abschüssige Straße zum Verhängnis, die ihn direkt unter die Hinterachse eines Kleinlasters führte. Mehrere Knochenbrüche, einen Milzriss und einen Schädelbruch trug er von der Begegnung mit dem harten Stahl des Lasters davon, doch zumindest hatte er überlebt. Schlimm erging es ihm, als seine Mutter einen wesentlich älteren Mann kennenlernte und nur ein paar Wochen später ehelichte, denn der neue Vater hielt nicht viel von ihm und ließ ihn seine Abneigung auch deutlich spüren. Die Schule war ein notwendiges Übel, und so trieb er sich die meiste Zeit am Hafen und in der Stadt herum, anstatt die Schulbank zu drücken. Als er acht Jahre alt war, lernte er seinen drei Jahre älteren Stiefbruder kennen, der nach dem Tod der leiblichen Mutter vom Stiefvater ins Haus geholt wurde.

Mehr als einmal lief Wesley Tyler von zu Hause weg, doch immer wieder wurde er von der Polizei nach Hause gebracht, wo ihn sein Stiefvater windelweich prügelte und seine Mutter tatenlos zusah. Nur sein neu gewonnener und anfänglich mit Verachtung gestrafter Stiefbruder hielt in dieser Zeit zu ihm. Trotz der Freundschaft, die sich zwischen den beiden entwickelte, geriet Tyler auf die schiefe Bahn. Seine erste Haftstrafe saß er mit vierzehn in einer Besserungsanstalt ab, weil er bei einem nächtlichen Besuch in einem Supermarkt mit seinen Stiefeln in einem Sicherungsgitter eines Kellerschachtes hängen blieb und erst von den heraneilenden Polizeibeamten befreit werden konnte. Doch dabei sollte es nicht bleiben.

Am 19. Oktober 1987, Tyler war neunundzwanzig Jahre alt und hatte inzwischen sieben Jahre seines Lebens in verschiedenen Haftanstalten zugebracht, überfiel er in der Nähe von Duxbury nahe Boston zusammen mit mehreren Komplizen einen Goldtransport. Zunächst lief alles nach Plan, doch dann ging der Überfall gründlich schief. Zwei Wachmänner kamen dabei ums Leben, und an den Goldbarren im Wert von dreißig Millionen Dollar hatten er und seine Helfershelfer nur kurze Zeit Freude, denn zwei Wochen später klickten nahe Brunswick die Handschellen, und der Traum von einem Leben im Luxus irgendwo in der Karibik zerplatzte wie eine Seifenblase. Die Richter gingen nicht zimperlich mit ihm um. Zwei Tote und dreißig Millionen in Gold, die spurlos verschwunden waren, brachten ihm eine hohe Haftstrafe ein. Zwanzig Jahre verbrachte er im Zuchthaus von Cedar Junction, und nun, als er kurz vor seiner Entlassung stand, passierte dieser verdammte Unfall mit dem Gefängnisbus. Jetzt war er wieder vor der Polizei auf der Flucht, denn die anderen Mitgefangenen waren durchgedreht und hatten die Wachen einfach erschossen. Er wusste, dass ihm niemand geglaubt hätte, wäre er zurückgeblieben. Ein halbes Jahr, ein gottverdammtes halbes Jahr, und er hätte seine Strafe abgesessen und Cedar Junction als freier Mann verlassen können.

Diese infernalischen Schmerzen in seinem Bauch raubten ihm den Verstand. Wahrscheinlich waren mehrere Rippen gebrochen, und hätte Frank Duval, sein langjähriger Zellengenosse, ihn einfach an der Unfallstelle zurückgelassen, so würde er längst wieder in Cedar Junction sitzen und auf seinen neuen Prozess warten. Immerhin war er bei der Flucht und bei den Morden an den Wachmännern dabei gewesen. Und bei seiner Vergangenheit würde ihm niemand glauben, dass er unschuldig am Tod der Wachleute war.

Frank Duval war beinahe zwölf Jahre jünger als Tyler und stammte aus Boston, wo er geboren und auch aufgewachsen war, bis man ihn auf Nantucket Island nach einem Raub mit Todesfolge auf einen Geldboten verhaftete und nach Cedar Junction gesteckt hatte. Fünfundvierzig Jahre sollte er dort auf die Freiheit warten. Mit Tyler teilte er sich eine Zelle und der brummige, aber gutmütige Mann aus Maine wurde für ihn nach anfänglichen Startschwierigkeiten zu einem väterlichen Freund, der ihn vor den reißenden Wölfen im Knast bewahrte. Auch wenn Tyler nicht zu den durchgeknalltesten und gefährlichsten Knastis in Cedar Junction gehörte, so hatte er sich dennoch einen hohen Rang erdient, der ihn nahezu unantastbar machte. Und dabei war er nicht einmal brutal oder aggressiv, nein, im Gegenteil, Wesley Tyler war eher ein ruhiger und fügsamer Gefangener, der den Rest der Meute ignorierte und der sich aus allen Konflikten heraushielt. Vielleicht lag sein Standing innerhalb der Knastgesellschaft einfach nur daran, dass man hinter seinem Rücken munkelte, er sei noch immer im Besitz von dreißig Millionen in Gold. Duval hatte zweifellos von seinem väterlichen Freund im Knast profitiert. Auch er wurde von den unterschiedlichen Gruppen, die sich in dem Mikrokosmos hinter Gittern gebildet hatten, weitestgehend in Ruhe gelassen.

Freundschaft gepaart mit einer gehörigen Portion Dankbarkeit waren es gewesen, die Frank Duval dazu veranlasst hatten, den schwer verletzten Kumpel nicht einfach in seinem Schicksal zurückzulassen. Gemeinsam hatten sie sich bis ans Ende von Walepole durchgeschlagen, wo sie in ein Ferienhaus einbrachen, das offenbar seit längerer Zeit nicht mehr genutzt worden war. Und diesmal stand Tyler entgegen seiner sonstigen Erfahrung das Glück zur Seite, denn neben reichlich passenden Klamotten fanden sie einen Führerschein mit einem Passbild, das Duval sehr ähnlich war, ein paar Dollar Münzgeld und die Schlüssel eines Ford Pinto, der mit halbvollem Tank in der Garage stand.

Unbehelligt waren sie bis nach Old Orchad Beach gefahren und hatten sich in das Motel eingemietet, in dem sie die Nacht und den darauffolgenden Tag verbrachten.

»Wenn es dir morgen nicht besser geht, dann werde ich irgendwo einen Arzt auftreiben«, sagte Duval, nachdem die schweren Atemzüge Tylers in ein rasselndes Stöhnen übergingen. Er saß am Fenster und spähte durch den schmalen Schlitz des Vorhangs hinaus auf den Parkplatz des Motels.

»Es geht schon«, stammelte Tyler. »Meine Rippen sind gebrochen, das schmerzt höllisch, aber ich werde es überleben.«

Duval erhob sich von seinem Stuhl und trat neben das Bett. Er schenkte ein Glas Wasser ein und nahm drei Aspirin aus der Packung, die er auf dem Weg in einer Drogerie besorgt hatte. Er wartete, bis sich die Tabletten im Wasser auflösten, beugte sich zu dem Verletzten hinab und hob vorsichtig seinen Kopf an.

»Was ist das?«, fragte Tyler.

»Gegen die Schmerzen«, antwortete Duval und hielt das Glas an Tylers Lippen.

U.S.-Marshall Service, District Headquarters, Boston,

12. März 2007, 17.55 Uhr (Montag)

An der Wand im Büro der US-Marshalls standen zwei hölzerne Stellwände, an denen Bilder, Notizen und Vergrößerungen von Aktenauszügen aus den Strafakten der Flüchtigen scheinbar chaotisch, jedoch für Rodger Donovan in einer eigenen, durchschaubaren Ordnung mit kleinen Reißnägeln festgemacht waren. Auf einem daneben stehenden Flipchart hatte er mit rotem Filzstift die Städte markiert, aus denen Lukovic, Simmrock, Duval und Tyler stammten.

Mittlerweile hatte er die Akten der Ausbrecher auf das Gründlichste studiert. Nur wenn man genau wusste, hinter wem man eigentlich her war, konnte man wissen, wo man nach seiner Zielperson suchen musste. Rodger Donovan war ein kühler und überlegter Pragmatiker, ganz im Gegensatz zu seinem impulsiven und zuweilen ungestümen dunkelhäutigen Kollegen Noah Fleischman, der die Akademie in Westpoint genossen und nach seiner Zeit als Armyoffizier den Posten des US-Marshalls angetreten hatte. Er selbst hingegen hatte sein halbes Leben in den neonbeleuchteten Büros des taktischen Planungsstabes der NSA am Computer mit der Auswertung von Daten zugebracht und nur in den Mittagspausen oder nach Feierabend das pulsierende Leben auf der Straße erlebt. Vielleicht waren sie genau wegen dieser Gegensätzlichkeit zu einem unschlagbaren Team zusammengewachsen.

»Sie haben sich getrennt«, murmelte Donovan. »Es gibt nichts, was die vier miteinander verbindet, außer dass sie zufällig im selben Bus saßen.«

Noah Fleischman betrachtete beiläufig das Foto von Wesley Tyler. »Er wäre in einem halben Jahr freigekommen«, murmelte er. »Was hat ihn dazu bewogen, sich an der Flucht zu beteiligen?«

»Es war keine geplante Flucht«, erklärte Donovan. »Durch den Unfall ergab sich die Gelegenheit. Ich nehme an, Tyler ist nur abgehauen, weil der Wachmann erschossen wurde. Ich denke, er hat sich ausgerechnet, dass er einen schlechten Stand hat, wenn er einfach im Bus zurückbleibt. Außerdem scheint er so etwas wie eine väterliche Beziehung zu Duval zu haben. Vielleicht hat Duval Tyler zur Flucht überredet.«

Die Tür wurde aufgestoßen und Carter betrat den Raum. Eilends ging er zu der Stellwand, an der eine große Landkarte des Distrikts hing, und steckte, nachdem er einige Sekunden gesucht hatte, eine rote Markierungsnadel in die Karte. Die Nadel steckte kaum zwei Zentimeter von der Stelle entfernt, an der sich der Unfall mit dem Bus ereignet hatte.

»Von einem Parkplatz in der Summer Street wurde ein Wagen gestohlen«, berichtete er und nahm seine Brille von der Nase. »Ein roter Mazda mit Bostoner Zulassung. Ich habe die Beschreibung und das Kennzeichen an die Straßensperren durchgegeben.«

Fleischman warf Tylers Bild auf den Schreibtisch und blickte auf die Uhr. »Das erste Lebenszeichen.«

»Hat jemand etwas gesehen, und wie lange fehlt der Wagen schon?«, fragte Donovan.

Carter setzte seine Lesebrille auf und nahm das Fax zur Hand. »Der Wagen gehört der Angestellten einer Firma in der Summer Street. Sie hat gearbeitet und den Diebstahl erst nach Feierabend bemerkt. Geparkt hatte sie ihn sechs Stunden zuvor.«

»Dann könnten die Kerle maximal sechs Stunden Vorsprung haben«, sagte Fleischman, erhob sich von seinem Stuhl und trat vor die Karte.

»Es wäre aufgefallen, wenn sie versucht hätten, eine Straßensperre zu passieren. Vier Mann im Wagen, da würde doch der dümmste Cop hellhörig.«

Donovan erhob sich und stupste Carter an der Schulter. »Wer sagt denn, dass sie noch zusammen sind? Ich bin mir sicher, dass sich Tyler und Duval abgesetzt haben.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich habe ihre Akten gelesen. Lukovic ist ein Psychopath und ein eiskalter Mörder, der als Geldeintreiber für eine örtliche Mafiagröße in Philadelphia gearbeitet hat. Und Simmrock ist ein durchgeknallter Junkie. Ich glaube nicht, dass sich Tyler mit ihnen einlässt. Und Duval hält sich mit Sicherheit an seinen großen Bruder. Ich bin felsenfest davon überzeugt, sie haben sich getrennt. Der alte Mann, der die Flüchtigen gesehen hat, sagte selbst, dass die beiden ersten Gefangenen in eine andere Richtung davonrannten als die beiden nachfolgenden.«

Fleischman trat vor die Stellwand und wies auf das Bild von Dan Lukovic. »Er wird versuchen, sich nach Philadelphia durchzuschlagen, dort hat er Freunde, die ihm weiterhelfen könnten.«

»Simmrock hat keine Wurzeln, er wird sich an Lukovics Fersen heften.«

Es klopfte an der Tür.

»Ja!«

Magret Mcpherson, die Sekretärin, die alle nur Macphie nannten, öffnete die Tür. »Sheriff Jenkins erwartet unseren Rückruf. Er will wissen, wie lange er die Straßensperren noch aufrechterhalten soll. Er sagt, die Kerle sind doch längst über alle Berge.«

»Klugscheißer«, entgegnete Carter.

»Danke, Macphie, ich rede mit ihm«, gab Donovan zurück. »Ich denke, Noah hat recht, wir konzentrieren uns auf Philadelphia. Lukovic wird früher oder später dort auftauchen. Die Chancen, dass sich Tyler selbst stellt, sind groß. Nach Einschätzung des Gefängnispsychologen ist er nicht gewalttätig.«

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