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Prolog

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Southern Shoals, 19. April 1971, 04.10 Uhr (Montag)

Es war ein stürmischer Tag, der 19. April im Jahr 1971. Die Jonathan Sinclair war am Vorabend in Boston ausgelaufen und hatte Kurs nach Norden genommen. Mit zwölf Knoten durchpflügte das Küstenfrachtschiff der Boston Shipping Company die aufgewühlten Gewässer des Porpoise Basin. Kurz nach vier Uhr in der Frühe war das Inferno über das Schiff hereingebrochen. Heftige Westwinde türmten das Wasser des Atlantischen Ozeans zu hohen Wellen auf, und die Gischt nahm den Männern die Sicht. Das Wasser schoss über die Reling und durchnässte die Kleidung der Passagiere, die sich auf dem Vordeck eng zusammengekauert hatten und mit angsterfüllten Augen in die Dunkelheit spähten.

Die Jonathan Sinclair, benannt nach dem Vater des Schiffseigners, war ein kleines Frachtschiff mit 270 Bruttoregistertonnen und sechs Mann Besatzung, das vorwiegend zum Transport von Weizen nach Quebec oder Curchill in der Hudson Bai eingesetzt wurde, doch am heutigen Tag waren die Laderäume leer. Vierzig Passagiere drängten sich stattdessen auf dem Vordeck eng zusammen. Männer und Frauen, deren Leiber vor Angst und Kälte zitterten. Vierzig Auswanderer, Filipinos allesamt, unterwegs nach Hell’s Kitchen Island, um dort in der Fischfabrik der Atlantic Seafood Inc. ihren neuen Job anzutreten.

»Halten Sie Kurs, Manning!«, rief Kapitän Ronald Haywood seinem Steuermann durch das Brausen und Tosen des Sturms zu, während er mit dem Fernglas nach dem Leuchtfeuer von Fenners Rock Ausschau hielt. Das Schiff rollte und stampfte in der schweren See, und der Steuermann hatte Mühe, den Frachter auf Kurs zu halten. Querab rollten die schäumenden Wellen auf die Jonathan Sinclair zu, gierig griffen die spitzen Wellenkämme nach der Steuerbordseite des Schiffs, und die Gischt spritzte über die Brüstung.

»Halten Sie Kurs, um Gottes willen, halten Sie Kurs, Manning!«

Der Steuermann hielt das Ruder fest umklammert. Schweiß trat aus den Poren. Der Rudergänger sprang hinzu und unterstützte den Steuermann dabei, das reißende und zerrende Steuerrad zu fixieren.

»Sie zieht wie ein Büffel«, antwortete der Steuermann atemlos.

»Dort!«, rief der Kapitän und wies aus dem Fenster des Brückendecks in die Dunkelheit.

»Mister Manning, vier Strich Backbord voraus!«

»Aye, Kapitän«, gab Manning zurück und blickte auf den Kreiselkompass. Langsam ließ er das Steuerrad nach links gleiten, bevor er sich wieder mit der ganzen Kraft seines Körpers an die Holme klammerte.

»Kurs liegt an!«

Erneut traf eine tosende Welle die Steuerbordseite des Frachters, das Schiff rollte nach Backbord und Kapitän Haywood geriet ins Straucheln. Das Fernglas fiel zu Boden, als er sich an den Kartentisch klammerte.

»Halten Sie das Schiff auf Kurs!«, befahl Haywood. »Die Southern Shoals liegen nördlich von unserer Route, sobald wir die Südspitze der Insel umfahren und Goose Rock passiert haben, sind wir in Sicherheit. Dort ist das Gewässer ruhiger.«

Der Steuermann warf einen Blick durch die Glasscheibe hinaus auf das Vordeck. Obwohl die Scheibenwischer auf vollen Touren liefen, gab es draußen nur ein Gemisch aus Gischt, Schlieren und Dunkelheit zu sehen. Erneut zitterte das Schiff, als ein weiterer Brecher die Wandung an der Steuerbordseite traf, und der Rudergänger krallte sich noch fester ans Steuerrad. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

Der Wind blies heulend um die Kommandobrücke, und das Tosen des Sturms erfüllte die Nacht. Der Kapitän hielt sich am Kartentisch fest, der mit der Außenwand verschraubt war, die linke Hand hob er in die Höhe. »Still!«, rief er, den Sturm übertönend. »Still, hier stimmt etwas nicht!«

Das Gebet des Rudergängers erstarb, und auch der Steuermann lauschte stumm gegen das Getöse.

»Was?«, unterbrach er nach einem kurzen Augenblick das Schweigen.

Der Kapitän tastete sich am Tisch entlang und nahm das Sprachrohr von der Wand, das ihn direkt mit dem Maschinenraum verband. »Carrygan!«, brüllte er in den Trichter. »Carrygan, melden Sie sich!«

Doch der Maschinist schwieg.

»Was ist los, Kapitän?«, fragte der Rudergänger mit großen Augen.

»Hört ihr es nicht?«, versetzte Haywood. »Die Maschinen, die Maschinen sind ausgefallen.«

Der Steuermann blickte sich ängstlich um, plötzlich wurde das Vorschiff wie von einer Riesenfaust in die Höhe gehoben. Das Geräusch berstenden Stahles drang in das Ruderhaus. Und dann ertönte nach einem kurzen Augenblick unheilvoller Stille ein Heulen, es klang wie der Gesang eines verwundeten Wales. Gleichzeitig lief ein Zittern durch das Schiff, und der Vortrieb erstarb, so dass der Kapitän zu Boden geschleudert wurde.

»Wir haben … wir haben etwas gerammt!«, schrie der Rudergänger.

Der Kapitän raffte sich auf und stürzte zur Tür. Als er sie öffnete, erfasste ihn eine mit Gischt durchtränkte Böe. Im trüben Licht der Scheinwerfer erkannte er den Felsen, der an der Backbordseite in die Höhe ragte.

»Die Shoals, wir sind mitten in den Southern Shoals!«, rief er dem Steuermann zu.

»Aber das kann nicht sein, wir haben doch erst das Feuer von Fenners Rock passiert«, murmelte Kapitän Haywood, als sich das Schiff aufbäumte. Erneut traf eine Welle den Rumpf, und die Jonathan Sinclair rollte nach Backbord. Haywood hielt sich an der Reling fest, doch die Wucht der Welle war zu stark. Das metallische Stöhnen, als das scharfkantige Gestein die Wandung zerschnitt, war das letzte Geräusch, das er vernahm, bevor er den Halt verlor und in den schwarzen Schlund der tobenden See stürzte. Doch sie verschlang ihn nicht sogleich, sein Körper schlug hart auf dem kalten Gestein auf, und die Wucht des Aufpralls brach ihm das Rückgrat. Regungslos lag er auf dem Felsen, der hoch aus dem Meer aufragte. Zur Untätigkeit verdammt, musste er mit ansehen, wie sich das Heck der Jonathan Sinclair hoch aufreckte und das Schiff wie ein Pfeil in der Tiefe verschwand. Ein Stöhnen kam über seine Lippen. Wie durch einen Schleier sah er das Ende des Frachters, der durch die starke Unterströmung in dem Meeresgebirge der Southern Shoals, unmittelbar vor der Insel Hell’s Kitchen Island gelegen, in die Tiefe gezogen wurde und mit Mann und Maus versank. Als ein Brecher den Felsen traf und ihn mit sich riss, war es für ihn wie eine Erlösung.

Der Kapitän gehört zu seinem Schiff, war der letzte klare Gedanke, den er im Diesseits dachte, bevor ihn die eisige See verschlang und auf den Grund der Southern Shoals zu seinem kühlen Grab geleitete.

Die Jonathan Sinclair war nur drei Minuten, nachdem sie gegen die scharfkantigen Klippen von Feargalls End gestoßen war, in den Fluten des Atlantiks gesunken. Keiner überlebte das Unglück. Sechsundvierzig Menschen fanden am Morgen des 19. April im Jahre 1971 den Tod – und was das Meer sich geholt hatte, das gab es niemals wieder her … es sei denn …

Blutinsel

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