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Sechsunddreißig Jahre später …

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Norwood, Massachusetts,

12. März 2007, 07.35 Uhr (Montag)

Der grüne Bus des Cedar Junction Department of Corrections fuhr mit mäßiger Geschwindigkeit die Maine Street hinab. Norwood lag noch knapp eine Meile entfernt. Der Fahrer gähnte und rieb sich die Augen. Vor zwanzig Minuten war der Bus im Staatsgefängnis von Cedar Junction losgefahren, um einige Gefangene nach Boston in eine zahnmedizinische Klinik zur Behandlung zu bringen. Vier schwere Jungs, gefesselt an Armen und Beinen, zusammengekettet und fest mit dem Bus verbunden, lagen träge in den Sitzreihen und ließen gelangweilt die Landschaft an sich vorüberziehen. Zweihundert Jahre Knast wurden von den beiden Wachmännern bewacht, die in den hinteren Reihen des Busses Platz genommen hatten und, mit Schrotgewehren bewaffnet, argwöhnisch die Gefangenen beobachteten.

Die Männer in den gelben Overalls des Gefängnisses von Cedar Junction machten es sich ob der frühen Stunde so bequem, wie es nur möglich war.

»Hey Dan!«, rief Aufseher Bloomfield einem der Gefangenen zu. »Ich will deine Hände sehen, verdammt!«

Dan Lukovic, der Angesprochene, ein Mörder, der noch vierzig Jahre in Cedar Junction zu verbüßen hatte, war der gefährlichste unter den Insassen. Zwei erfolglose Ausbruchsversuche hatte er bereits hinter sich; bei einem hatte er einen Wachmann als Geisel genommen, bevor ihn der gezielte Schuss eines Scharfschützen außer Gefecht setzte. Ihm galt Aufseher Bloomfields besonderes Augenmerk.

Lukovic nahm seine Hände hinter dem Rücken hervor und reckte sie in die Höhe, soweit er durch die Fesseln konnte.

»Schon besser, und keine Tricks.«

»Schon gut, Officer Bloomfield«, antwortete Lukovic gedehnt. »Solange ich solche Schmerzen an der Backe habe, will ich nichts weiter als einen Zahnarzt.«

»Dann lass deine verdammten Hände dort, wo ich sie sehe«, fluchte Bloomfield.

»Ich freu’ mich schon auf die Tussis«, flüsterte Frank Duval, ein Räuber und Totschläger, seinem Nachbarn Wesley Tyler zu.

Der rümpfte nur die Nase. »Was hast du schon davon, du wirst sie nur von weitem sehen.«

»So lange, wie ich jetzt schon im Knast schmore, ist das fast so gut wie Sex.«

»Ruhe, da vorne!«, ermahnte Bloomfield die beiden Schwätzer.

Duval verzog seine Mundwinkel und grinste frech.

Sie hatten Walepole hinter sich gelassen. Der Busfahrer beschleunigte. Sie fuhren knapp an die sechzig Meilen, als er plötzlich laut aufschrie. »Was macht denn der Idiot?«

Noch bevor sich die Gefangenen aufrichten konnten, trat der Fahrer mit voller Wucht auf die Bremse. Plötzlich krachte es, und der Bus neigte sich bedrohlich zur Seite. Ein wildes Rufen und Geschrei durchlief das Gefährt. Der Fahrer riss die Hände vor das Gesicht, als der Bus hinab in den Graben schoss und auf die Seite kippte. Erneut krachte es laut, Glas splitterte, und das Metall ächzte von der Wucht des Aufpralls. Einer der Wachmänner wurde an den Gefangenen vorbeigeschleudert und prallte mit dem Kopf gegen einen der Sitze, bevor er zu Boden stürzte. Dann blieb der Bus auf der Seite liegen, Stille kehrte ein. Wesley Tyler fasste sich an den Kopf und spürte warme Feuchtigkeit in seinen Haaren.

Dan Lukovic war der Erste, der zu sich kam und die Situation erfasste. Der Wachmann war ihm direkt vor die Füße gefallen. Er beugte sich zu ihm hinab und zog die Pistole aus dem Halfter. Dann durchsuchte er die Taschen des Mannes, der ihm mit stumpfen, offenen Augen ins Gesicht blickte. Ein Freudenschrei kam über Lukovics Lippen, als seine Hände mit einem Schlüsselbund auftauchten.

»Was … was ist passiert?«, fragte Martin Simmrock, der vierte Gefangene, der wieder zu sich gekommen war. Er hörte das Klimpern der Schlüssel.

Stöhnend wankte Officer Bloomfield durch den auf der Seite liegenden Bus. »Bleibt sitzen, rührt euch nicht!«, befahl er mit gefährlicher Stimme. Sein Schrotgewehr zielte den Gang entlang. Plötzlich drehte sich Lukovic herum. Drei Schüsse krachten und schlugen in Bloomfields Oberkörper ein. Der Wachmann wurde wie von einer unsichtbaren Faust zu Boden gestreckt, das Schrotgewehr fiel ihm aus der Hand. Schon war Lukovic über ihm. Ein weiterer Schuss brach. Das Projektil traf den schwer verwundeten Wachmann oberhalb der Nasenwurzel. Ein letztes Stöhnen kam über seine Lippen, bevor er starb.

Lukovic lachte wie von Sinnen, dann warf er Simmrock den Schlüsselbund zu. »Heute ist unser Glückstag«, triumphierte er laut.

»Was ist mit den beiden anderen?«, fragte Duval.

Lukovic zeigte auf den Wachmann, dem er die Waffe aus dem Halfter genommen hatte. »Der ist alle, wahrscheinlich hat er sich das Genick gebrochen«, sagte er lakonisch. »Hätte sich wohl auch besser angeschnallt.«

Nachdem sich Simmrock befreit hatte, warf er Duval den Schlüsselbund zu.

»Der Fahrer macht es auch nicht mehr lange«, rief Lukovic den anderen zu. Dann stellte er sich auf den Fahrersitz und hangelte sich geschickt bis zur zerborstenen Frontscheibe, durch die er schließlich hinaus ins Freie stieg. »Ihr solltet euch beeilen«, forderte er die anderen auf, bevor er verschwand.

Duval beobachtete, wie Simmrock Lukovic folgte. Er beugte sich zu Tyler hinab und löste dessen Fesseln.

»Komm, mein alter Zellengenosse«, raunte Duval Tyler zu. »Die Freiheit winkt.«

»Ich habe nur noch ein paar Monate«, erwiderte Tyler und fasste sich erneut an den Hinterkopf. »Außerdem hat es mich erwischt. Wenn du verschwinden willst, dann lass dich nicht aufhalten. Geh, ich bleibe hier.«

Duval lächelte. »Ich lass dich doch nicht so einfach zurück, wir gehen gemeinsam oder wir bleiben beide hier.«

Tyler schüttelte den Kopf. »Du hast noch fünfzehn Jahre vor dir«, entgegnete er. »Ich werde in acht Monaten entlassen.«

Duval schüttelte den Kopf und zeigte auf den erschossenen Wachmann. »Wenn wir verschwinden, dann werden sie dir die Sache in die Schuhe schieben. Sie brauchen einen Schuldigen. Und du weißt, die nehmen jeden, den sie gerade kriegen können.«

Tyler richtete sich auf. Sein Kopf schmerzte. Draußen war das Geheul einer Sirene zu hören. Noch war das Signal weit entfernt, doch es näherte sich unaufhaltsam.

»Komm jetzt!«, drängte Duval.

Tyler überlegte kurz, schließlich nickte er.

»So eine gottverdammte Scheiße«, fluchte er, als er sich zusammen mit Duval durch die zerborstene Frontscheibe hangelte.

*

»Dan Lukovic, Martin Simmrock, Frank Duval und Wesley Tyler«, sagte der Offizier in der Uniform des Cedar Junction Department of Corrections. Walt Jenkins war der diensthabende Wachgruppenleiter in Cedar Junction und unmittelbar nach der Meldung des Unfalls an das örtliche Police Department über den Sachverhalt informiert worden.

»Lauter schwere Jungs«, antwortete der Sheriff.

»Drei davon«, versetzte Jenkins. »Es wundert mich, dass Tyler mit von der Partie ist. Er hatte nur noch acht Monate. Wie ist das passiert?«

Der Sheriff wies auf die abgesperrte Straße. Die Rotlichter der Streifenwagen zuckten in den morgendlichen Himmel. Polizisten des Norfolk Sheriff Departments zeichneten Spuren an und fotografierten die Unfallstelle. Rechts der Straße lag der grüne Bus unterhalb einer knapp drei Meter hohen Böschung, und auf der gegenüberliegenden Seite stand ein vollkommen zerbeulter Dodge Ram.

»Der Kerl mit dem Dodge kam aus dem Feldweg«, erklärte der Sheriff. »Er hat den Bus in voller Fahrt gerammt. Ist nur leicht verletzt, aber vollkommen stoned. Er sitzt bei uns in der Zelle. Ist ein Typ aus Walpole, ein Junkie. Wir kennen ihn und haben ihn schon ein paar Mal hopsgenommen.«

»Dann war das also ein Unfall«, überlegte Jenkins laut.

»Ein Unfall«, fuhr der Sheriff fort. »Aber das, was danach geschah, war kaltblütiger Mord. Einer der Wachmänner wurde von vier Kugeln getroffen. Eine Kugel haben sie ihm in den Kopf gejagt. Der Coroner meint, die Waffe wurde aus nächster Nähe abgefeuert. Wir haben die US-Marshalls in Boston verständigt. Müssten eigentlich schon längst hier sein«.

»Und die Gefangenen?«

»Die sind längst über alle Berge. Wir haben die Anwohner befragt. Sie sind einer nach dem anderen aus dem Bus gekrochen und haben das Weite gesucht. Der Erste soll ein hellhäutiger Glatzkopf gewesen sein, hielt eine Waffe in der Hand, da haben sich die Leute wieder in ihre Häuser verkrümelt. War wohl auch besser so.«

»Ein hellhäutiger Glatzkopf«, wiederholte Jenkins.

»So hat ihn der alte Mann aus dem Haus gegenüber beschrieben«, bestätigte der Sheriff.

»Das muss Lukovic gewesen sein. Ein ganz übler Bursche. Hat drei Menschenleben auf seinem Gewissen. Ihm würde ich zutrauen, dass er einen Wehrlosen einfach so hinrichtet.«

»Ihr zweiter Officer hat sich wohl beim Unfall das Genick gebrochen, und der Fahrer schwebt ebenfalls in Lebensgefahr. Die Fahndung läuft, wir warten noch auf einen Hubschrauber aus Boston.«

Jenkins schaute auf seine Armbanduhr. Der Sheriff bemerkte seinen Blick.

»Vierzig Minuten Vorsprung«, sagte er. »Sie haben sich getrennt. Die beiden Letzten, ein älterer Kerl mit grauen Haaren und ein junger, dunkelhaariger Typ mit auffallend dunklem Teint, sind zusammen in Richtung Süden geflüchtet. Der Jüngere hat den Älteren gestützt. Vielleicht kommen die beiden nicht weit, der Alte ist verletzt.«

»Das müssen Tyler und Duval gewesen sein«, erklärte Jenkins. »Sie sitzen seit ein paar Jahren in der gleichen Zelle. Die beiden sind wie Vater und Sohn. Wir müssen die Suche auf Lukovic und Simmrock konzentrieren. Wenn Lukovic im Besitz einer Waffe ist, dann hinterlässt er eine blutige Spur auf seiner Flucht. Der Kerl ist ein Psychopath. Und Simmrock ist nicht weniger gefährlich.«

Der Lärm eines Hubschraubers übertönte das Gespräch. Der Sheriff hielt seinen Hut fest, als der Jet Ranger mit dem Wappen des US-Marshall-Büros in der Nähe auf einer Wiese aufsetzte. Noch während der Rotor sich drehte, stieg ein dunkelhäutiger Riese mit der Figur eines Preisboxers aus. Die schwarzen Haare waren kurz geschnitten und erinnerten an die Frisur eines Marineinfanteristen. Der elegante Anzug saß perfekt, und die dunkle Krawatte lag korrekt in der Kragenmitte, als wäre sie mit einem Lot ausgerichtet worden. Ihm folgte das krasse Gegenteil: Den Kragen des Hemdes halb geöffnet und mit einem alten, abgewetzten dunkelgrauen Zweireiher bekleidet, stolperte ein untersetzter Mann mit schwammiger Figur seinem um einen halben Kopf größeren Kollegen hinterher. Vor Jenkins und dem Sheriff blieben die beiden stehen. Der Große streckte die Hand aus. »Mein Name ist Noah Fleischman, und das ist mein Kollege Rodger Donovan. Wir übernehmen ab jetzt. Weisen Sie uns bitte in die Lage ein, Sheriff!«

Donovan nickte stumm, kaute auf einem Kaugummi und präsentierte seinen Dienstausweis, der ihn als US-Marshall legitimierte.

»Gut, dass Sie endlich hier sind«, mischte sich Jenkins ein. »Das sind verdammt gefährliche Gewaltverbrecher, die jetzt in dieser Gegend unterwegs sind. Wir müssen uns vorsehen, sie sind zu allem fähig und außerdem bewaffnet. Die Presse wird uns zerreißen, wenn die Kerle durchdrehen.«

»Die Presse ist Ihr Problem«, entgegnete Noah Fleischman kühl. »Wir fangen sie nur wieder ein. Tot oder lebendig.«

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