Читать книгу Blutinsel - Ulrich Hefner - Страница 13

4

Оглавление

County Road 47, Sunderland, Massachusetts,

14. März 2007, 09.35 Uhr (Mittwoch)

Deputy Alan Merrywheather war es langweilig. Seit über einer Stunde saß er bewaffnet mit einer Radarpistole hinter dem Steuer seines Dienstwagens und beobachtete den Verkehr auf dem River Drive. Anwohner aus dem Wohnviertel an der Old Amherst Street hatten sich darüber beschwert, dass vor allem die Lastwagen die Geschwindigkeitsbeschränkung auf dem River Drive missachteten und regelrecht an den Häusern vorbeidonnern würden. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis Schlimmeres passiere und Menschen zu Tode kämen.

Als Alan heute nach einem dreiwöchigen Skiurlaub in den Catkills in das Office kam, hatte ihn der Sheriff bereits erwartet und ihn nach Sunderland geschickt. Der Bürgermeister erwartete umgehend Bericht, und das Unwetter der letzten Tage, das sich langsam besserte, hatte die Kollegen des Sheriff Departments im Franklin County derart auf Trab gehalten, dass bislang noch keine Zeit für die Verkehrsüberwachung des River Drives geblieben war.

»Und komm mir bloß nicht vor drei Stunden zurück!«, hatte ihm der Sheriff noch nachgerufen, als er sich die Radarpistole und eine Pumpgun geschnappt hatte und mit dem alten Lincoln hinunter nach Sunderland gefahren war. Abseits der Straße, verdeckt hinter einem Gebüsch, hatte er sich am Ortsausgang der kleinen Stadt aufgestellt und den Verkehr beobachtet, doch in der vergangenen Stunde waren genau zwei Lastwagen auf dem River Drive in Richtung Springfield gefahren. Der erste Truck war zweiunddreißig Meilen, der zweite, knapp eine halbe Stunde später, siebenunddreißig Meilen schnell gewesen. Fünfunddreißig waren an der Stelle erlaubt. Von wegen donnern, selbst die Personenwagen schlichen auf der vielbefahrenen Straße entlang. Diese Anwohnerbeschwerde entstammte zweifellos der Phantasie einiger verschreckter Bürger, die den Fahrzeugverkehr wohl am liebsten ganz aus der Stadt verbannt sehen würden. Dennoch wagte es Alan nicht, einfach seinen Posten zu verlassen. Drei Stunden mindestens, hatte ihm der Sheriff befohlen. Und da er kurz vor seinem Urlaub einen Riesenbock geschossen und eine lange vorbereitete Observationsaktion der Border Patrol bezüglich Alkoholschmuggel aus Kanada zunichtegemacht hatte, wollte er nicht schon wieder auffallen. Gegen die Anweisungen des Sheriffs hatte er damals einen präparierten Truck kontrolliert, und das alles nur, weil er wieder einmal das Briefing verpasst hatte. Also würde er jetzt hier ausharren und später sein Kontrollergebnis in einem schönen Bericht zusammenfassen und dem Sheriff auf den Schreibtisch legen. Auch heute hatte er das Briefing versäumt, aber diesmal war er nicht schuld daran, diesmal hatte es der Sheriff zu verantworten, schließlich hatte er ihn ja sofort an die Kontrollstelle geschickt.

Alan hatte das Funkgerät leise gedreht und das Radio umso lauter. Radio WKIT brachte in der Serie »The Classics« ein Feature über die Band Boston und spielte einen Hit der Band nach dem anderen.

Es war kurz nach halb zehn, als der graue Buick Century den River Drive entlangschoss. Alan Merrywheather, der sich lässig in den Fahrersitz gelümmelt und das rechte Bein auf dem Beifahrersitz abgelegt hatte, richtete sich auf und griff zur Radarpistole. Kurz visierte er den grauen Buick an und drückte ab. Ein Zweiklang als Signalton zeigte ihm, dass die Messung erfolgreich gewesen war. Als der Wagen an ihm vorbeifuhr, blickte er auf das Display. Der Messwert lag bei 58 Meilen.

Alan startete seinen Lincoln und nahm die Verfolgung auf. Der Buick fuhr mit gleichbleibender Geschwindigkeit den River Drive entlang. Offenbar hatte der Fahrer noch gar nicht bemerkt, dass ein Streifenwagen des Franklin County die Verfolgung aufgenommen hatte. Erst als sich Alan knapp hinter dem Buick befand, schaltete er die Rotlichter und das Signal ein und gab dem Buick-Fahrer Lichthupe zum Zeichen, dass er anhalten sollte. Der Buick verlangsamte, die Bremsleuchten flammten auf, und der Fahrer setzte den rechten Blinker. In Höhe der Feuerwache hielt der graue Wagen am rechten Straßenrand an. Die Straße war leer, nur von weitem näherte sich ein Lastwagen. Alan stoppte seinen blau-weiß lackierten Streifenwagen direkt hinter dem grauen Buick mit einem Kennzeichen aus Massachusetts. 58 Meilen, das würde eine saftige Verwarnung für den Fahrer geben. Alan griff nach seinem Schreibblock und stieg aus. Noch immer dudelte Rockmusik aus dem Radio. Langsam näherte er sich dem Wagen, in dem zwei Männer saßen. Die rechte Hand legte Alan auf seinen Fünfundvierziger, der in einem Holster steckte, während er in der linken Hand seinen Verwarnungsblock hielt. Vor der Fahrertür blieb er stehen. Ein glatzköpfiger, unrasiert und übernächtigt aussehender Mann blickte zu ihm auf. Das Seitenfenster war heruntergekurbelt.

»Hallo Mister«, begrüßte Deputy Alan Merrywheather den Raser. »Sie haben es wohl ein klein wenig eilig? Schalten Sie bitte den Motor ab.«

Die Hände des Buick-Fahrers waren nicht zu sehen, obwohl jedermann wusste, der jemals einen Führerschein in den Staaten erworben hatte, dass er seine Hände gut sichtbar auf dem Lenkrad zu platzieren hatte. Noch bevor Alan etwas sagen konnte, tauchte die Mündung einer Pistole unterhalb des Fensters auf. Alan versuchte noch, seinen Revolver zu ziehen, als es plötzlich furchtbar krachte und eine Feuerzunge nach ihm griff. Er spürte einen heftigen Schlag in der Schulter und taumelte rückwärts. Erneut knallte es, doch der zweite Schuss verfehlte ihn. Er riss seinen Revolver aus dem Halfter und drückte ab, mehrmals zog er den Abzugshahn durch, bevor ihn erneut ein Projektil herumwirbelte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stürzte er auf die Knie. Erneut schoss er auf den Wagen, das Geschoss durchschlug die Fahrertür knapp unterhalb des Zierstreifens. Kurz bevor er ganz zu Boden ging, hörte er noch das Quietschen des anfahrenden Buicks, dann ergriff die Dunkelheit von ihm Besitz. Aus dem Radio seines Streifenwagens tönte der Boston-Hit Don’t look back

South Bench Lighthouse, Hell’s Kitchen Island, Maine,

14. März 2007, 10.20 Uhr (Mittwoch)

Als Logan seinen Pick-up über die schlammige Piste des Northern Trails bis zum Verdana Upland hinauf lenkte, überraschte ihn ein Wolkenbruch, der ihn zum Anhalten zwang. In der Nähe des Shepherds Wood unweit der Hütte am Northern Face stoppte er und wartete beinahe eine halbe Stunde, bis er endlich weiterfahren konnte. An der Schäferhütte am Northern Trail verweilte er eine Weile im Wagen, denn noch immer goss es wie aus Kübeln, und die Wiesen verwandelten sich in einen schmierigen Sumpf. Er wartete, bis der Regen nachließ, stieg aus und zog sich seine Gummistiefel über, bevor er sich zu Fuß auf den Weg zur Hütte machte. Sicherheitshalber hatte er sein Gewehr mitgenommen, das über seiner Schulter hing. Außer ein paar versprengten Schafen mit roter Markierung am Ohr, die zweifellos zu Joshua Breeds großer Herde gehörten, scheuchte er einen pudelnassen Fuchs auf, der sich flugs in Richtung des Waldes davonmachte. Er lächelte, als er unter all den rot markierten Schafen auch einige mit einer gelben Markierung entdeckte, die zu Otis Bratts Herde gehörten.

»Sieh an«, murmelte er. »Die Feindschaft zwischen den Bratts und den Breeds scheint euch Schafe wohl kaum zu kümmern.«

Außer einem Blöken bekam er keine Antwort, aber das erwartete Logan auch nicht. An der Hütte angekommen, sah er sich ein wenig um, doch wenn es irgendwelche Spuren gegeben hatte, dann hatten sie der Wind und der Regen schon längst davongeweht oder in der Regenflut ertränkt. Die Tür zur Hütte war nicht verschlossen, so wie es die Regeln vorschrieben, denn die Hütten standen jedem Hirten zum Schutz vor Wind und Wetter zur Verfügung, egal ob er für Otis oder für den kauzigen Joshua arbeitete. In der Hütte gab es neben einem einfachen Feldbett nur noch einen Tisch und einen Stuhl. Sollten wider Erwarten einmal zwei Schäfer die Hütte aufsuchen, so musste eben der zu spät kommende mit dem staubigen Bretterboden vorliebnehmen. Logan schaute sich in der Hütte um. Unter dem Bett fand er eine leere Flasche Wild Turkey Kentucky Straight Bourbon. War diese Flasche Whiskey an Malcom Hursts Erscheinung schuld?

Logan stellte die Flasche auf den Tisch und verließ die Hütte. Er ging zurück zum Wagen, zog sich die schmutzigen Stiefel aus und legte sie in den Werkzeugkasten auf der Ladefläche seines Pick-up, bevor er einstieg und in Richtung Süden davonfuhr. Hier jedenfalls, am Northern Trail, gab es keine Anzeichen dafür, dass auf Hell’s Kitchen Island ein vor über zweihundert Jahren verstorbener Piratenkapitän sein Unwesen trieb. Logan beschloss, auf seinem Rückweg noch einen Abstecher an den South-Bench-Leuchtturm zu machen und Gabriel und Ava Jefferson einen Besuch abzustatten. Vielleicht hatten sie ja etwas von einem seltsamen nächtlichen Wanderer auf dem Verdana Upland mitbekommen. Und wenn nicht, dann reichte es bestimmt zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Apfelkuchen, den Ava meistens parat hatte, wenn er bei den Jeffersons Halt machte.

Der Regen ließ nach, als er South Bench erreichte. Schon als er sich dem kleinen Haus der Jeffersons unmittelbar neben dem rot-weiß gestreiften Leuchtturm näherte, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Der Wind ließ nach, und die dunklen Wolken, die der Wind nach Westen über die Insel geblasen hatte, wurden durch weiße, unbefleckte Wolken abgelöst. Hier und da riss sogar der Himmel auf und tauchte die Insel in ein gelbliches, diffuses Sonnenlicht. Die Tür zum Schuppen sowie auch die Haustür von Jeffersons Haus standen sperrangelweit offen. Logan parkte seinen Wagen und stieg aus. Diesmal verzichtete er auf die Gummistiefel, denn das felsige Land der South-Bench-Klippen war nur spärlich mit Gras bewachsen.

»Gabriel, Ava!«, rief er in die Stille, doch niemand antwortete ihm. Direkt neben dem durch einen schmiedeeisernen Zaun geschützten Garten, der aufgrund der Jahreszeit noch brachlag, standen mannshohe Skulpturen. Tiere, Menschen und andere Phantasiefiguren. Gabriels Skulpturengarten versetzte ihn ein ums andere Mal in Erstaunen.

»Ava, Gabriel«, rief er noch einmal. Doch nur das winddurchsetzte Schweigen erhielt er zur Antwort. Er ging auf den Schuppen zu und warf einen Blick hinein. Er zuckte zusammen, als er die mannsgroße Figur direkt hinter der Tür erblickte, doch sein Schreck verzog sich, als er realisierte, dass es nur eine weitere Holzfigur war. Ein Seemann, mit einem langen wallenden Mantel und einem Südwester auf dem Kopf, Gabriel war sehr begabt, und seine Fingerfertigkeit hatte trotz seines hohen Alters nichts eingebüßt. Die Figur wirkte, als ob sie lebte. Nur der Stauerhaken, der im linken Auge der Skulptur steckte, passte nicht ins Bild.

»Ava, Gabriel, wo seid ihr?« Logan schaute auf die Kanzel des Leuchtturms, doch auch dort war niemand zu sehen. Ihm wurde unheimlich. Was sollte der Stauerhaken im Auge des hölzernen Seemannes, der zweifellos den Piratenkapitän Belfour darstellte? War Gabriel mit seinem Werk nicht zufrieden und hatte ihn die Wut darüber dazu getrieben, die Figur zu verunstalten? Und war es Zufall, dass Malcom Hurst ausgerechnet zu der Zeit behauptete, den Geist des Piratenkapitäns gesehen zu haben, wo Gabriel an dieser Skulptur arbeitete? Hatte sich Gabriel vielleicht einen üblen Scherz mit dem Schäfer erlaubt?

Er fasste an das Holz und stellte fest, dass es trocken war. Außerdem wog diese Figur bestimmt hundert Pfund. Wie sollte sie Gabriel durch den Regen und den Sturm über das Verdana Upland bewegen? Nein, dieses mannshohe Stück Holz hatte in den letzten Tagen diesen Schuppen nicht verlassen. Verständnislos schüttelte Logan den Kopf. Er ging zurück zu seinem Wagen und holte sein Gewehr. Er fühlte sich damit ein klein wenig sicherer, doch diesmal hängte er es nicht über seine Schulter, diesmal behielt er es in den Händen, als er das Haus betrat. Zimmer um Zimmer durchsuchte er. Im Schlafzimmer war die rechte Seite des Bettes zerwühlt, die andere noch vollkommen unberührt. In der Küche standen noch zwei Tassen auf dem Tisch, doch ansonsten war alles ordentlich aufgeräumt und sauber. Sauber, bis auf die zwei Schmutzränder, die ein schlammiger Stiefelabdruck auf dem Teppich im kleinen Flur hinterlassen hatte.

»Ava, Gabriel, wo steckt ihr nur, ich bin es, Logan!«

Auch im Haus Totenstille! Er ging hinaus und zum Leuchtturm. Die Tür war abgeschlossen. Gabriel schloss die Tür immer ab, denn niemand hatte etwas in seinem Turm zu suchen. Zwar war der Leuchtturm längst ausgemustert, dennoch sorgte ein Lichtsensor dafür, dass sich bei Anbruch der Nacht die Elektronik in Bewegung setzte und einen grellen Strahl hinaus über das Wasser schickte. Außerdem befand sich die gesamte Elektronik des modernen Seefunks unter dem Dach des Turms.

»Gabriel, jetzt komm schon, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt!«

Doch Gabriel und auch Ava antworteten nicht. Logan umrundete den Leuchtturm und schlug den Weg zu den Klippen ein, wo Gabriel vor ein paar Jahren seine erste übergroße Skulptur geschaffen hatte. Ein Holzkreuz, beinahe drei Meter hoch. Die Balken aus einer amerikanischen Weißeiche hatte er bei ihm im Laden bestellt, und Logan hätte ihm das Holz auch angeliefert, doch Gabriel hatte es sich nicht nehmen lassen, selbst für die Abholung zu sorgen. Als Logan aus dem Schatten des Leuchtturms trat, traute er seinen Augen nicht. Das Holzkreuz stand nicht mehr an der Stelle, an der es Gabriel aufgestellt hatte, sondern lag auf dem steinernen Fels vor den Klippen. Und noch etwas lag dort. Logan hastete näher. Auf dem Kreuz lag ein menschlicher Körper, nein, er hing vielmehr am Kreuz, so wie Jesus. Der alabasterfarbene Leib war mit Wunden übersät. Lediglich mit einer Unterhose bekleidet, die Glieder mit langen Zimmermannsnägeln aus Darkington, das Stück zu zwei Dollar zwanzig, ans Kreuz genagelt, lag der leblose und ausgemergelte Körper da. Logan trat ein Stück näher und umrundete das Kreuz. Sein Blick fiel auf das Gesicht des Gekreuzigten. Dort wo sich die Augen befunden hatten, gähnten nur noch leere Höhlen. Dunkle Ränder über die Wangen ließen erahnen, wo sich das Blut seinen Weg zum Boden gesucht hatte. Doch der Regen hatte es längst fortgewaschen und in die Erde gespült.

Logan ließ das Gewehr fallen. »Gabriel!«, schrie er laut, bevor er auf die Knie sank und sich übergab.

Hell’s End, Hell’s Kitchen Island, Maine,

14. März 2007, 11.50 Uhr (Mittwoch)

Admiral Anthony Broon, einst ein verdienter Navy-Offizier und schon bald an die achtzig Jahre alt, hatte sich die Insel für seinen Lebensabend ausgesucht, um noch immer jeden Tag das Rauschen des Meeres zu hören und die salzige Luft in seinen Lungen zu spüren. Eine Insel, so sagte er immer, ist fast wie ein Schiff. Sie hat einen Bug, sie hat ein Heck, und sie schwimmt wie ein Schiff auf dem Wasser. Der Admiral saß an dem großen runden Tisch neben dem Tresen und zog mit den alten Seemannsgeschichten von Captain Black und seiner grausamen Piratenbrut jeden Anwesenden in seinen Bann. Alle, bis auf Mia, die hier und da den Kopf ob der blutrünstigen Geschichten schüttelte, hörten dem alten Mann zu, der sich mittlerweile die siebte Tasse Tee mit Rum gönnte.

»Und wenn ich es euch sage«, brummte der Admiral. »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich nicht mit unserem Verstand erfassen lassen. Überlegt nur, dieser Copperfield hat alleine durch seine Gedankenkraft einen Eisenbahnzug verschwinden lassen. Einfach so. Ein Tuch darüber und weg war er. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Und Geister umgeben uns, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«

Aiden Honeywell rümpfte die Nase. »Ein billiger Trick, nichts als Illusion.«

»War Belfour auch eine Illusion?«, fragte Evans. »Malcom schwört, dass er ihn mit eigenen Augen gesehen hat.«

»Belfour hat damals ein ganzes Siedlerschiff aufgebracht und die Menschen auf der Freedom einfach abgeschlachtet«, erklärte Jonathan Bergman. »Die letzten seiner Opfer hat er auf unserer Insel hingerichtet, er hat ihnen einfach den Kopf abgeschlagen.«

»Das ist Jahrhunderte her«, wandte Mia ein.

»Ja, aber es gibt immer noch die Gerüchte, dass er seinen Schatz hier irgendwo auf der Insel versteckt hat«, mischte sich Joseph Stone in die Unterhaltung ein, während er an seinem Bierglas nippte.

Der Admiral kratzte sich am Kopf. »Vielleicht hat deswegen jemand die Löcher im Schuppen am Poundrell Spring gegraben. Vielleicht sucht jemand nach Belfours Schatz.«

»Auf fast jeder dieser verdammten Inseln im Golf von Maine gibt es eine Geschichte von einem vergrabenen Schatz, warum sollte sich Belfour ausgerechnet Hell’s Kitchen ausgesucht haben, wo es doch jede Menge unbewohnter Inseln hier im Umkreis von fünfzig Meilen gibt«, erwiderte Aiden Honeywell.

»Auf alle Fälle ist es jemand von unserer Insel, wenn es kein Geist ist«, fügte Mia hinzu. »Seit zehn Tagen kann man mit dem Schiff nicht zum Festland fahren, und kein Mensch hält es bei diesem Wetter lange draußen aus.«

Evans nickte zustimmend. »Die meisten von uns leben schon seit Jahren auf dieser Insel, die Schafhirten kommen jedes Jahr, die kennen wir, bleibt einzig und allein der Nigger.«

»Du meinst Cole, den neuen Stecher unserer Literatin?«, fragte Stone.

»Wen sonst!«

Das Gespräch verstummte, als Logan völlig durchnässt und außer Atem in das Lokal stürmte. Er riss sich die Kapuze vom Kopf. Sein Gesicht war kalkweiß.

»Gabriel«, schrie er. »Gabriel wurde ermordet. Jemand hat ihn ans Kreuz genagelt und die Augen ausgestochen. Es … es ist furchtbar.«

»Belfour!«, rief der Admiral.

»Oder der Nigger«, wandte Evans ein.

»Und was ist mit Ava?«, fragte Mia besorgt und schenkte dem vollkommen aufgelösten Logan einen Whiskey ein.

»Sie ist verschwunden«, antwortete Logan. »Einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt.«

Mia schob Logan den Drink zu. »Ich verständige Doktor Cameron.«

»Und vergiss die Polizei nicht!«, mahnte der Admiral.

»Die Polizei brauchen wir hier nicht«, widersprach Evans. »Wir schnappen uns den Nigger. Seit er hier auf der Insel ist, gerät alles aus den Fugen.«

Evans erhob sich und reckte die Fäuste in die Höhe. »Kommt, Leute, schnappen wir uns den Kerl!«

Einige unter den Gästen erhoben sich, doch noch bevor Evans die Ausgangstür erreichte, schoss Mia hinter dem Tresen hervor und verstellte ihm den Weg. »Vorhin war es deiner Meinung nach noch der Geist von Belfour, und jetzt soll es plötzlich Crawfords neuer Liebhaber sein. Du solltest dich mal reden hören.«

»Mia hat Recht«, bestätigte Aiden, ihr Ehemann, der an ihre Seite getreten war. »Wir rufen die Polizei und keiner verlässt das Lokal. Wir brauchen jeden Mann, wir können den alten Gabriel nicht einfach so am Kreuz hängen lassen.«

Gemurmel machte sich breit, und selbst Evans wandte sich um und kehrte an seinen Tisch zurück.

Mia legte Logan den Arm um die Schultern. »So wie du aussiehst, war Gabriel kein schöner Anblick«, sagte sie.

Logan leerte den Whiskey in einem Zug. »Ihr hättet ihn sehen sollen, es ist, als treibt der Teufel hier auf der Insel sein Unwesen«, seufzte er.

Homicide Squad, Portland Police Department, Maine,

14. März 2007, 13.20 Uhr (Mittwoch)

Captain Stoddart komplimentierte Detective Sergeant Brian Stockwell förmlich in sein Büro, schaute sich noch einmal verschwörerisch um und schloss die Tür. Die Luft war zum Schneiden dick, und es roch nach kaltem Rauch.

»Setzen Sie sich, Stockwell!«, forderte er den Detective auf, bevor der die Jalousien herunterließ und sich eine Zigarette anzündete.

»Was ist, Captain, gibt das ein Verhör, dann will ich einen Anwalt«, scherzte Brian.

»Machen Sie keinen Blödsinn!«, fuhr Stoddart seinen Untergebenen an. »Mir ist nicht nach Späßen, wir haben eine Leiche.«

»Eine Leiche, wo?«

»Draußen auf einer der Inseln«, entgegnete der Captain. »Commissioner Blight hat mich informiert. Der Tote wurde übel misshandelt, wahrscheinlich eine Art Ritualmord. Ich will, dass Sie und Ronsted den Fall übernehmen.«

»Cathy, das ist nicht Ihr Ernst, das ist doch mehr eine Sache für Hagen.«

»Hagen arbeitet zusammen mit Smith an der Rockwell-Sache und Jarwood hat Urlaub. Es bleiben nur Sie und Ronsted.«

»Aber Cathy ist erst ein halbes Jahr bei uns, außer ein paar Suiziden und einen Totschlag unter Landstreichern hat sie noch keinen Fall bearbeitet.«

»Deswegen will ich, dass Sie ihr unter die Arme greifen. Sie sind der Einzige hier im Squad, der wenigstens einigermaßen mit ihr zurechtkommt. Sie sind quasi ihr Mentor.«

»Ich bin Sergeant, und Cathy ist Lieutenant.«

Ein Hustenanfall schüttelte Stoddart ordentlich durch. Der Captain fasste sich an seine Brust, einen kurzen Augenblick schwieg er, ehe er einmal tief durchatmete. »Sie sollten nicht so viel rauchen, Captain, das tut Ihnen nicht gut.«

Stoddart lächelte zynisch. »Das sagt mein Arzt auch immer«, fuhr er fort. »Aber Spaß beiseite, Stockwell, Sie werden das Ding schon schaukeln, und Sie werden mir regelmäßig Bericht erstatten. So wie Blight mir sagte, leben auf der Insel genau zweiundfünfzig Menschen. Vier davon sind Mönche, der Master, ein gewisser Logan, hat die Leiche gefunden, und die Barbesitzerin hat uns verständigt. Die Frau des Toten fehlt ebenfalls. Sie ist wahrscheinlich über die Klippen gegangen. Vor der Küste stürmt es seit Tagen, und Blight schließt aus, dass jemand bei diesem Wetter mit dem Boot vom Festland übersetzen konnte. Bleiben also noch vierundvierzig Verdächtige, das scheint mir eine lösbare Aufgabe, selbst für Ronsted.«

»Ich komme auf einundfünfzig Verdächtige«, widersprach Brian Stockwell.

Der Captain schaute verdutzt. »Wieso einundfünfzig?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass Kirchenmänner jemanden um die Ecke bringen, und anrufen kann auch der Täter, der übrigens auch sein eigenes Opfer finden kann.«

»Dann wären wir bei fünfzig.«

»Vergessen wir nicht die Ehefrau«, entgegnete Brian. »Bevor sie nicht gefunden wurde, können wir ihre Täterschaft ebenfalls nicht ausschließen.«

»Na ja, gut, Sie werden das Ding schon schaukeln, und jetzt schicken Sie mir Ronsted. Aber kein Wort über unser Gespräch, verstanden!«

Knapp eine Minute später klopfte Cathy Ronsted an die Tür des Captains.

»Ja«, brüllte Stoddart.

Cathy kam herein. »Sie wollten mit mir reden.«

»Ja, richtig, nehmen Sie Platz.«

Cathy zog sich den Stuhl heran und rümpfte die Nase.

»Ich habe einen Mord auf einer Insel vor der Küste«, berichtete Stoddart und erzählte ihr alles, was er bislang darüber wusste. »Ich möchte, dass Sie die Sache übernehmen. Ich denke, nach einem halben Jahr bei uns dürfte das kein Problem für Sie sein. Stockwell wird Sie begleiten.«

»Okay. Mein erster Mordfall«, murmelte Cathy. »Gut. Ist die Küstenwache informiert oder muss ich mich selbst darum kümmern?«

»Ein Hubschrauber wird Sie und Stockwell morgen früh zur Insel bringen. Vorher lässt das Wetter keine Flüge zu.«

»Morgen früh, aber was ist mit der Sicherung des Tatortes, mit der Spurensicherung und …«

Captain Stoddart wischte Cathys Einwände mit einer Handbewegung einfach zur Seite. »Das Wetter kann ich auch nicht ändern. Es fahren keine Boote, und der Pilot weigert sich aus Sicherheitsgründen zu starten. Morgen gegen acht soll es aufklaren, vorher kommen weder Sie noch die Spurensicherung und auch der Coroner aus dem Yarmouth County nicht auf diese verfluchte Insel. Aber das ist auch gar nicht relevant, Sie werden das schon machen. Die Zahl der Verdächtigen ist überschaubar, und bei Ihren Fähigkeiten sehe ich darin kein Problem. Sie genießen mein vollstes Vertrauen, Miss Ronsted.«

Cathy blieb noch einen Augenblick lang sitzen und starrte mürrisch auf den Captain, der sich längst schon seiner Zeitung gewidmet hatte.

»Ist noch was?«, fragte er.

»Das mit dem Vertrauen ist so eine Sache«, antwortete Cathy zögerlich. »Ich habe ein feines Näschen dafür, wenn jemand flunkert, Captain, und Sie nehmen mich gewaltig auf den Arm. Hagen und Smith arbeiten an der Rockwell-Sache, und Jarwood hat Urlaub. Verkaufen Sie mich nicht für dumm, und Stockwell wird mein Aufpasser werden. Stimmt’s?«

Der Captain schlug die Seite der Zeitung um und blickte kurz auf. »Machen Sie Ihren Job, dafür werden Sie bezahlt, und machen Sie ihn ordentlich, Mädchen. Stockwell ist ein ausgezeichneter Mann, der sich schon viele Auszeichnungen verdient hat, Sie hingegen stehen noch am Anfang der Karriere. Sie sollten bei diesem Fall auf ihn hören. Und nun raus hier, ich habe noch zu tun.«

Cathy Ronsted erhob sich und zupfte ihre Bluse zurecht. »Und wie heißt diese gottverlassene Insel, auf die Sie mich schicken, oder soll ich das auch Stockwell fragen?«

Der Captain schob die Zeitung beiseite und kramte in seinem Postkorb. Schließlich schob er ihr einen braunen Ordner zu. »Es geht direkt in die Hölle«, sagte er und zeigte auf die Bürotür als unmissverständliches Zeichen, dass er nicht weiter gestört werden wollte.

Blutinsel

Подняться наверх