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County Road 47, Sunderland, Massachusetts,

14. März 2007, 19.35 Uhr (Mittwoch)

Kurz nach Mittag hatte der Sturm eingesetzt, und ein böiger Wind trieb dunkle Wolken vom Atlantik vor sich her ins Landesinnere. Dicke Regentropfen machten eine weitere Spurensicherung beinahe unmöglich. Eilends hatte das Crime Scene Investigation Team des Franklin County ein Zelt über dem Streifenwagen errichtet. Deputy Alan Merrywheather war mit Schusswunden in der Schulter und im Oberschenkel in das Cooley Dickson Hospital nach Northhampton eingeliefert worden. Vom grauen Buick gab es bislang noch keine Spur, doch die Videoaufzeichnungen im Streifenfahrzeug belegten eindeutig, dass Deputy Merrywheather den gesuchten Buick angehalten hatte, mit dem die beiden Ausbrecher Lukovic und Simmrock aus North Attleboro geflüchtet waren. Donovan hatte sich zusammen mit dem Sheriff aus Franklin die Videoaufzeichnungen angeschaut. Deutlich war zu sehen, wie der Fahrer des grauen Buick ohne Vorwarnung aus dem geöffneten Seitenfenster auf den Beamten das Feuer eröffnete. Der Deputy hatte mehrmals zurückgeschossen, als er bereits am Boden lag.

»Er hat verdammt großes Glück gehabt«, berichtete Donovan seinem Kollegen, der im Hubschrauber saß und den Funkverkehr verfolgte. »Auf seiner Schussweste war ein Einschuss, ungefähr in der Höhe der Brust. Er hatte Glück, dass er das Ding unter dem Hemd angezogen hat.«

»Lesen diese verdammten Dorfsheriffs keine Dienstanweisungen«, murmelte Noah Fleischman. »Wir haben alle Dienststellen von Norwood bis nach Philadelphia angewiesen, die Finger vom Wagen zu lassen. Wenn wir Pech haben, dann haben sie hier in der Nähe ihr Fahrzeug gewechselt und wir wissen nicht mehr, mit welchem Wagen sie unterwegs sind.«

»Unser Ring um die Stadt ist perfekt«, antwortete Donovan. »Die Informanten stehen bereit, es ist egal, mit welchem Wagen die beiden Mörder in Philadelphia ankommen. Einer unserer V-Männer wird uns schon den richtigen Tipp geben. Darauf kannst du dich verlassen. Die Belohnung wurde auf einhunderttausend Bucks erhöht. Das lässt sich niemand entgehen.«

»Ich will mich nicht auf das Gesindel verlassen müssen«, entgegnete Fleischman verschnupft. »Wir haben unsere Leute und unsere elektronischen Überwachungssysteme dort unten im Einsatz. Wir kennen ihr Ziel, und wir waren ihnen die ganze Zeit einen Schritt voraus, aber jetzt müssen wir ihnen wieder hinterherjagen. Das ist unbefriedigend.«

»Wir kriegen sie!«

Der Sheriff näherte sich dem Hubschrauber. »Meine Männer haben den Buick gefunden«, erklärte er. »Er steht zwei Meilen von hier entfernt in der Plumtree Road, hinter einer Feldscheune versteckt. Meine Leute befragen gerade die Nachbarschaft. Bislang fehlt kein Wagen in der Umgebung.«

»Wir fliegen dorthin«, versetzte Fleischman entschlossen und zog seine Beine in den Hubschrauber. »Ich will, dass alle Häuser in der Gegend durchsucht werden. Diese Typen haben in einem Motel einen Mann umgebracht, um an ein Fluchtfahrzeug zu kommen. Es ist durchaus möglich, dass sie es wieder versuchen und in ein Haus eindringen.«

Der Sheriff spuckte auf den durchgeweichten Boden und zog seinen Mantelkragen höher. »Ich habe siebzehn Leute im Einsatz, mehr kann ich derzeit nicht mobilisieren.«

»Ist schon in Ordnung, Sheriff«, entgegnete Donovan und rutschte ein Stück zur Seite. »Unser Squadteam trifft in zwanzig Minuten hier ein.«

Der Sheriff stieg in den Hubschrauber, während der Pilot den Motor startete. »Da ist noch etwas«, rief der Sheriff gegen den Lärm an. »In der Fahrertür gibt es drei Einschusslöcher, und auf dem Fahrersitz haben meine Leute eine ganze Menge Blut entdeckt.«

Donovan schaute seinem Kollegen verdutzt ins Gesicht. »So wie es auf dem Video aussah, ist Lukovic gefahren.«

»Und er ist verletzt«, antwortete Fleischman. »Sheriff, gibt es einen Arzt in der Nähe des Fundorts des Wagens?«

Der Sheriff überlegte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Nur Doktor Caven, aber der ist Tierarzt. Die nächste Klinik ist in Newhampton.«

»Wo wohnt Caven?«

»Er wohnt in der Amherst Road«, erwiderte der Sheriff.

»Wie weit ist das von dem Buick entfernt?«, fragte Noah Fleischman.

Der Sheriff zuckte mit der Schulter. »Knapp eine Meile.«

Landsman’s Chapel, Hell’s Kitchen Island, Maine,

14. März 2007, 20.50 Uhr (Mittwoch)

»Bei diesem Wetter startet kein Hubschrauber«, hatte der Captain des Yarmouth Police Department zu Logan am Telefon gesagt, als dieser mit dem zuständigen Department über seinen grauenvollen Fund am South Bench sprach.

»Es handelt sich zweifelsfrei um Mord«, hielt Logan dagegen.

»Gegen den Sturm kommen wir aber nicht an«, antwortete der Polizeioffizier. »Sobald sich das Wetter bessert, werden wir Ihnen Beamte des Morddezernats aus Portland schicken, aber zurzeit können wir Ihnen nicht helfen. Sichern Sie den Tatort und schauen Sie, dass dort nichts verändert wird. Der Wetterbericht hat für morgen Besserung vorausgesagt. Vorher können wir leider nichts tun.«

»Ich kann den armen Gabriel doch nicht bis morgen einfach draußen liegen lassen«, murmelte Logan.

»Gibt es einen Arzt auf Ihrer Insel?«

Logan schüttelte den Kopf, obwohl es der Captain durch das Telefon nicht sehen konnte. »Wir haben eine ausgebildete Ersthelferin und Krankenschwester hier und einen Tierarzt.«

»Legen Sie die Leiche in einen Sack und halten Sie sie kühl«, wies ihn der Captain an. »Achten Sie darauf, dass Sie keine Spuren vernichten, nehmen Sie Handschuhe und ziehen Sie sich etwas Steriles an, Sie wissen, was ich meine.«

Logan atmete tief ein. »Hören Sie, Officer, ich bin hier der Master auf der Insel, aber ich bin kein Polizist, ich habe keine Ahnung, wie ich vorgehen soll. Warum schicken Sie nicht einfach jemand rüber auf die Insel?«

»Guter Mann, es ist einfach nicht möglich bei diesem Wetter! Verstehen Sie?«

Logan fuhr sich mit der Hand über die feuchte Stirn. »Ich verstehe.«

»Sie werden schon tun, was Sie für richtig halten«, beendete der Captain das Gespräch.

Noch vor Anbruch der Dunkelheit hatten sich Logan, Doktor Cameron sowie die Ersthelferin Sophia Stone und ihr Mann Joseph nach South Bench aufgemacht, um die Leiche von Gabriel zu bergen. Logan hatte ein flaues Gefühl im Magen, und auch Doktor Cameron und Sophia mussten schlucken, als sie Gabriels Leiche betrachteten. Alle vier trugen Gummistiefel, wasserdichte Wathosen aus PVC und Öljacken sowie unförmige Handschuhe. Gemeinsam machten sie sich daran, Gabriels sterbliche Überreste vom Kreuz abzunehmen.

»Mein Gott«, sagte Sophia. »Wo ist bloß Ava?«

»Ich habe überall nach ihr gesucht«, gab Logan zurück und wies auf die nahen Klippen. »Sie kann überall stecken, du siehst doch, was der Mörder mit Gabriel gemacht hat.«

»Bestimmt treibt sie schon in den Southern Shoals«, fügte Joseph Stone hinzu. »Wer da hineinfällt, der wird von der Strömung einfach unter Wasser gezogen und taucht nie wieder auf.«

Nachdem sie die Leiche geborgen und auf den Pick-up geladen hatten, riss der Himmel auf, und die untergehende Sonne schickte ihre blutroten Strahlen auf das kleine Eiland im Golf von Maine hinab.

Schweigend fuhren die vier zurück ins Village. Im Anbau der kleinen Kapelle, Landsman’s Chapel genannt, bahrten sie Gabriels Leiche in einem der zwei Kühlfächer auf. Die Stones waren längst gegangen, als Logan und der Doktor die Tür zur Kapelle verschlossen.

»Können Sie sagen, woran Gabriel gestorben ist?«, fragte Logan, als er den Bartschlüssel im Schloss umdrehte und der Riegel mit einem lauten Knacken ausfuhr.

»Bei diesen Verletzungen und so wie die Leiche zugerichtet war, gehe ich davon aus, dass Gabriel bei lebendigem Leib verblutet ist«, erklärte Doktor Cameron. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wie viel Hass muss in einem Menschen stecken, der so etwas fertigbringt.«

»Im Dorf ist man der Meinung, dass der Geist des Piratenkapitäns Belfour wiedererwacht ist«, antwortete Logan.

»Sie glauben diesen Blödsinn doch nicht etwa. Ein Geist! Die Menschen hier sind manchmal schon ein klein wenig einfältig«, wischte der Doktor Logans Bemerkung beiseite. »Nein, glauben Sie mir, das war ein sadistischer Psychopath. Er hat sich am Leiden seines Opfers ergötzt. So ein Martyrium kann drei, vier oder sogar noch mehr Stunden dauern. Wer so etwas tut, der hat keine Seele und kein Herz.«

»Ein Geist ist eine verlorene Seele und hat ebenfalls kein Herz.«

Doktor Cameron legte Logan die Hand auf die Schulter. »Logan, bleiben Sie wenigstens auf dem Teppich, wenn schon das ganze Dorf aus den Fugen gerät. Sie sind der Master hier auf der Insel, und Sie haben einen klaren Verstand. Werden Sie nicht zu einem dieser abergläubischen Einfaltspinsel. Gabriel wurde ermordet, und wir brauchen hier so schnell es geht die Polizei, denn der Mörder ist noch immer unter uns.«

Schweigend starrte Logan auf den Boden. Schließlich seufzte er. »Doktor Cameron, Sie haben Recht. Die Polizei wird morgen hier eintreffen. Aber ich wüsste niemanden, dem ich eine solche Tat zutrauen würde.«

»Ich ebenfalls nicht, Logan«, erwiderte Doktor Cameron. »Vielleicht ist er überhaupt nicht von der Insel.«

»Bei diesen Frühjahrsstürmen kann niemand vom Festland aus übersetzen. Seit Tagen liegen unsere Boote im Hafen, und niemand fährt hinaus. Es ist viel zu gefährlich.«

Cameron wies mit dem Finger in Richtung Western Peak. »Er kann ja schon ein paar Monate hier auf unserer Insel sein.«

»Sie meinen Cole?«

»Ich habe nichts gesagt, ich halte es nur für möglich«, gab Cameron zur Antwort. »Kennen Sie ihn, wissen Sie, wo er herkommt und wer er eigentlich ist?«

Logan zuckte mit der Schulter. »Er lebt bei der Crawford und ist ihr derzeitiger Lebensabschnittspartner, mehr weiß ich nicht.«

Doktor Cameron ging die Stufen hinab. »Na ja, das ist Sache der Polizei. Aber wir sollten in den nächsten Tagen auf der Hut sein. Es kann ja sein, dass der grenzenlose Sadismus des Mörders bald nach einem neuen Opfer schreit.«

Saint Benedict Abbey, Hell’s Kitchen Island, Maine,

14. März 2007, 21.10 Uhr (Mittwoch)

Die Saint Benedict Abbey lag im Norden der Insel in unmittelbarer Nähe zum Violent Beach. Als Ort der Ruhe und der inneren Einkehr hatten sie die Benediktinermönche Anfang des Jahrhunderts auf Hell’s Kitchen erbauen lassen, um ihren entkräfteten und müden Brüdern eine Zufluchtsstätte in einer abgelegenen und urwüchsigen Landschaft, abseits des großen Trubels der Städte und Gemeinden zu bieten. Auf dass die Kraft und die Zuversicht wieder bei ihnen einkehren möge und der Glaube sie stärke und für das Leben in der Enthaltsamkeit vorbereite. Einst lebten siebzehn Benediktiner in dieser Abtei, doch in den letzten Jahren hatte ihre Zahl stark abgenommen. Nur noch vier Brüder beherbergte das kleine Kloster unweit der Northern Shoals.

Der kräftige Wind hatte die Wolkendecke aufgerissen, und der Mond stand hoch am Himmel und erhellte die angebrochene Märznacht. Es war spät geworden, zu spät für Marsha Haynes, die sich seit über zehn Jahren um den Haushalt im Kloster kümmerte. Heute hatte sie die Chorstühle im alten Kirchenschiff gereinigt und über alles die Zeit vergessen, denn auch im Refektorium war noch nicht geputzt worden. Erst als Pater Phillip nach der Abendandacht das Kirchenschiff durchquert hatte und in das Refektorium gegangen war, wo Marsha noch immer den steinernen Boden wischte, wurde ihr gewahr, dass es draußen längst dunkel geworden war. Inzwischen hatte sich auch bis in das Kloster herumgesprochen, was Gabriel am Leuchtturm bei South Bench widerfahren war.

»Marsha, ich kann Sie unmöglich bei der Dunkelheit mit dem Rad zurück in das Dorf fahren lassen«, sagte der Prior und wies auf die Fenster, durch die der helle Mondschein in das Refektorium fiel. »Nicht nach dem, was heute geschehen ist.«

»Es heißt, der Geist habe Gabriel gekreuzigt, wie unseren Herrn in Jerusalem«, antwortete Marsha und wrang den schmutzigen Putzlappen im Eimer aus.

»Das ist eine ungeheuerliche Blasphemie«, entrüstete sich der Prior. »Du glaubst doch nicht wirklich im Angesicht des Herrn, dass ein Geistwesen diese Freveltat beging!«

»Die Männer erzählen davon, dass die verdammte Seele des alten Belfour aus der Hölle zurückgekehrt ist und grausame Rache nimmt.«

»Marsha, gute Marsha«, schüttelte der Prior lächelnd den Kopf. »So viel Aberglaube im Hause Gottes. Es sind die Menschen, die verderbt sind und Böses tun. Böses mit den Geschöpfen, die uns Gott schenkt, und auch Böses zu Gott selbst. Doch der Tag des Jüngsten Gerichts wird alle Sünden zu Tage fördern, die auf den verderbten Seelen lasten, auf dass sie ewiglich brennen im Feuer der Verdammnis.«

»Wenn es nicht Belfour war, wer soll es sonst gewesen sein?«

»Es sind die Menschen, die Übles im Schilde führen«, erwiderte der Prior. »Gottes Geschöpfe sind grausam geworden, der Teufel hat sich ihrer bemächtigt. Wir können nur beten für unser aller Seelenheil.«

Marsha blickte auf den Mond, der durch das Seitenfenster blickte. »Lionel macht sich sicher schon Sorgen, und Tamy wird bald verrückt vor Angst«, sagte sie nachdenklich. »Es ist spät geworden, ich muss nach Hause.«

Der Prior lächelte. »Es kommt gar nicht in Frage, dass ich dich der Gefahr aussetze und dich den langen Weg zurück ins Dorf bei Dunkelheit mit deinem Rad fahren lasse. Nicht in diesen dunklen Tagen. Pater Thomas wartet auf dich im Hof. Er ist mit dem Lastwagen vorgefahren. Dein Rad ist bereits verladen.«

Marsha nickte dankbar. »Bis morgen, Hochwürden.«

»Gottes Segen, und kommt gut ins Dorf, Schwester. Ich bin gespannt, mit welcher Wohltat du unseren Gaumen morgen verwöhnen wirst.«

»Morgen steht Gemüse auf dem Speiseplan, Hochwürden.«

Der Prior lächelte. »Grüße deine Tochter und deinen lieben Mann und sage ihm, dass wir ihm danken, weil er das Aggregat trotz seines betagten Alters wieder zum Laufen gebracht hat. Wir stehen tief in seiner Schuld.«

Marsha winkte dem Prior noch einmal zu, ehe sie den Eimer mit dem Putzwasser in den Hof hinausleerte, wo Bruder Thomas in einem fünfzehn Jahre alten roten Ford F 150 auf sie wartete.

Otter-Brook-Damm, Keene, New Hampshire,

15. März 2007, 03.20 Uhr (Donnerstag)

»Was ist mit dir?«, fragte Duval, der durch das laute Stöhnen seines Begleiters aus dem Schlaf gerissen worden war.

»Diese … diese verdammten Schmerzen«, stöhnte Tyler. »Es ist, als wenn es dir die Eingeweide zerfrisst.«

Duval erhob sich und entzündete die Lampe. »Ich hol dir Wasser.«

»Lass mich zurück, ich glaube, ich bin am Ende«, flüsterte Tyler.

»Du bist wohl verrückt. Wir sind zusammen abgehauen und wir stehen das hier gemeinsam durch. Ich lass dich nicht zurück.«

»Die Bullen werden uns erwischen, du musst verschwinden, irgendwann wird jemand hier auftauchen …«

Duval kehrte mit einem Glas Wasser zurück, setzte sich auf den Rand der Couch und hob den Kopf seines Gefährten an. Langsam flößte er ihm Wasser ein.

»Lass mich zurück, ich halte dich nur auf.«

Frank Duval war am frühen Morgen aufgebrochen und hatte die Umgebung erkundet. Die Jagdhütte lag beinahe fünf Kilometer von der nächsten Ansiedlung entfernt. Mitten im Wald war er auf eine kleine Wohnsiedlung getroffen. Ein Haus, an dem alle Rollläden geschlossen waren und unter dessen Vordach ein roter Pontiac Aztek unter einer durchsichtigen Plane abgestellt war. Er hatte sich bis zu dem Haus geschlichen und die Umgebung erkundet. Ein Schild mit der Aufschrift For Sale und der Telefonnummer einer Immobilienfirma aus Keene bestätigte seinen Verdacht, dass das Objekt unbewohnt war. Als er den Wagen inspizierte, sah er, warum er hier zurückgeblieben war. Die gesamte Beifahrerseite war eingedellt, aber vielleicht war der Wagen ja doch noch fahrbereit. Die Beifahrertür war jedenfalls unverschlossen. Duval sah sich um. In der Umgebung war niemand zu sehen. Die zum Waldstück gelegene Hintertür schien kein besonderes Hindernis darzustellen. Er tastete sich an der Hauswand entlang und hebelte die Tür mit einem Schraubenzieher auf, den er zur Sicherheit mitgenommen hatte. Die Wohnung war leer geräumt, und außer der Einbauküche befand sich kein Mobiliar in den Zimmern. Den Schlüssel für den Wagen musste er nicht lange suchen, er hing am Schlüsselbrett neben dem Eingang zur Küche. Nachdem er das Haus durchsucht und nichts Brauchbares gefunden hatte, wandte er sich wieder dem Carport zu. Er entfernte die Plane und stieg über die Beifahrerseite in den Wagen. Der Schlüssel passte, und der Motor sprang beim ersten Versuch an. Sogar der Tank war noch über drei viertel gefüllt. Dieses Auto würde so schnell niemand vermissen, dachte er bei sich, als er sich in den Wald zurückzog und zur Jagdhütte zurückkehrte. Das einzige Problem war der lange Weg durch den Wald bis zum Wagen. Tyler war zu schwach, um einen Fußmarsch über fünf Kilometer zu überstehen. Also beschloss er abzuwarten, bis sich Tyler einigermaßen erholt hatte. Bestimmt hatte er sich ein paar Rippen gebrochen. Nur so waren Tylers infernalische Schmerzen zu erklären.

Als er zur Hütte zurückkehrte, schlief Tyler. Sein Kopf war heiß, er schwitzte. Zweifellos hatte er Fieber.

»Ich lass dich nicht zurück«, widersprach er Tylers erneuter Aufforderung. »Ich habe einen neuen Wagen für uns gefunden. Dir wird es bald besser gehen, dann brechen wir auf.«

Tyler schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn.«

»Ruh dich jetzt aus, morgen früh geht es dir sicher schon besser.«

»Ich glaube, dass es nichts mehr wird mit uns zwei«, versetzte Tyler. »Du musst die Frauen auf Martinique alleine verwöhnen. Ich fürchte, ich kann dich nicht begleiten.«

»Hör auf damit!«, gab Duval streng zurück, ehe er das Licht löschte.

Homicide Squad, Portland Police Department, Maine,

15. März 2007, 08.00 Uhr (Donnerstag)

»Sie hat ihren Namen von den unberechenbaren Strömungen und Untiefen vor der Südküste«, erklärte Cathy Ronsted, als sie zusammen mit Brian Stockwell in den Fahrstuhl stieg. »Es heißt, vor der Insel würde der Teufel persönlich seine brodelnde Suppe kochen.«

Brian lächelte. »Ich sehe, du hast dich gut auf unseren Trip vorbereitet.«

»Es gibt insgesamt achtundvierzig gemeldete Einwohner, dazu leben noch vier Mönche in einem alten Benediktinerkloster. Drei davon sind schon weit über siebzig, die können wir wohl als Täter ausschließen.«

»So weit würde ich nicht gehen, ohne sie zumindest mal überprüft zu haben. Das Opfer war nicht viel jünger. Und noch immer wird seine Frau vermisst.«

»Du hast recht. Ich bin gespannt, was uns dieser Logan zu erzählen hat.«

Der Fahrstuhl stoppte auf dem Dach, wo ein orange-rot lackierter Hubschrauber der Coast Guard auf sie wartete.

»Kenneth Logan ist der Master of the Island«, entgegnete Brian.

»Ich weiß, er ist quasi der Bürgermeister der Insel und übt dort auch die Polizeigewalt aus.«

Als die elektrischen Türen des Fahrstuhls sich öffneten, kniff sie die Augen zusammen. Gleißend helles Sonnenlicht empfing sie, dennoch war es zugig auf dem Dach. Die Temperatur lag bei drei Grad Celsius.

»Wir haben Glück mit dem Wetter«, unkte Brian. »Das gibt einen ruhigen Flug.«

»Es ist schon komisch«, antwortete Cathy. »Diese Inseln sind bei Sturm wie von der Welt abgeschnitten. Niemand kommt hinüber und niemand zurück ans Land.«

Brian lachte. »Sei froh, das engt den Kreis der Verdächtigen ein, dennoch wird das kein Spaziergang. Ich hatte vor ein paar Jahren einen Mord auf Graffham Island. Dort leben nur ein paar eisenharte Fischer. Es gibt keinen Strom und kein fließend Wasser. Die Insulaner sind schon ein ganz eigenwilliges Volk. Zehn Tage habe ich dort ermittelt, aber der Mörder wurde nie gefasst, obwohl ich sicher war, dass das Opfer im Streit von seinem Nachbarn umgebracht wurde.«

»Dann hast du ja diesmal Glück«, unkte Cathy. »Hell’s Kitchen ist an das Atlantikkabel angeschlossen, schließlich gab es dort mal eine große Fischfabrik.«

Als sie zum Hubschrauberlandeplatz gingen, öffnete der Co-Pilot des Sea King die Schiebetür zur Kabine. Cathy blieb stehen. »Ich dachte, die Spurensicherung fliegt mit uns«, sagte sie.

»Die sind schon vor einer Stunde gestartet«, erwiderte Brian. »Sie haben einen Hubschrauber des Police Department benutzt, weil sie ihre komplette Ausrüstung benötigen und hier zu wenig Platz ist.«

Cathy atmete auf. »Und ich dachte schon, ich muss selbst den Spurensicherungskoffer holen.«

Als sich die beiden an Bord befanden, startete der Pilot die Rotoren. Der Lärm in der Passagierkabine wurde nahezu unerträglich. Cathy hielt sich die Ohren zu.

»Also dann, auf in die Atlantische Hölle«, rief ihr Brian zu, als der Sea King langsam abhob, doch Cathy konnte ihn vor lauter Motorenlärm nicht hören.

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