Читать книгу Kleine Geschichte deutscher Länder - Ulrich March - Страница 11
ОглавлениеNachdem Norddeutschland vom ausgehenden 10. bis zur Mitte des 12. Jahrhundert eine eher krisenhafte Entwicklung nimmt (erneuter Vorstoß der Slawen bis zur Elbe, Gegensatz zur salischen Dynastie, staufisch-welfischer Bürgerkrieg), gewinnt es unter dem Welfenherzog Heinrich dem Löwen (1142–1180) wieder nationale und europäische Bedeutung. 1156 erhält Heinrich das im Bürgerkrieg zum größten Teil verlorengegangene Herzogtum Bayern zurückerstattet und wird damit der mit Abstand mächtigste Fürst des Reiches. Dank seiner – zunächst von seinem kaiserlichen Vetter Barbarossa tolerierten – rigorosen Machtpolitik steigt er in der Folgezeit zu einer königsgleichen Stellung auf, die schließlich das Machtgefüge des Reiches zu sprengen droht, so daß sein Sturz im Jahre 1180 aus der Sicht Barbarossas unvermeidlich wird.
Heinrich der Löwe hat den Schwerpunkt seiner Herrschaft stets in Norddeutschland gesehen. Bayern ist für ihn zwar erheblich wichtiger als die ausgedehnten welfischen Besitzungen in Schwaben und Italien, aber letztlich doch ein Nebenland. Das liegt unter anderem daran, daß sich damals gerade im Norden für einen machtbewußten Herrscher beträchtliche politische Chancen eröffnen. Von der soeben in Gang kommenden Ostsiedlung begünstigt und zunächst vom Kaiser unterstützt, betreibt Heinrich eine außerordentlich erfolgreiche Expansionspolitik im Ostseeküstenbereich, von der Kieler Förde bis zum Stettiner Haff. Zugleich stellt er überall im sächsischen Stammesgebiet die herzogliche Macht wieder her, vielfach in skrupellos unbekümmertem Zugriff. Er erwirkt von seinem Vetter das Recht der Bistumseinsetzung, das eigentlich zu den königlichen Befugnissen gehört, und macht davon sowohl im Alt- als auch im Neusiedelland ausgiebigen Gebrauch. Schließlich ist er als Gründer zahlreicher Städte hervorgetreten, von denen manche, allen voran Lübeck und München, eine glänzende Entwicklung genommen haben.
Heinrich der Löwe ist nicht nur in der deutschen, sondern auch in der europäischen Politik hervorgetreten, vor allem als wichtigster Mitstreiter Barbarossas bei dessen Italienfeldzügen. Wiederholt spielt das bayrisch-norddeutsche Lehnsaufgebot des führenden deutschen Fürsten eine entscheidende Rolle bei den Fahrten „über Berg“, so im Jahre 1155, als welfische Truppen die Kaiserkrönung Barbarossas militärisch gegen die Römer absichern. Heinrichs eigene politische Verbindungen reichen von England, dessen König sein Schwiegervater ist, bis Palästina, von Italien, wo die Welfen auf Grund ihrer engen verwandtschaftlichen Bindungen zum Haus d’Este über erheblichen Territorialbesitz verfügen, bis Skandinavien. Auf der Insel Gotland gibt es damals einen „Vogt“ Heinrichs des Löwen, über dessen Funktion wir nichts Näheres wissen. Allein die Tatsache zeigt jedoch, daß der Herzog lange vor der Gründung der Hanse die Möglichkeit erkannt hat, die der Ostseeraum in Verbindung mit der Ostsiedlung bietet. Ein weiterer Beweis ist die massive Förderung, die Lübeck durch Heinrich den Löwen erfährt. Eine Stadt, die eigentlich bereits im Jahre 1143 von einem Lehnsmann des Herzogs, Graf Adolf II. von Holstein, angelegt worden war, jetzt jedoch von Heinrich beansprucht und im Jahre 1158 nach einem Großbrand neu gegründet wird.
Die Wegnahme Lübecks kennzeichnet den politischen Stil des Welfen: Wo elementare Interessen auf dem Spiel stehen, wie hier die wirtschaftlichen Zukunftschancen im Ostseeraum, greift er rücksichtslos zu. Er hat auf diese Weise in der norddeutschen Tiefebene einen „Einheitsstaat“ geschaffen, der in mancherlei Hinsicht das spätere Preußen vorwegnimmt.
Dazwischen liegen sechs Jahrhunderte, in denen der Norden Deutschlands nur eine begrenzte Bedeutung für das überregionale Geschehen hat. Das Ziel der Ottonen, Norddeutschland zum Kerngebiet des Reiches zu machen, ist nicht erreicht worden. Das genaue Gegenteil ist eingetreten: Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit ist das nördliche Deutschland eine reichsferne Region, territorialpolitisch überdies seit dem Sturz Heinrichs des Löwen heillos zersplittert. Die Fürsten und die Freien Reichsstädte sind sich hier weitgehend selbst überlassen, Reichsorgane und Reichsinstitutionen mit überregionalen Befugnissen fehlen gänzlich, Reichsversammlungen und Reichstage finden woanders statt. Während beispielsweise in Regensburg oder in Nürnberg ein Reichstag nach dem anderen tagt, ist Lübeck, eine der bedeutendsten Reichsstädte und lange Zeit die zweitgrößte Stadt Deutschlands, nur von zwei Kaisern besucht worden, von Barbarossa und von Karl IV. Erst mit dem Aufstieg Preußens zur deutschen Führungsmacht, dem Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Staatenverband und der Gründung des preußisch dominierten Deutschen Reiches im Jahre 1871 verlagert sich der Schwerpunkt der deutschen Geschichte wieder eindeutig nach Norddeutschland.