Читать книгу Kleine Geschichte deutscher Länder - Ulrich March - Страница 6
I. Einführung
ОглавлениеLandesgeschichtsforschung ist wie Mikroskopieren oder Tiefseetauchen: sobald man sich ernsthaft damit beschäftigt, eröffnet sich eine bunte, faszinierende Welt, die einen eigentümlichen Reiz ausübt. Besonders das alte Reich, das nicht ohne Grund als verfassungsrechtliches „Monstrum“ gesehen wurde, weist eine solche Fülle bizarrer, ständig wechselnder Herrschaftsbildungen auf, daß sich der Betrachter wie beim Blick in ein Kaleidoskop vorkommt. Eintausendsiebenhundertneunundachtzig rechtlich selbstständige politische Einheiten sollen es zuletzt gewesen sein: europäische Großmächte wie Preußen oder Österreich, aber auch reichsunmittelbare Städte mit nur einigen hundert Einwohnern, Reichsritterschaften von weniger als einem Quadratkilometer Gesamtfläche und sogar Reichsdörfer mit nur einer Handvoll Bauernstellen. Prachtvolle Residenzen mit luxuriöser Hofhaltung hat es gegeben, etwa Dresden zur Zeit Augusts des Starken, häufiger aber noch Miniaturfürstentümer, deren Herrscher ihren Lebensunterhalt nur in fremden Diensten sicherstellen konnten, beispielsweise der Vater Katharinas der Großen, Fürst Christian August von Anhalt-Zerbst, der bei der Geburt seiner Tochter, der späteren Zarin, preußischer Stadtkommandant von Stettin war.
Bei den geistlichen Fürstentümern, den Freien Reichsstädten und den Bauernrepubliken zeigt sich die gleiche Bandbreite: Auf der einen Seite gab es die mächtigen, kulturell anspruchsvollen Fürstbistümer an Rhein und Main, Städte von hohem wirtschaftlichen und geistigen Rang wie Nürnberg oder Straßburg und reiche, selbstbewußte Marschenrepubliken wie Dithmarschen oder die Friesischen Lande, auf der anderen Seite völlig unbedeutende Reichsabteien, kümmerliche Ackerbürger-Städte oder entlegene „Waldstätten“ wie die drei Schweizer Urkantone.
Diese verwirrend-vielfältige Welt, die sich keine Phantasie farbiger ersinnen könnte, ist konkrete historische Wirklichkeit. Üblicherweise spricht man von Landesgeschichte, wobei dieser Begriff sowohl das regionale Geschehen selbst als auch eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft bezeichnet. Dabei unterscheidet man zwischen der Landesgeschichte einer bestimmten Region, also etwa der des Landes Tirol oder des Elbe-Saale-Raumes, und allgemeiner Landesgeschichte im Sinne von zusammenfassender Regionalgeschichte eines Großraums, etwa der Landesgeschichte Frankreichs oder Deutschlands.
Eine politisch-historische Region wird im Deutschen überwiegend als „Land“ bezeichnet. Der Begriff bezieht sich auf die frühen „Personenverbandsstaaten“ (Gaue, Stammesherzogtümer) ebenso wie auf die späteren Territorien und auf die Gliedstaaten der modernen Föderationen (Reichs- und Bundesländer). Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unterscheidet man zwischen geistlichen und weltlichen Ländern, ferner zwischen Herzogtümern, Markgrafschaften, Kurfürstentümern, Grafschaften (auch Land- und Pfalzgrafschaften), Fürstentümern und kleineren reichsunmittelbaren Herrschaften, zu denen neben Reichsritterschaften und Reichsstädten auch die Bauernrepubliken des westlichen Alpengebiets und der Nordseeküste gehören.
Alle diese „Länder“ haben ihre eigene Legitimation und ihre eigenen Kompetenzen und spielen grundsätzlich eine doppelte historische Rolle: Sie besitzen einerseits ihre eigene Geschichte, und sie nehmen andererseits teil an der allgemeinen Entwicklung in Deutschland – dies umso mehr, als die politische Vorstellungswelt nahezu ununterbrochen im Zeichen des föderalen Staatsgedankens steht und die einzelnen Länder sich in aller Regel als Teile eines größeren Ganzen empfinden. Deutsche Geschichte verläuft somit prinzipiell zweigleisig, nämlich auf regionaler und nationaler Ebene zugleich, wobei letztere sich keinesfalls mit dem deutschen Siedlungsgebiet zu decken braucht. Aufs Ganze gesehen, ist der regionale Einfluß auf die nationale Entwicklung beträchtlich; vor der Mitte des 10. Jahrhunderts und dann wieder vom 14./15. bis zum 19. Jahrhundert fallen die Entscheidungen überwiegend in den Regionen.
Die Einwirkung der Länder auf die jeweilige Zentrale vollzieht sich in doppelter Weise: Einmal sind die beiden Ebenen institutionell miteinander verklammert; so ist etwa durch den alten Reichstag, das Kurfürstenkollegium oder den heutigen Bundesrat, mehr noch durch den des Bismarckreiches gewährleistet, daß die Länder unmittelbar an der Gestaltung der nationalen Politik beteiligt sind. Zum anderen wird die obere Ebene von der unteren ständig wie aus einem unerschöpflichen Reservoir gespeist, da ununterbrochen geistige und politische Kräfte regionaler Herkunft, verkörpert in einzelnen Personen oder Personengruppen, etwa Angehörigen von Dynastien oder Funktionseliten, in allgemeine Zusammenhänge hineinwachsen und nationale Geltung erlangen.
Im Zeitalter der europäischen Einigung liegt es nun nahe, die Perspektive noch mehr auszuweisen und neben der nationalen auch die kontinentale Ebene ins Auge zu fassen. Wir erkennen heute klarer als frühere Generationen, daß rein nationale Geschichtsbetrachtung häufig zu kurz greift, da die Geschichte der europäischen Völker engstens mit der des gesamten Kontinents verflochten ist. Dessen Entwicklung läßt keine seiner Teilregionen unberührt; umgekehrt ist die Geschichte besonders der großen Völker zum guten Teil auch europäische Geschichte. Soweit also die deutschen Regionen die nationale Geschichte beeinflussen, wirken sie zugleich über diese hinaus.
Daneben entwickeln manche historische Regionen Deutschlands zeitweilig auch direkten Einfluß auf die Geschichte des europäischen Auslands, etwa infolge dynastischer Verwandtschaftsbeziehungen oder staatsrechtlicher Verbindungen wie der hannoversch-englischen, sächsisch-polnischen oder schleswig-holsteinisch-dänischen Personalunion. Jedenfalls haben die deutschen Länder die europäische Geschichte in stärkerem Maße mitgeprägt als etwa manche am Rand gelegenen Kleinstaaten des Kontinents. Deutsche Landesgeschichte hat demnach neben der regionalen und der nationalen noch eine dritte Dimension: die europäische.
Eine knappe Gesamtdarstellung der so verstandenen deutschen Landesgeschichte ist angesichts der kaum überschaubaren Stoffülle nur unter Beschränkung auf bestimmte Schwerpunkte möglich. Bei allem Bemühen, die objektiv wesentlichen Bedeutungszusammenhänge in den Vordergrund zu stellen, lassen sich dabei die Auswahlkriterien naturgemäß nicht völlig von der hier gewählten Betrachtungsperspektive lösen. Wer, um mehr zu erfahren oder diese Perspektive kritisch zu hinterfragen, tiefer in die Materie eindringen möchte, wird weitere landesgeschichtliche Literatur heranziehen müssen, die über das Schriftenverzeichnis erschlossen werden kann.
Die Vielfalt und Komplexität des Materials machen eine klare, übersichtliche Gliederung des Ganzen erforderlich. Die Darstellung ist im großen chronologisch aufgebaut: Jedes der folgenden Kapitel bezieht sich auf eines der historischen Zeitalter, die durch die Epochenjahre 1180, 1648, 1871 und 1945 festgelegt sind (Zeit der Stämme, der Territorien, der souveränen Einzelstaaten, der Länder des Deutschen Reiches und der Bundesrepublik). Die einzelnen Kapitel sind gleichartig aufgebaut: Zunächst werden die Grundzüge der jeweiligen Epoche dargestellt, der Gesamtzusammenhang zwischen regionaler und überregionaler Entwicklung. Es folgt dann – jetzt nicht mehr zeitlich, sondern räumlich geordnet – ein allgemeiner Überblick über die Länder der betreffenden Epoche. Schließlich werden in einer Reihe von Einzelabhandlungen, ebenfalls in geographischer Anordnung, solche Länder und Regionen besonders hervorgehoben, die in der Epoche nationale oder europäische Geltung erlangt haben.
Das Aufbauprinzip der einzelnen Kapitel lehnt sich an die naturräumliche und siedlungsgeographische Gliederung des deutschen Sprachgebietes an, das sich über drei Großregionen erstreckt: über die Norddeutsche Tiefebene, die Mittelgebirgsregion und die Alpen einschließlich ihres nördlichen Vorlandes. Von den sechs „Altstämmen“, aus denen sich das deutsche Volk gebildet hat, besiedeln je zwei eine dieser Großregionen: die Friesen und (Nieder-)Sachsen den Norden, die Franken und Thüringer die Mitte und die Alemannen und Bayern den Süden. Östlich der Siedlungsgebiete dieser Stämme schließt sich das ehemals slawische Neusiedelland jenseits von Elbe, Saale, Bayerischem Wald und Enns an, das im Zuge der Ostsiedlung im Norden bis zur Memel, im mitteldeutschen Bereich bis Oberschlesien und im Süden bis zur Ostgrenze des Burgenlandes ausgedehnt wird.
In allen Kapiteln werden zunächst der Nordraum, dann die Mitte und zum Schluß der Süden behandelt. Innerhalb dieser drei Großregionen schreitet die Darstellung von West nach Ost fort, so daß sich insgesamt folgende Reihenfolge ergibt:
1.Friesische Länder (Küstenregion der Nordsee)
2.Niedersächsische Länder (Nordwestdeutschland einschließlich Westfalen und Sachsen-Anhalt)
3.Länder des nordostdeutschen Neusiedelgebietes (Küstenraum der Ostsee)
4.Fränkische Länder (fränkisches Siedlungsgebiet im weitesten Sinne: rheinische, moselfränkische und rheinfränkische Gebiete, Hessen, Mainfranken)
5.Thüringen
6.Ostmitteldeutsche Länder (Neusiedelgebiet östlich der Saale)
7.Schwäbisch-alemannische Länder (Südwestdeutschland und der angrenzende Alpenraum)
8.Bayern (mittlerer Alpen-Donau-Raum)
9.Österreich (östlicher Alpen-Donau-Raum)
Berücksichtigt ist nur das geschlossene deutsche Sprachgebiet, nicht also das Baltikum und Böhmen, obwohl beide Regionen viele Jahrhunderte lang Anteil an der deutschen Geschichte haben. Selbstständig gewordene oder abgetretene Gebiete bleiben im allgemeinen vom Zeitpunkt ihres Ausscheidens an außerhalb der Betrachtung, doch werden die Geschichte der Schweiz seit 1648 und die Österreichs seit 1866 in einem Exkurs dargestellt.