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I.Kirche und Kultur im Alpenrandraum (Reichsabteien St. Gallen und Reichenau, Erzbistum Salzburg)

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Nirgendwo in Mitteleuropa stößt man auf so viele Kirchen, Kapellen, Klöster und Flurheiligtümer, Heiligenfiguren, Kreuzsäulen und Madonnenbilder wie im Donau-Alpen-Raum, besonders in Tirol, Oberschwaben, Ober- und Niederbayern und weiter donauabwärts. Schon rein äußerlich läßt sich erkennen, daß diese Region über viele Jahrhunderte hinweg zutiefst vom christlichen Glauben geprägt worden ist, daß hier kirchliches Leben und kirchliche Kultur fest verankert sind. Die Region wird bereits sehr früh christianisiert, nach ersten Ansätzen in der Römerzeit im wesentlichen zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert, also viele Jahrhunderte vor Nord- und Ostdeutschland. In karolingischer und ottonischer Zeit erweist sich gerade das Gebiet nördlich der Alpen als Ausstrahlungsraum abendländischer Kultur, wobei Klöster und Bistümer die eigentlichen Strahlungszentren darstellen.

Gegen Ende des 6. Jahrhunderts treten hier die ersten fränkischen und iro-schottischen Wanderprediger auf, die teilweise noch an ältere christliche Traditionen anknüpfen können. Reste des antiken Christentums lassen sich vor allem in Regensburg, Augsburg und Salzburg nachweisen. Manche der einwandernden Alemannen und Bayern dürften den christlichen Glauben somit gleich angenommen haben; in Säben (Tirol) bleibt sogar ein römischer Bischofssitz erhalten, der später nach Brixen verlegt wird. Die eigentliche Kirchengeschichte des Nordalpenraumes setzt jedoch erst mit dem Auftreten von Gallus, Kolumban, Fridolin, Pirmin, Magnus, Emmeram, Rupert, Vivilo und Korbinian ein, mit der Gründung der Bistümer Konstanz (um 600) für das alemannische und Regensburg (Anfang des 8. Jahrhunderts) für das bayerische Stammesgebiet und mit der Schaffung der bayerischen Bistumsorganisation durch Bonifatius im Jahre 739 (Einrichtung der Bistümer Passau, Freising und Regensburg sowie des späteren Erzbistums Salzburg).

Gesamteuropäische Bedeutung gewinnt zunächst die Reichsabtei St. Gallen. Im Jahre 612 gründet der heilige Gallus eine Mönchsniederlassung, in der er mit zwölf irischen Gefährten – nach dem Beispiel Christi und der zwölf Apostel – bis zu seinem Tode um die Jahrhundertmitte lebt. Daraus entwickelt sich im Laufe des 8. Jahrhunderts ein Benediktinerkloster, das von den karolingischen Königen besonders gefördert wird und den Status einer Reichsabtei erhält. Vor allem unter Abt Grimalt (841–872), dem Kanzler Ludwigs des Deutschen, ist die Abtei, die inzwischen in der heutigen Ostschweiz große Besitzungen erworben hat, eines der führenden Kulturzentren des Kontinents.

In St. Gallen, das im 9. und 10. Jahrhundert durch seine umfangreiche Bibliothek und seine hochrangige Buchmalerei berühmt ist, herrscht während der gesamten spätkarolingischen und ottonischen Epoche reges geistiges Leben. Aus der großen Zahl der dort tätigen Mönche ist neben dem Historiker und Dichter Ratpert und dem Maler, Architekten und Musiker Tutilo vor allem Notker der Stammler hervorzuheben. „Notker Balbulus“, wie er offiziell heißt, lebt von etwa 840 bis 912 und wirkt in St. Gallen als Lehrer, Bibliotheksleiter, Dichter und Historiker. Außer den „Gesta Caroli magni“, einer Anekdotensammlung zu Karls Leben, hat er rund vierzig Sequenzdichtungen verfaßt; neben Roswitha von Gandersheim gilt er als wichtigster Autor deutscher Literatur in lateinischer Sprache.

Auf der Bodenseeinsel Reichenau, sechs Kilometer westlich von Konstanz, gründet im Jahre 724 der Wanderbischof Pirmin im Zusammenwirken mit dem fränkischen Hausmeier Karl Martell eine Abtei, die sich vor allem dank Unterstützung durch Karl den Großen ebenfalls zu einer der bedeutendsten kulturellen Stätten Europas entwickelt. Von hier gehen insbesondere für Süddeutschland vielfältige geistige Impulse aus, die später unter der Epochenbezeichnung „Karolingische Renaissance“ zusammengefaßt werden. Die Bibliothek erreicht einen Bestand von 4000 Handschriften, die Buchmalerei bewegt sich auf ähnlichem Niveau wie die von St. Gallen, die Monumentalmalerei sucht in der damaligen Zeit ihresgleichen vergeblich. Ein beträchtlicher Teil der damals geschaffenen Wandgemälde ist erhalten geblieben und kann bis zum heutigen Tag in den romanischen Stiftskirchen Peter und Paul (Niederzell) und St. Georg (Mittelzell) besichtigt werden.


Reichenau: Kirche mit ottonischen Wandmalereien

Wenngleich die Abtei bis weit in das Hochmittelalter hinein bedeutsam bleibt, fällt ihre Blütezeit doch in die Karolingerepoche; die berühmtesten Äbte, Haito und Strabo, treten in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts auf. Der letztere, eine hochgebildete Persönlichkeit, ist Gelehrter, Erzieher und Dichter am Aachener Hof und hat unter anderem eine weit verbreitete Abhandlung über den Gartenbau verfaßt („De cultura hortorum“).

Die mittelalterliche Kirchengeschichte Regensburgs beginnt mit der Ankunft des Wanderbischofs Emmeram, der hier um 700 zunächst eine bescheidene Zelle errichtet, aus der sich die große Benediktinerabtei St. Emmeram entwickeln sollte. Hier haben seit der Einbeziehung Bayerns in das Reich, vor allem während der zahlreichen Regensburger Hof- und Reichstage, immer wieder Kaiser und Könige residiert; die Abtei verfügt während des ganzen Mittelalters über umfangreichen Grundbesitz und über vielfältige Beziehungen nach Österreich, Ost- und Südosteuropa.

Bald nach 700 entsteht auf Initiative der Agilolfinger, aber ohne die Mitwirkung Roms oder der Reichskirche in Regensburg ein für ganz Bayern zuständiges Landesbistum, das zunächst von Emmeram, nach dessen Märtyrertod von Bischof Rupert geleitet wird. Auch nach der Reorganisation der bayerischen Kirche durch Bonifatius, jetzt im Einvernehmen mit dem Reich und dem Heiligen Stuhl, wahrt der Bischof von Regensburg, der in der Hauptstadt residiert und sich stets in unmittelbarer Nähe des Herzogs befindet, seinen Vorrang gegenüber seinen Amtsbrüdern in Freising, Passau und Salzburg. In der Blütezeit Bayerns unter Herzog Tassilo III. (748–788) kommt es zu enger Zusammenarbeit zwischen politischer und kirchlicher Führung: Während der Herzog den bayerischen Siedlungsausbau weit nach Osten vorantreibt, bis in die Gegend des Wienerwaldes, bemüht sich der Bischof um die kirchliche Erschließung des Neusiedellandes. Zugleich setzt eine umfangreiche Missionstätigkeit ein; dabei spielen die damals neu gegründeten Klöster Innichen und Kremsmünster eine wichtige Rolle.

Nach dem Sturz Tassilos und dem Ende der agilolfingischen Dynastie tritt Salzburg an die Stelle von Regensburg. Karl der Große hat kein Interesse daran, Hauptstadt und Hauptkirche seines Widersachers zu fördern, stattet dafür aber Salzburg mit umfangreichen Privilegien aus, die später die Bildung eines verhältnismäßig großen Territoriums begünstigen. 798 wird Salzburg zum Erzbistum erhoben und damit Hauptstadt einer Kirchenprovinz, deren Grenzen genau denen des bayerischen Stammesgebietes entsprechen; die Bistümer Säben/Brixen, Regensburg, Freising und Passau werden dem neuen Erzstift unterstellt.

Auch Salzburg hat eine bedeutende überregionale Rolle gespielt. Das Salzburger Becken ist schon in vorgeschichtlicher Zeit und dann unter römischer Herrschaft eine Kulturlandschaft mit vielen Verbindungen in alle Himmelsrichtungen. An der Stelle des heutigen Doms, in der Nähe einer von den Bayern nicht zerstörten römischen Restsiedlung unterhalb des Burgberges, baut der heilige Rupert um die Wende zum achten Jahrhundert die erste Bischofskirche. Zugleich errichtet er das Benediktinerinnenstift Nonnberg, das erste deutsche Frauenkloster überhaupt.

Hauptaufgabe des neuen Erzbistums ist von Anfang an, verstärkt dann seit der Zeit Ottos des Großen, die Mission im Osten. Zielgebiet ist vor allem der Theiß-Donau-Raum, wo die Salzburger Missionare jedoch auf die Konkurrenz des Erzbischofs Methodius stoßen, der von Konstantinopel in diese Region entsandt worden ist. Als die Plünderungsfeldzüge der Ungarn nach Westen einsetzen, kommt die Mission zeitweilig zum Erliegen, und auch die bayerische Mutterkirche nimmt schweren Schaden. Bei der Niederlage von Preßburg im Jahre 907 verliert sie auf einen Schlag drei ihrer fünf Bischöfe, die alle im bayerischen Heer mitgekämpft haben; auch der Salzburger Erzbischof Thremo kommt später beim ersten Kreuzzug um. Nach der siegreichen Schlacht auf dem Lechfeld (955) setzt die Ostmission sofort wieder ein, bei der jetzt vor allem das Bistum Passau, dessen Sprengel im 11. Jahrhundert bis zur Leitha reicht, die führende Rolle spielt. Erst 1072 wird in Gurk ein eigenes Bistum für das Neusiedelland errichtet und ebenfalls dem Erzstift Salzburg unterstellt.

Auch auf dem Feld der Laienkultur hat die frühe bayerische Kirche Wesentliches geleistet. In Freising entsteht als ältestes Buch der deutschen Literaturgeschichte der „Abroganz“, ein deutsch-lateinisches Synonymenlexikon, ferner das Geschichtswerk des Bischofs Otto von Freising, der sich vor allem mit der Stauferzeit befaßt hat und als bedeutendster mittelalterlicher Historiker Süddeutschlands anzusehen ist. Im Kloster Tegernsee wird der „Ruodlieb“ verfaßt, der älteste Roman in deutscher Sprache, am Hof des Bischofs von Passau schließlich um die Wende zum 13. Jahrhundert das „Nibelungenlied“, eines der größten Werke der deutschen Dichtung des Mittelalters.

Daß Passau Entstehungsort des Nibelungenepos ist, erscheint kaum als Zufall. Nicht nur materielle, sondern auch geistige Güter wandern seit jeher donauauf- und abwärts; dieser Austausch kennzeichnet ebenso wie die weit ausgreifende Ostsiedlung, die Ungarn- und Slawenmission und die Kreuzfahrerzüge entlang der Donau die überregionale Bedeutung der bayerischen Stammgeschichte. Bereits der Inhalt des „Nibelungenliedes“ ist typisch für die geographisch-kulturelle Gesamtsituation: Die Nibelungen ziehen, von Worms kommend, donauabwärts, folgen also dem Lauf des Stromes in seinem gesamten mittleren Bereich und damit der bayerischen Siedlungs- und Kulturbewegung, bevor sie im Ungarland, am Hof des Hunnenkönigs Etzel, ihr Schicksal ereilt.

Am Rande sei noch erwähnt, daß Klöster und Stifte im Mittelalter auch Herbergen für Reisende sind und daß die Nordalpenregion als Durchgangsland sowohl für den West-Ost- als auch für den Nord-Süd-Reiseverkehr in dieser Hinsicht viele Jahrhunderte lang große Bedeutung gehabt hat. Für die geistlichen Herren ist es stets eine besondere Ehre, hohe Herrschaften oder gar den königlichen Hof als Gäste empfangen und bewirten zu dürfen – auch wenn sie nach deren Abreise sicher häufig drei Kreuze geschlagen haben.

So groß und vielfältig die Bedeutung der bayerischen Kirche von der Karolinger- bis zur Stauferzeit gewesen ist, so kommt man doch um die Feststellung nicht herum, daß sie ihre weitgesteckten Expansions- und Missionsziele nicht erreicht hat. Im südöstlichen Alpengebiet stoßen die bayerischen Missionare von vornherein auf die Konkurrenz der von Aquileja ausgehenden Mission, und um die Jahrtausendwende tritt Ungarn durch die Gründung des eigenen Erzbistums in direkte Verbindung zum Heiligen Stuhl. Die Aktivität Salzburgs bleibt daher in der Folgezeit – wie die Magdeburgs nach der Gründung des polnischen Erzbistums Gnesen – im wesentlichen auf die Ausgangsregion beschränkt. Die hochgesteckten Ziele Ottos des Großen haben sich nicht verwirklichen lassen: Von den drei Missionserzbistümern des Reiches hat nur Hamburg die ihnen zugedachte übernationale Aufgabe erfüllt und das auch nur bis zum Ende des Hochmittelalters.

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