Читать книгу Wie ich in China ein Kind bekam - Ulrich Wessinger - Страница 11
Wohnung in Shanghai
ОглавлениеEs war ein sonniger, heißer Tag, Anfang August und ich fühlte mich wie ein junger Mann, der seinem tristen Vaterhaus Adieu sagt und frohgemut in die Welt hinauszieht mit dem Gefühl, sein Glück zu machen. Ich fühlte einen offenen blauen Himmel in mir, ein unbeschwertes Gefühl von Freiheit und die Lust, herumzutollen wie ein junges Pferd. Ich steckte meine Habseligkeiten und mein Fahrrad in einen kleinen Bus meiner Schule, der mich nach Shanghai brachte, wo ich an einem Treffpunkt von einem anderen Transporter der Shanghai Dianji University abgeholt wurde.
Gao begleitete mich, aber dann, als wir in Shanghai angekommen waren und ich meine Sachen in den Wagen meines neuen Arbeitgebers umlud, sagte sie plötzlich, sie wolle wieder umkehren und mit demselben Bus zurück nach Hause fahren. Und dabei hätte ich ihr so gerne meine neue Wohnung gezeigt und es war eigentlich auch so geplant, dass sie mitkam, um die Wohnung anzuschauen. Übernachten wollte sie auf keinen Fall, aber jetzt wollte sie nicht einmal mehr die Wohnung sehen. Es war nicht leicht für sie gewesen, als ich ihr erzählt hatte, dass ich mich zu einer jungen Frau hingezogen fühlte. Aber weil ich ihr sagte, dass ich sie heiraten wolle, trug sie es mit Fassung und zeigte eine Art Beschützerinstinkt für diese Frau, die sie wohl als ihre jüngere Schwester oder Genossin begriff. Wenn ich nur ein sexuelles Abenteuer mit einer Geliebten gesucht hätte, wäre ich heftig von ihr angegriffen worden. Dass sie ihren Freund abtreten musste an eine jüngere Frau, tat ihr weh, aber dann beschied sie sich damit, nur noch eine sogenannte gute Freundin zu sein und sich so langsam auf den Abschied vom Leben vorzubereiten. Als ich mich dafür entschieden hatte, alles auf eine Karte zu setzen und nach Shanghai zu ziehen, hatte Gao es sich ernsthaft überlegt, mit zu ziehen. Denn sie fühlte sich einsam in Wuxi, weitab vom kulturellen Leben. Sie wollte gerne Franzosen kennen lernen, in Konzerte gehen, Opern anschauen.
Aber in China war die Rente Ortsabhängig und man konnte nicht einfach seinen Wohnsitz verlegen, ohne die Altersversorgung zu verlieren. Sie überlegte sich sogar deswegen, ihre Wohnung zu verkaufen, die jetzt ein Vielfaches des Preises wert war, zu dem sie vor fast 20 Jahren gekauft worden war. Aber dann konnte sie sich doch nicht dazu aufraffen. Ein bisschen traurig hatte ich sie dort an der Straße zurückgelassen, ich hatte versucht, sie zu umarmen, aber sie hatte mich abgewehrt. Berührung in der Öffentlichkeit war für sie absolut verboten, ganz im Gegensatz zur jüngeren Generation, die diese alten Tabus längst abgestreift hatte. Ich schaute mich noch einmal um, als der kleine Bus losfuhr und sah ihr schönes rundes Gesicht im Schatten des Baumes, der an der Straße stand.
Im Bus saß eine junge Frauen, die mich freudig auf Englisch begrüßte und sagte, sie sei von der Fremdsprachenabteilung und mitgekommen, um mir ein bisschen zu helfen, mich einzufinden in die neue Umgebung.
Die Wohnung war gar nicht schlecht. Es gab ein Schlafzimmer, eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Bad, alles mit Möbeln eingerichtet. In der Küche gab es eine Waschmaschine, einen großen Kühlschrank und eine Kochplatte, Außerdem einen großen, rotbraun lackierten Holztisch mit vier Stühlen, im Wohnzimmer stand ein hübsch in rosigen Blümchen bekleidetes Sofa, ich ließ mich hineinfallen. Oh, da fiel man aber ein bisschen tief. Ausgeleiert das Ding, naja…
Dort auf dem kleinen Schrank ruhte ein Fernsehkasten, ein ziemlich großes altes Monstrum. Im Schlafzimmer standen zwei Betten, die man sicher zu einer Art Ehebett zusammen schieben konnte. Neben dem Bett stand der Schreibtisch, darauf ein Computer. Internetzugang wie sämtliche Kosten für Strom und Heizung waren frei. Die Wohnung lag im vierten Stock eines Wohnblocks auf dem Unigelände. Zum Glück musste ich nicht dort wohnen und arbeiten, wo ich mein Vorstellungsgespräch hatte. Die Universität hatte zwei Zentren, dies war der südliche Campus.
„Und so funktionieren die Kungtiaus“ sagte die junge Frau, die sich Anna nannte. Sie hatte ein Fernsteuerungsgerät in der Hand, richtete es auf eine Maschine über mir an der Wand im Wohnzimmer und drückte auf die Taste, aber ….an der Kungtiau rührte sich nichts. Sie drückte und fummelte herum….keine Wirkung. „Da ist was nicht in Ordnung“ sagte sie bekümmert. „Mal sehen, ob die anderen in Ordnung sind“ „Kungtiau“ werden Windmaschinen genannt, die im Sommer kühlen und heizen im Winter. Sie sind durch Schläuche mit ihren Antriebsmaschinen verbunden, die an der Außenwand unterhalb der Fenster befestigt werden. Überall in der Stadt sieht man diese Maschinen wie hässliche Auswüchse an den Fassaden hängen. Jedenfalls bei älteren Häusern, die neuen haben sie geschickt in extra gebauten Nischen versteckt. In Shanghai ist es von Mitte Juni bis Oktober so heiß, über 30 Grad, dass man Kühlung unbedingt braucht. Die anderen Maschinen funktionierten, jedenfalls so einigermaßen und stießen keuchend kühle Luft aus, die aber nicht so kalt war, wie sie hätte sein sollen. Die Maschinen sahen ziemlich alt aus. Anna rief die Ai an. „Ai“ wurde die Frau genannt, die unten im Erdgeschoss neben dem Eingang in einem kleinen Raum mit Schlafkabine residierte und für alles und jedes zuständig war und alles unter Kontrolle hielt. „Ai“ werden aber auch Putzfrauen genannt, die für Privathaushalte arbeiten oder Haushälterinnen, die sich um die Kinder und das Essen kümmern.
„Die kommen heute noch vorbei und reparieren die Maschinen“ sagte Anna nach ihrem Gespräch mit der Ai. Dann zappte sie noch durch den Fernseher, der tatsächlich funktionierte und zeigte, wie ich das Telefon bedienen konnte, mit einer Karte nämlich. Außerdem setzte sie den Computer in Betrieb. Leider war die Verbindung zum Internet nicht herzustellen. „Da musst du wahrscheinlich warten bis zum Semesteranfang“ sagte sie. “Das tut mir leid. Die Techniker sind alle in Ferien“. Anna war sehr bemüht, mir gefällig zu sein und flatterte aufgeregt und liebreich lächelnd um mich herum. Ein neuer Lehrer aus dem Westen war ein großes Ereignis.
„Aber was ist denn das?“ Ich hatte das in der Aufregung, meine neue Wohnung zu erkunden, noch gar nicht so richtig wahrgenommen. Ich griff nach den Stäben, dann rüttelte ich daran, sie waren stabil, unverrückbar. Chromglitzernde Gitterstäbe standen wie eiserne Wächter vor allen Fenstern. Man konnte sich also nicht aus dem Fenster beugen. Man war innen gefangen. „Das ist zur Sicherheit“ sagte Anna. „Manchmal klettern Diebe Fassaden hoch. Die Gitterstäbe sind in allen Lehrerwohnungen im Haus“ „Gibt es denn so viele Diebe?“ „Naja, es kommt schon manchmal vor“ sagte sie kleinlaut. Oh mein Gott, das war ja furchtbar. Ich war eingeschlossen….Ich sah mich schon auf der Flucht über die Dächer, verfolgt von der Polizei, die Kugeln hinter mir herschickte. Aber wie hier rauskommen?
Später machte Anna einen kleinen Rundgang mit mir über den Campus. Es gab Parks, Wiesen und Bäume auf dem Unigelände. Dankbar war ich vor allem für die vielen Bäume entlang der Wege, die jetzt so angenehm kühlen Schatten spendeten. Das Ganze war umgeben von einer hohen Mauer und bewacht an den Ausgängen von blau Uniformierten. Das wirkte nicht sonderlich bedrohlich auf mich. Auch in Wuxi hatte ich in einem Wohnviertel gelebt, das so bewacht war. Fast alle Chinesen wohnen in umzäunten Gehegen. Die Chinesen nennen sie „Tschau tschü“, die Westler „Compound“. Es gibt tatsächlich ein gewisses Maß an Sicherheit, wenn alle Herein-und Hinausgehenden von wachsamen Augen beobachtet werden. Natürlich dient es auch der Kontrolle der Einwohner. In allen diesen Gehegen gibt es von den Bewohnern gewählte Komitees, in denen in der Regel zumindest ein Parteimitglied sitzt.
Mitten auf dem Campus lag der Basketballplatz, ungefähr zweihundert Meter lang, ringsum von Maschendrahtzäunen umgeben und direkt daneben ein großer quadratischer Rasenplatz, sehr gepflegt und mittendrin die Statue Maos auf einem drei Meter hohen Podest. Überlebensgroß, militärisch aufrecht, im schlichten Gewand des einfachen Soldaten wies er milde und weise lächelnd mit einer hoch erhobenen Hand die Richtung an, in der sich das Ganze hier bewegen sollte. Unten am Boden vor ihm standen in einem akkurat gezirkelten Halbkreis rot flammende Blumen. Von allen vier Seiten liefen Fußwege sternförmig auf den Helden zu. Mao schaute direkt auf das Verwaltungsgebäude der Universität. Dort residierte der Präsident der Uni, das zweistöckige Gebäude sah allerdings schon ziemlich verwittert aus. Aber Anna sagte, ein ganze neue Uni werde in Kürze gebaut, leider ziemlich weit draußen, schon außerhalb der Stadt, draußen am Meer.
Neben dem Rasenplatz stand die Mensa, ein großer Glas-Betonkasten, vierstöckig. Und hinter dem Basketballplatz reihten sich die Wohnblöcke der Studenten auf. Ganz in Weiß gehaltene Betonkästen, Wohnwaben achtstöckig aufeinandergestapelt, kleine Zellen, die alle Balkone hatten, in jeder Zelle wohnen sechs bis acht Studenten in Doppelstockbetten. Die Balkone waren fast alle leer, auf manchen hingen Hemden und Hosen an Leinen aufgehängt herum. Semesterferien, nur wenige Studenten waren jetzt noch hier. Wie auch der Basketballplatz völlig verwaist in der Mittagshitze vor sich hin brütete. Um die zehntausend Studenten waren in den Blocks untergerbacht. Hinten links ragt ein Wohnturm 20 Stockwerke hoch. Anna deutete in eine ganz andere Richtung: „Dort hinten in dem großen grauen Hochhaus ist das Büro der Deutschabteilung im zweiten Stock. Aber da ist zurzeit niemand da. Ich arbeite im fünften Stock für die Fremdsprachenabteilung. Wenn du irgendeine Frage oder ein Problem hast, rufst du mich an oder kommst vorbei“ Sie hatte wieder ein süßes Lächeln auf dem Gesicht und winkte mir zu während sie unter den Bäumen davonhüpfte. Das war aber ein wirklich freundlicher Empfang, dachte ich.
Das Treppenhaus sah ziemlich heruntergekommen aus, Verputz bröckelte von der Wand, Schuhsohlen hatten an den Wänden Abdrücke hinterlassen, aus einem grauen Kasten hoch oben an der Wand hingen jede Menge graue Kabel in verworrenem Durcheinander heraus wie die Eingeweide eines Roboters. Überhaupt war das ganze Haus in einem vergammelten Zustand. Es musste aus den fünfziger Jahren sein. Es war hufeisenförmig um einen Innenhof angelegt, in dem kleine Bäume und verwilderte Büsche herumstehen. Im vorderen Flügel wohnten Lehrer, in den beiden Seitenflügeln Studenten. „ForeignTeachers“ stand in großen schwarzen Lettern auf goldenem Schild über den Eingängen zu den Etagen im Vorderhaus. Hier wohnten die ausländischen Lehrer. Die weiße schwere Eisentür fiel hinter mir krachend in Schloss.
In meiner Wohnung gab es keine Lampen an der Decke, nackte Glühbirnen baumelten herunter. Die Fenster waren verrostete Eisenteile, die qietschten. Trotzdem machte die Wohnung einen freundlichen Eindruck, das lag vor allem an dem Fußboden, der aus Holz war, aus echtem Holz. Ich warf mich auf das Sofa, legte die Füße auf das niedrige, ganz hübsche ovale Tischlein davor, streckte mich aus. 800 Euro im Monat für 16 Stunden in der Woche, drei Monate bezahlten Urlaub im Jahr und die Wohnung frei. Das war gar nicht schlecht und hier in China viel Geld. Uniprofessoren und Ingenieure verdienten soviel, die Ingenieure hatten meistens sogar mehr, aber Bauarbeiter und Fabrikarbeiter bekamen nur 150 im Monat und hatten dafür zehn Stunden zu arbeiten und meistens nur einen Tag frei in der Woche, wenn sie überhaupt einen Tag frei hatten. Ein gutes Essen in einem Restaurant kostete zwei bis fünf Euro. Ein schönes Hemd ebenfalls 3 bis 10 Euro. Allerdings waren die Unterschiede zwischen Reich und Arm immens, was sich auch an den Preisen zeigte. Es gab im Stadtzentrum etliche Luxuskaufhäuser, die jedoch ziemlich leer aussahen, mit vielen hübschen, gelangweilt und traurig wie Puppen herumstehenden Verkäuferinnen in vornehmen, schwarz- weißen Kostümen, dick geschminkten Gesichtern und hohen Stöckelschuhen. Sie bewachten die Schätze von Armani bis Gucci. Das heißt, man konnte auch für umgerechnet 20 oder 30 oder noch mehr Euros essen gehen und Hemden kaufen, die so teuer waren wie exquisite Textilien in Europa.
Heute 2014, sechs Jahre später, hat die Inflation kräftig dem Preisgefüge eingeheizt. Besonders die Preise für Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs für den Haushalt sind kontinuierlich über die Jahre nach oben gezogen in jährlichen Steigerungs-Raten von zehn bis zwanzig Prozent. Besonders die Immobilien-und Mietpreise sind hoch geschossen.
Der Stadtteil Minhang, in dem mein neuer Arbeitsplatz sich befand, liegt im Süden, am Rande der Stadt, der Glanz der Innenstadt war weit entfernt, wie ich heute Morgen bei der Anfahrt bemerkt hatte. Aber vielleicht war auch das Land nicht mehr weit entfernt. Vielleicht gab es hier Land, Wiesen, Bäume, Felder… Als ich vor ein paar Wochen darüber nachgedacht hatte, nach Shanghai zu ziehen, hatte mich wie ein Alptraum die Vorstellung verfolgt, dass es vielleicht Stunden dauern würde, der Stadt zu entkommen und wieder Land zu sehen. Seit zwanzig Jahren lebte ich in Deutschland auf dem Lande, in einem kleinen Dorf, nicht weit von der Stadtentfernt und ich liebte es.
Es klopfte an der Tür. Ich erhob mich, öffnete. Ein junger, freundlich lächelnder Mann stand vor mir, ein Chinese, gut einen Kopf kleiner als ich selbst. „Hallo ich bin Allan, ich wohne da drüben“ sagte er im fließenden Englisch und deutete den Gang entlang. „Die Ai hat mich geschickt. Ich soll fragen, ob alles in Ordnung ist? Ob du irgendwas brauchst“ „Ach… alles okay hier, komm doch rein!“ sagte ich.
Etwas zögernd, aber sehr neugierig wie eine ängstliche Maus, die nach Speck wittert, kam er herein, schaute sich mit großen Augen um. Wahrscheinlich war er vorher noch nie in einer Wohnung eines ausländischen Lehrers gewesen. Ich führte ihn durch die wenigen Räume: „Das ist mein Kühlschrank!“ Ich öffnete ihn. „Leider noch gar nichts drin.“ Er lachte. „Aber hier gibt es Wasser“ Auf einem Regal standen ein paar Gläser. Ich ließ aus der blauen Wassertonne, zwei Gläser voll laufen. Wir setzten uns aufs Sofa. Allen erzählte, dass er Englischlehrer war und grade vor wenigen Tagen erst angekommen. Er kam vom Lande, war in einem kleinen Dorf aufgewachsen ungefähr 1000 km südwestlich von Shanghai. Er hatte eine helle Stimme und weiche fast mädchenhafte Bewegungen. „Das ist aber eine schöne Wohnung“ sagte er. “Meine ist viel kleiner“ „Wie groß ist denn deine?“ „Ach nur ein Raum, und den muss ich mir auch noch teilen mit einem Kollegen, aber der ist noch nicht da“ Wahrscheinlich verdiente Allan auch viel weniger als ich. Danach fragen wollte ich aber nicht, denn dann hätte ich über mein eigenes Einkommen reden müssen, das sicher höher war als seines, das war mir irgendwie peinlich. Aber Allan sprach es an: „Ihr kriegt natürlich auch viel mehr Geld als wir“ sagte er. „Da könnt ihr mal sehen, wie gut Ihr behandelt werdet…..Ich beneide Euch“ Er lachte. „Wie viel verdienst du denn?“ fragte ich. Er zögerte: „Mmmmm…….4500 für 22 Wochenstunden. Und du?“ Ich bekam 8000 für 16 Wochenstunden. „Schon ein bisschen mehr“ sagte ich, wollte aber nicht mit der ganzen Wahrheit rausrücken, die irgendwie brutal und betrüblich für Allan sein musste. „Aber ich will ja vielleicht auch mal wieder nach Deutschland, so einmal im Jahr. Dann ist der Flug ziemlich teuer und in Deutschland ist alles viel viel teurer als hier.“
Jetzt wollte Allan wissen, was in Deutschland eine Wohnung kostete, ein Hemd, eine Hose, ein Auto. Ich erklärte es, Allan staunte: „Das ist aber alles teuer in Deutschland!“ Mein Blick fiel auf die nackte Glühbirne an der Decke: „Ach ja, kannst du vielleicht der Ai sagen, dass ich Lampenschirme brauche, in der ganzen Wohnung habe ich nur Glühbirnen, die Schirme müssen kaputt gegangen sein.“ „Klar, mache ich….Willst du mal meine Wohnung sehen?“
Die chinesischen Lehrer wohnten in einem Seitenflügel und hatten nur einfache kleine Zimmer. In Allans Raum standen nebeneinander zwei Betten, auf einer Anrichte stand eine Kochplatte. An der Wand ein kleiner Tisch mit seinem Laptop. Sein Bad war eine kleine Nasszelle, die Dusche war ein Schlauch, der von der Decke hing, durch keinen Duschvorhang getrennt von dem Stehkloh daneben. Er hatte keine Windmaschinen, sondern nur einen Propeller-Ventilator, der an der Decke hing wie ein trauriger weißer Vogel.
Dann trieb es mich raus auf die Straßen rund um den Campus, ich wollte die Umgebung erforschen. Ich ging runter auf den Hof vor dem Haus, wo mein Rad abgeschlossen in einem offenen Schuppen auf mich wartete. Ich hatte keine Ahnung, wo die Ausgänge waren und kurvte über den Campus bis ich in der Nähe von einem hübschen und wohlgepflegten kleinen Park mit Teich und einem künstlichen Wasserfall ein Tor fand, das aus mannshohem, schmiedeeisernen, rostigen Gestänge bestand. Es stand einen Spalt weit offen und daneben vor dem Wärterhäuschen saßen ein paar blau uniformierte Männer und rauchten. Sie lächelten mir freundlich zu, als sie mich sahen und einer sprang sogar auf und machte das Tor weit auf, verbeugte sich und sagte: „Nihao! Guten Tag!“ Ich grüßte mit einer kleinen Verbeugung zurück und fuhr weiter. Diese Ehrenbezeugungen kannte ich schon aus Wuxi. Westliche Männer wurden hier oft wie Götter behandelt.
Klar, die meisten waren Führungskräfte westlicher Firmen, waren reich und mächtig und ihre Firmen brachten Kapital und Arbeitsplätze ins Land. Der wirtschaftliche Aufschwung Chinas war auch diesem Import von Geld und Fachwissen zu verdanken, das wussten die Menschen. Ich, mit meinem bescheidenen Lehrergehalt, profitierte von dieser Lage. Hinter dem Tor war ein kleiner Platz, von kleinen schmuddeligen Läden gesäumt und daran schloss sich ein riesiges wüstes Brachfeld in erdigem Ocker-Ton an, das mit Mauerresten, Gestrüpp und Müll übersät war. Ein kleiner betonierter Weg führte hindurch, der zu einer Siedlung von niederen alten Häusern in der Ferne führte. Ich machte von dem tristen Feld ein paar Bilder mit der kleinen Kamera, die ich in China immer dabei hatte, wenn ich aus dem Haus ging, kehrte um und bog in die kleine Straße ein, die links vom Platz durch ältere, ziemlich niedere Wohnblöcke hindurchführte. Das war wahrscheinlich so eine Art Hinterausgang hier….
An der Mauer entlang der Straße saß eine attraktiv gekleidete, fesch aufgemachte Frau in den mittleren Jahren vor einer uralten Fuß- betriebenen Nähmaschine, über sich als Dach eine graue Kunststoffplane, gehalten von zwei Bambus-Stöcken, die über die Mauer gelegt waren. Neben sich zwei weiße Plastik-Stühle, auf denen ältere, ärmlich gekleidete Frauen saßen und mit ihr schwatzten. Ich hielt an und betrachtete das Bild. Die Frau warf mir lächelnd einen strahlenden Blick zu, während sie emsig damit beschäftigt war, an einem Kleid irgendetwas zu reparieren. Ein paar kleine, verwahrloste, struppige Hunde strichen um sie herum. Ich blieb einen Augenblick lang stehen, zu gerne hätte ich das Bild mit der Kamera festgehalten, aber ich traute mich nicht, vielleicht war es ihnen zu wider, in ihrer Armut von einem reichen Fremden aus dem Westen fotografiert zu werden….Eigentlich hatte ich bisher die Erfahrung gemacht, dass die allermeisten sogar mit Freude darauf reagierten, wenn ich sie fotografieren wollte, sich in Pose setzten, andere herbeiriefen oder mit mir zusammen fotografiert werden wollten. Die meisten, denen ich so auf der Straße begegnete, kamen mir mit offener Arglosigkeit entgegen, nichts Böses ahnend, vertrauensselig, wohl wollend. Trotzdem traute ichmich nicht und fuhr lächelnd und mit der Hand grüßend weiter, sie lachten und winkten mir nach.
Weiter hinten sah ich vor einem zweistöckigen Haus eine Gruppe von alten Leuten unter schattigen Kastanienbäumen sitzen und Matschang spielen. Matschangist so eine Art Domino und wird meistens um Geld gespielt. Auch die Alten hier hatten Münzen und Scheine auf dem kleinen baufälligen Tisch in ihrer Mitte liegen. Sie saßen auf ausrangierten Sofas und wackligen Stühlen. Es waren arme Leute, sie trugen abgeschabte zerschlissene Kleider, das Haus hinter ihnen sah heruntergekommen aus. Es schien aus Beton zu sein, ganz ohne Verputz und war wettergegerbt dunkelgrau und grün geworden, die Haustür hing schief in den Angeln.
Gao hatte erzählt, ihr Vater habe jahrelang die Hälfte seines Einkommens für Matschang-Spiel und Tabak verbraten.
Weiter hinten fand ich einen kleinen Straßenmarkt für arme Leute. Die meisten verkauften Obst und Gemüse, die Männer saßen in Unterhemden oder nacktem Oberkörper rauchend hinter ihren Verkaufstischen oder sie verkauften ihre Sachen auf Decken am Boden. Es gab auch ein paar Fischhändler, lebende Fische schwammen in Eimern und Wannen herum. Ich sah in einer Wanne Aale in einander verschlungen sich zuckend bewegen und es ekelte mich. An einem Stand wurden sogar Hosen, Gürtel und T-Shirts verkauft.
Einige Zeit lang war mir dieser bunte Straßenhandel, den es auch in Wuxi überall zu sehen gab, sehr lebendig, frei und wild vorgekommen, aber Gao hatte mich eines Tages darüber aufgeklärt, dass der Straßenhandel eigentlich streng bürokratisch geregelt war. Die meisten Straßenhändler seien illegal unterwegs, weil nicht offiziell angemeldet. Entweder seien ihnen die Gebühren zu hoch oder sie seien offiziell pleite und dürften eigentlich gar nicht mehr handeln. Das heißt, sie waren ständig auf der Flucht. Einige Tage lang konnte man einen ganzen Straßenzug voller Händler sehen, am nächsten Tag waren sie wieder weg, um irgendwo anders wieder aufzutauchen oder nach ein paar Wochen zurückzukehren. Manchmal half etwas Schmiergeld an die zuständigen Polizisten, manchmal nicht oder eine höhere Polizeistelle schritt ein. Es waren die Ärmsten der Armen, sie schlugen sich auf der Straße durch. Ein soziales Sicherungsnetz war gar nicht oder nur rudimentär vorhanden. Die Armen mussten um ihr Überleben kämpfen.
Dann entdeckte ich, dass das ganze Gebiet von einer Mauer umgeben war, ich befand mich also innerhalb eines Tschautschüs, der sich direkt an den Campus anschloss. Ich schaute mich um, es sah friedlich aus hier, kleine Wege, viele Bäume, die Schatten spendeten, Leute, die vor ihren Häusern saßen, spielende Kinder. Da vorne war ein Ausgang. Da war zwar ein kleines Wärterhäuschen, aber es schien verlassen, weit und breit war kein Wärter zu sehen, auch keine Schranke. Am Tschautschü entlang führte eine recht belebte breite Straße, aber gegenüber lockte ein schmaler Weg, der in ein wuseliges Geschäftsviertel hineinführte. Dort standen an der Ecke ein paar QQs, die Volkswagen Chinas, kleine billige Autos, die von der chinesischen Firma Chery massenhaft hergestellt wurden und in Shanghai an jeder Ecke zu sehen sind. Sie waren schon ab 3000 E zu haben. Meistens wurden sie als illegale Taxen benutzt, aber niemand störte sich daran. Ab und zu wurden die Fahrer belangt und mussten Strafen bezahlen, aber das vertrieb sie nicht von den Straßen, oft sah man sie mit ihren Kleinwagen direkt neben legalen Taxen stehen. QQ-Taxen waren billiger, deshalb sehr beliebt, jedenfalls bei den Einheimischen. Sie hatten keine Taxameter, das war der Nachteil, man musste also die Preise mit den Fahrern aushandeln, deshalb hatte ich noch nie ein QQ- Taxi genommen. General Motors, der amerikanische Autokonzern, hatte vor ein paar Jahren in China einen Prozess gegen den chinesischen Hersteller geführt, weil er den Wagen kopiert habe von einem koreanischen Hersteller, der jetzt im Besitz der Amerikaner war. Wie üblich hatte man sich auf eine gewisse Vergleichssumme geeinigt, die aber sehr klein ausfiel.In China hatten Ausländer vor Gerichten kaum eine Chance. Die Schnauzen der kleinen Wagen waren wie Babygesichter gestaltet mit runden kleinen Kulleraugen, den Scheinwerfern und der gefällig nach oben gezogene Rand der Motorhaube bildete ein breites Grinsen.
Die legalen Taxis sind in Shanghai alle VW-Passat, bis auf wenige Ausnahmen. VW war der erste westliche Autokonzern gewesen, der sich in China niederlassen durfte, allerdings nur in einem Joint Venture mit einem chinesischen Staatskonzern. Der Absicht der Chinesen dabei war natürlich, zu lernen, wie man selber ein modernes Auto bauen kann. Das ist ihnen in den letzten Jahren zunehmend gut gelungen.
In der Nähe der kleinen Autos saß eine Horde von Männern am Boden im Schatten der Bäume, spielte Karten und rauchte. Arbeitslose vermutlich und ein paar illegale Taxifahrer. Die Straße war hier sehr schmal und Autos drängten sich hupend vorbei. Es gab viele kleine Geschäfte entlang der Straße, an einem Laden für gebrauchte Bücher und Hefte blieb ich stehen, stieg ab und schlenderte neugierig durch die Mannshohen Regale. An einer Wand fand ich Tausende von ausgelesenen, braunstichigen Liebesromanen in Heftform, dicht an dicht in die Regale gepresst. Auf den Umschlägen innig sich umarmende Liebende, Gesichter hübscher junger Frauen, junge Männer mit coolen Sonnenbrillen.
Daneben ein Laden für gebrauchte Waschmaschinen und Küchengeräte. Weiter die Straße hinunter gab es einen Fahrradreparateur, einen Obstladen in einer Bretterbude unter Bäumen, ein Kinderwagen davor mit einem lallenden Säugling, Läden, die Roller reparierten, einen kleinen Supermarkt, die Post, eine kleine Bank „AgriculturalBancof China“, eine Apotheke, dazwischen und dahinter ältere, nicht allzu hohe Wohnblöcke. Ein paar Männer verkauften gebrauchte Möbel auf dem Bürgersteig, der an dieser Stelle etwas breiter war. Mit nacktem Oberkörper fläzten sie auf einem Sofa herum, einen alten Sonnenschirm über sich. Weiter hinten standen elegante, große, schlanke Damen mit blonden, gewellten Haaren in schicken Kleidern vor den Läden: Kleiderpuppen. Mehrere Schneiderläden gab es hier nebeneinander. In den Regalen lagen Stoffrollen in allen möglichen Farben und Materialien.
Hier konnte man sich Kleider nach Maß schneidern oder reparieren lassen. Die Puppen hatten eine bleiche Haut und aus ihren Pupillen war die Farbe gewichen, sie standen wahrscheinlich schon Jahrzehntelang hier. Der starke kulturelle Einfluss des Westens zeigt sich auch in den Schönheitsidealen chinesischer Frauen. Sie haben nun mal ziemlich schmale Augen, aber große Augen zu haben, ist das angestrebte Ziel, dafür wird alle Kunst der Kosmetik eingesetzt: Künstliche Wimpern, nachgezogene Linien unterhalb der Augen, neue Kurven der Brauen, immer mehr Frauen färben ihre Haare, braun, rötlich, blond. Weitverbreitet in der Werbung auf Postern, in U-Bahnen, in Mode und Lifestile-Magazinen sind westliche Männer und Frauen. Alle chinesischen Frauen tragen BHs mit Polsterung, die Fülle vortäuschen sollen, wo keine ist. An jeder Ecke sieht man BH-Shops, die Büstenhalter in allen möglichen Farben und Formen anbieten. Viele jungen Männer und Frauen geben sich westliche Namen. Aber auch hier, sechs Jahre später, beginnt sich der Wind langsam zu drehen.
Ich stieß auf eine größere Kreuzung und vor einem großen Supermarkt stand eine Lautsprecherbox, darauf lag ein Keyboard und ein paar Leute, die etwas geistig behindert aussahen, trugen Lieder vor. Ein junger Mann sang ein bisschen daneben aber mit voller Kraft und starkem Gefühlsausdruck in sein schnurloses Mikrofon, dass es über den ganzen Platz schallte. Vor ihm lag ein rotes Plakat mit weißer Schrift und dahinter eine große Metallbox mit Schlitz oben für die Spenden. Neben der Box saß eine junge Frau in einem Rollstuhl, deren Gesicht umnachtet aussah, als läge ein Schatten auf ihrem Gemüt, als sei Ihr Kopf von einem Pressluftgerät zusammengedrückt und in der Hand hielt sie ein Mikrofon und wenn jemand etwas in die Box warf, hauchte sie „Xie Xie… Danke!“ ins Mikro. Als ob diese Musikdarbietung eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Elenden, Bedrückten und Verarmten ausübte, hatte sich eine ganze Schar von abgerissenen Gestalten um die Musiker versammelt. Die immer grösser wurde. Jetzt hielten auch schon die Fahrrad -und Rollerfahrer an und bildeten eine Traube um das Ereignis, das die dort enge Straße noch mehr verengte, was zu Gehupe der Autofahrer führte. Aber die Rollerfahrer ließen sich dadurch nicht stören, sie blieben störrisch stehen, schauten und rauchten.
Da war Neugier, aber auch etwas Trauriges in ihren Augen. Sie sahen das Elend, viele gaben. Plötzlich wurde mir klar, wie viele armen Menschen es doch hier geben musste, besonders die Alten sahen sehr bedürftig aus mit ihren abgelatschten Schuhen, zerknitterten Hemden und ausgewaschenen Hosen. Ein alter Mann hatte einen traditionellen Strohhut auf und ein paar Körbe vor sich auf dem Boden stehen, die er mit einer Stange über der Schulter getragen hatte. Ich gab 15 Yuan, das war für mich nicht viel, aber viel mehr als Chinesen normalerweise gaben. Ich gab es so, dass die Leute nicht sahen wie viel es war, nämlich mit eingerollten Scheinen tief in meiner Hand verborgen. Dann fuhr ich weiter auf die andere Straßenseite, wo ich stehen blieb und mir die Szene rund um die Musiker anschaute. Ein schwarzer Audi schob sich lautlos vorbei, spiegelglatt seine Politur, die Fenster verdunkelt. Eine Frau kam langsam strickend über den Fußgängerstreifen auf mich zu, betrachtet mich neugierig und ging dann weiter, strickend an etwas, das ein Socken hätte werden können.
Plötzlich stand ein Polizeiwagen an der Ecke und sofort packten die Schausteller in der dichtgedrängten Menge widerwillig ihre Boxen und räumten ihr Keyboard weg. Offensichtlich hatten sie keine Erlaubnis, hier aufzutreten. Oder waren den Behörden nicht willkommen. Die Polizisten schoben sich zwischen die Leute. Etwas wie Aufruhr lag in der Luft, Geschrei wurde laut, die Leute ärgerten sich, dass die Musiker gehen mussten und diskutierten mit den Polizisten. Aber nach einigen Minuten waren die seltsamen Künstler verschwunden und die Ansammlung löste sich auf, die Leute zerstreuten sich.
Irgendwo hier unten rechts musste der Fluss sein…. ich bog rechts ab, stieß auf eine Fabrik und eine breite Allee vor ihr. Die Bäume bildeten ein dichtes, dunkles Dach, das fast über die ganze Straße reichte, weil ihre Äste sich weit über den Verkehr zur Mitte der Straße hin streckten. Es war sehr angenehm, an diesem heißen Tag im kühlen Schatten der Bäume dahin zu fahren. Und da entdeckte ich auch eine ganze Reihe von schicken Läden entlang der Allee, Jeansshops, Kleider für junge Frauen, teure Optiker, eine Konditorei, eine Bank. Das war also das noble Viertel hier. Außerdem gab es hier einen abgetrennten Radweg, der sehr großzügig breit war, allerdings auch von Rollern benutzt wurde, die schneller unterwegs waren und die Radfahrer weghupten, falls sie in den Weg kamen. In der Regel wurde Radfahrern und Rollern im Verhältnis zu Autofahrern viel Platz auf Shanghais Straßen eingeräumt.
Ich folgte der Allee bis zur nächsten Kreuzung und bog wieder rechts ab auf eine breite aber wenig befahrene Straße. Auf der rechten Seite entdeckte ich eine ganze Reihe von kleinen DVD-shops. Ich stieg ab und betrat einen der kleinen Läden, deren Schätze in Kisten bis auf die Straße hinausquollen. Eine Seite war voll mit Chinesischen Filmen. Auf den Covers der DVDs sah ich Kung Fu- Kämpfer, die ihre Füße dem Betrachter ins Gesicht schlugen, verdreckte chinesische Soldaten mit schwerem Tötungsgerät in den Händen, Liebespaare, die Gesichter süßer junger Frauen mit verführerischen Augen. Eine ganze Wand war voll mit Kopien von westlichen Filmen, aktuelle Hollywood-Produktionen, Thriller, Gangsterfilme, das neueste Angebot aus Kalifornien…und dann entdeckte ich eine Kiste mit chinesischen und japanischen Filmen, die sich um leichtbekleidete jungen Mädchen drehten und daneben Pornos. Allesamt Kopien amerikanischer Produktionen, darunter auch Filme über härtere und abseitige sexuelle Spielarten. Also auch das war schon hier angekommen…. Ich hielt mich nicht lange in dem kleinen Laden auf, der Verkäufer begann mir amerikanische Filme vor die Nase zu halten, die ich kaufen sollte, was mich nervte, ich wollte raus, runter zum Fluss.
Als ich aufs Rad stieg und die Straße hinunterschaute ahnte ich es schon, da unten musste er sein. Da war er….Ach was für ein schöner Anblick.
Jaja, das Wasser war dreckig, eine weiße Plastikflasche schaukelte in den Wellen am Ufer, und eine braune, undurchsichtige Brühe schwappte gegen die Steine unter mir, der ich gegen die Brüstung lehnte. Eine Mauer trennte hier den Fluss von dem Gehweg entlang dem Ufer ab. Trotzdem, da war ein wenig Wind in der Luft und ein paar Möwen zogen kreischend über mir hin, nicht weit weg war das Meer und breit war der Strom, ein paar hundert Meter bis zum anderen Ufer und machte sich schön, glitzernd in der Sonne.
Schwere Lastkähne zogen vorbei, beladen mit Kohlen und Kies so schwer, dass sie fast versanken und die Motoren brummten vor Anstrengung. Verblichene rote Flaggen hingen hinten am Heck neben den grün gestrichenen Kajüten. Weiter unten stand ein riesiger Turm im Wasser, der als Seiltragender Riese für eine Brücke gedacht war. Links vom ihm an Land waren schon die Stützpfeiler zu sehen, auf denen die Straße sich bald über den Fluss schwingen würde. Da tauchte auch ein großes Schiff auf, das langsam und majestätisch dem Meere zufuhr mit seinem riesigen blauen Bauch und den schmucken weißen Aufbauten. Es war kein bescheidener Flussfrachter, das war auch von einem Laien wie mir zu erkennen, es war ein großes mächtiges Schiff, das die See kannte. Plötzlich ließ es sein Horn erklingen, es schallte weithin mit tiefem vibrierendem Bass. Ein paar Männer neben mir ließen Drachen steigen. Sie alberten herum und lachten und hatten Spaß wie kleine Kinder, ließen die Kurbeln an den Rollen kreisen, auf denen die Schnüre aufgewickelt waren und gaben so Stoff für ihre Spielzeuge, die immer höher stiegen. Die Drachen schwebten so hoch am Himmel, dass sie kaum mehr zu erkennen waren, nur noch als in der Luft zitternde kleine Punkte.
In dem Obstladen in der Nähe der QQ-Taxis kaufte ich eine Wassermelone, ein paar Bananen und Äpfel. Die kleine, ziemlich dicke Frau, die hinter der Kasse stand, lachte mich immerzu an und wollte wissen, woher ich komme. Als ich sagte, dass ich aus Deutschland komme, leuchteten ihre Augen auf und sie wiederholte das chinesische Wort für Deutschland „Deguo“ so, als sei das ein ganz besonderes, hervorragendes und beliebtes Land.
Das kleine Mädchen in dem Kinderwagen schlummerte hinter der Kasse. Es war ihr Kind.
Ach sieh mal an, da war ja auch ein kleines Bordell ganz in der Nähe des Campus.
Bordelle waren daran zu erkennen, dass sie sich als Friseurläden tarnten, aber es war auf den ersten Blick zu sehen, dass hier keine Haare geschnitten wurden. Mache gaben sich auch als Massage-Institute aus. Durch die Schaufenster sah ich die Frauen auf Sofas sitzen und auf Kundschaft warten. Prostitution war illegal in China, aber überall zu finden. In Wuxi gab es in einem etwas heruntergekommenen Viertel ganze Straßenzüge voll mit Bordellen. Allerdings waren die nicht wie etwa in Hamburg in großen sondern in kleinen Häusern, manche in Buden und Baracken untergebracht. Als ich einmal spät abends allein im Zentrum Shanghais, in der beliebten Einkaufsstraße Nanjing Lu, unterwegs war, wurde ich öfters von Prostituierten auf offener Straße angesprochen. Ich hatte mich regelrecht von diesen Frauen verfolgt gefühlt. Ständig hörte ich „Hallo! Where you from? Wo kommst du her?“ Sie ließen sich auch nicht so leicht abschütteln, sondern hängten sich an mich, gingen neben mir her, suchten mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich war ein westlicher Mann, der galt als reich. Die Prostituierten hatten wie ganz normale junge Frauen ausgesehen. Man sagt, die Bordellbetreiber bestechen die zuständigen Behörden und Polizeistellen mit regelmäßigen Dienstleistungen oder Zahlungen. So drückt das Auge des Gesetzes ein Auge zu.
Auf dem Campus machte ich eine kleine Rundfahrt, um die anderen Eingänge heraus zu finden.
Es gab drei: den Hinterausgang, den ich gerade kennengelernt hatte, einen Haupteingang mit einem großen steinernen Tor gegenüber einer kleinen, ziemlich verwahrlost aussehenden Markthalle und einen dritten, der nach Südwesten führte, dem Stadtrand zu. Den würde ich die nächsten Tage brauchen, ich wollte raus fahren aufs Land.
Am Abend setzte ich mich mit meinem neuen Nachbarn zusammen, einem Englisch-Lehrer aus USA. Der Gips an seinem Arm sei von Schnittwunden, die er sich in einer Messerstecherei mit Russen vor irgendeiner Bar in Shanghai zugezogen habe vor wenigen Tagen, sagte er und eine seiner Freundinnen in Shanghai, mit der er aber nur ein paar Mal geschlafen habe, sei bei der Mafia gewesen, weswegen er sie jetzt nicht mehr sehen wolle, das sei ihm etwas zu gefährlich.
„Mafia…gibt es hier eine Mafia?“
„Keine Ahnung“
„Vielleicht schon, wenn man an die vielen kleinen Bordelle denkt, die es hier überall gibt. Es müssen ja Tausende von Prostituierten sein alleine hier in Shanghai. Da gibt es sicher auch Organisationen, die das alles organisieren. Ich hab mal gelesen bei einem chinesischen Blogger, dass die in armen Gegenden Chinas Mädchen in die großen Städte locken mit dem Versprechen, viel Geld zu verdienen in ganz normalen Jobs in Bars und Restaurants und sie dann in die Bordelle zwingen.“
„Kann schon sein, in Korea, wo ich früher gearbeitet habe, habe ich auch solche Geschichten gehört. Ich fand es jedenfalls interessant, klingt doch gut: Meine Freundin von der Mafia.“