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Wuxi

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Als ich in China ankam, war es Winter und Schnee lag auf den kleinen, grauen, in einander verschachtelten Häusern entlang der neu gebauten breiten Hochstraße, die sich über den Kanal schwang. Die Brücke war für den öffentlichen Verkehr noch gesperrt, aber Fußgänger und Roller waren schon unterwegs auf der breiten Beton-piste. Auf der linken Seite der Trasse hatten hohe Wohnblocks schon die alten Siedlungen ersetzt, aber auf der rechten standen noch die kleinen zweistöckigen Häuschen, die in den fünfziger Jahren gebaut worden waren. Auf den Balkonen hing die Wäsche, es sah armselig und düster aus, dunkle enge Gassen verliefen zwischen den graubraunen Beton-Wänden. Die neue Straße sah aus, als habe sie eine Schneise in die Siedlung geschlagen, so dicht an ihr ragten die Mauern der alten Häuser empor. Alles machte einen etwas tristen Eindruck. Vielleicht lag es auch an dem trüben Winterwetter

Der Himmel war milchig grau, es war kalt, ein paar Grad unter Null, die Luft roch manchmal schweflig verdorben, über dem Fluss in der Ferne lag Nebel, oder waren es Schwaden von Abgasen? Trotzdem, ich fühlte mich wohl unter meiner warmen Mütze. Auf dem Kanal unten war reger Verkehr, Kohlenschlepper zogen auf und ab in großer Zahl… Ich strich an der Straße entlang, in der ich wohnte. Ganz besonders zog mich ein Laden an, der voll war mit kleinen Backwaren, verpackt in kleine Tütchen und allerlei Naschwerk, Bonbons und Süßigkeiten. Ich staunte, keine einzige dieser vielen kleinen Kostbarkeiten hatte ich je zuvor gesehen. Wie ich überhaupt die ersten Wochen immer nur am Staunen war.

Die Leute sahen meinen staunenden Blick und auch sie staunten, mich hier zu sehen. Weit und breit sah ich keinen anderen Menschen aus westlichen Ländern, in Wuxi waren Neuankömmlinge aus dem Westen noch eine echte Sensation und die Leute blieben stehen und schauten mich an und mir nach.Ich konnte kein Wort Chinesisch. Also schauten wir uns nur staunend an. Es waren freundliche Blicke. Ich hatte noch nie etwas davon gehört, dass Fremde in China überfallen, ausgeraubt oder betrogen worden wären. Ich erwartete nur das Beste.

Meine Augen waren offen und vertrauensvoll. Und die Gesichter, die ich sah, flößten mir auch Vertrauen ein. Einfach, naiv, unschuldig kamen sie mir vor, offen und zugetan. Manchmal schienen sie verhärtet und verhärmt von einem harten Leben und mein staunender freundlicher Blick schien wie ein Strahl Sonne ihre Züge zu erwärmen, so dass sie lächelten und sich aufgeregt über mich unterhielten.

Ich wohnte in einem Hochhaus im 13. Stock. Man konnte sogar die Fenster öffnen und weil die Chinesen in der Regel etwas kleiner sind als die westlichen Menschen, war auch die Brüstung ziemlich niedrig, so dass ich mich, wenn ich mich hinauslehnte, etwas schwindlig fühlte und so, als könne ich gleich hinüberkippen und hinausfallen. Unter mir dehnte sich eine Stadt aus, die ich nie zuvor gesehen hatte: Wuxi. ( Wird „U-Schi“ ausgesprochen ) Kein Mensch kennt Wuxi, jedenfalls hat kein Mensch in Deutschland von Wuxi jemals etwas gehört. Und doch sollte diese Stadt ungefähr fünf bis sechs Millionen Einwohner haben, also grösser sein als die größte deutsche Stadt Berlin. Heute, sechs Jahre später, 2014, hat die Stadt sieben Millionen Einwohner, ist also in den letzten Jahren rasant gewachsen. Die Stadt liegt ungefähr 100 km westlich von Shanghai, 100 km vom Meer entfernt.

Unter mir reihte sich ein Wohnblock an den anderen, ein riesiges Viertel war bedeckt mit dieser Reihung eines und desselben Typs von Wohnblock, der ungefähr 5 Stock hoch war. Weiter hinten stand ein mächtiger grauer Hochhausgeselle, der an russische Stalin-Architektur erinnerte, trutzig hochgereckt mit Erkern und Türmchen und einem spitzen Dach, wahrscheinlich aus der Zeit, als China rege Kontakte zur Sowjetunion pflegte. Rechterhand jenseits einer breiten vierspurigen Straße breitete sich ein altes Stadtviertel aus, kleine graue Häuschen dicht zusammen geschart und am Horizont eine Skyline von Wolkenkratzern in verschiedensten Formen silbrig glitzernd, etwas verschwommen im Dunst. Auch weiter rechts in der Ferne sah man Hochhäuser stehen, die Stadt breitete sich aus soweit das Auge reichte, ein Ende war nicht in Sicht….

Ich fühlte mich sehr fremd und sehr weit weg von der Heimat. 12 Stunden dauert der Flug Non-stop von Frankfurt nach Shanghai. Ich war auf der anderen Seite der Erdkugel angekommen. Schon immer hatte ich mich danach gesehnt, dieses Land kennen zu lernen, seitdem ich die ersten Zeichnungen und Skulpturen aus China gesehen hatte und Schriften von Lao Zu, ganz abgesehen davon, dass mich die zunehmend aufregender werdenden Nachrichten vom wirtschaftlichen Aufstieg des alten verschlafenen Riesen neugierig machten.

Außerdem fand ich es sehr spannend, mich so fremd zu fühlen. Nichts ist langweiliger als das Altvertraute. „Verfremdungseffekt“ wird in der Literatur eine erzählerische Technik genannt, die es schafft, das Altbekannte so zu beschreiben, dass es uns sehr sonderbar, ja fremdartig vorkommt. Vieles, was uns als selbstverständlich erscheint und was wir deshalb schon völlig übersehen und gar nicht mehr wahrnehmen, wird dadurch erst bewusst gemacht. Am besten gelingt dieser Effekt natürlich, wenn der Beobachter und Berichterstatter gar nicht altvertraut ist mit seiner Umgebung, sondern völlig fremd.

Wie ich in China ein Kind bekam

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