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Die Stadt erkunden

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„Ich würde Ihnen nicht raten, hier Fahrrad zu fahren“, sagte mir der Leiter meiner Schule. „Das ist lebensgefährlich“. Der Mann befürchtete den Verlust einer Arbeitskraft. Aber ich fand das im Gegenteil sogar aufregend. Das wilde Chaos auf den Straßen fand ich sehr interessant. Und so wild war es nun auch wieder nicht. Die Autofahrer hielten in der Regel bei roten Ampeln an, an jeder größeren Straßenkreuzung standen Ordnungskräfte mit Trillerpfeifen und suchten das Durcheinander zu bändigen.

"Wir Radfahrer sind die Indianer des Straßenverkehrs", hatte ich mir immer gesagt zu Hause in meiner süddeutschen Kleinstadt, "Uns ist alles erlaubt. Wir kämpfen gegen die imperialistische Übermacht der weißen Autofahrer. Verkehrszeichen beachten wir nur gelegentlich, wenn es uns gerade passt". Dafür hassten uns die Autofahrer. Jedenfalls war ich hervorragend vorbereitet für diesen Verkehr.

Das Fahrrad hatte ich erst nach langer Suche aufgetrieben, denn es war schwer, ein Fahrrad zu finden, das zu meiner Größe von 1,90 M passte. Die Jugendlichen der heranwachsenden jüngeren Generation in China werden immer grösser und viele sind so groß wie westliche Jugendliche, die ja auch immer grösser werden, aber der Handel hat darauf noch kaum reagiert. Große Kleider, Schuhe über die Schuhgröße 45 hinaus, sind nur sehr schwer zu bekommen und werden dann teuer als sogenannte Importwarenverkauft, die zwei bis drei Mal so teuer sind wie die chinesischen. Jedenfalls sehen sie wie Importwaren aus, weil sie mit einem westlich klingenden Label versehen sind und in westlich aufgemachten teuren Läden angeboten werden. Sie sind aber auch in China hergestellt worden. Zum Glück hatte ich bei „Auchan“ ein Fahrrad gefunden, das mir einigermaßen passte. „Auchan“ ist eine französische Handelskette, die als eine der ersten westlichen Warenhaus-Konzerne in China Fuß gefasst hat. Inzwischen ist auch Metro, Ikea und der Media Markt in China angekommen. Aber wo bleibt Aldi-Ost?

Einen Scheinwerfer hatte das Rad nicht. Einen Gang auch nicht. Das mit dem Gang war kein Problem, weil Wuxi sich in einer Ebene ausbreitete und nur am Rande von Hügel umgeben war. Aber das mit dem Licht hatte mich schon gewundert. Nicht nur, dass alle Räder in dem Kaufhaus ohne Licht ausgestattet waren, es war auch auf Nachfrage keines zu bekommen. Alle Räder hatten kein Licht überall und es war auch vom Gesetz her keines notwendig. Das Rad war sehr billig, umgerechnet 40 E, das war der übliche Preis für neue Fahrräder und es lief sehr leicht, seine Reifen waren etwas breiter und die Bremsen zogen straff. Und los ging`s. Ein herrliches Gefühl, mit all den vielen Radfahrern mit zu schwingen und dahin zu gleiten im Strom. Außerdem konnte ich so leichter die ganze Stadt auskundschaften. In den fünf Monaten, die ich in Wuxi verbrachte, war ich fast jeden Tag mit dem Fahrrad unterwegs und habe dadurch die Stadt und auch das Umland zum größten Teil er-fahren.

Die Stadt lag an einem großen See, genannt Taihu.Der sah auf den ersten Blick ganz schön aus und gegenüber der Stadt, auf der anderen Seite des Sees, gab es bewaldete Hügel und ein bisschen Wildnis, Teefelder und kleine Dörfer. Aber leider war das Seewasser ziemlich verschmutzt, ölig braun. Wie überhaupt alle Gewässer an der Ostküste, dem industriellen Gürtel entlang des Pazifik, verdreckt sind. Eine rohe ungestüme Kraft wühlte die Stadt auf. Schön war sie nicht, aber aufregend, weil überall gebaut wurde und Industrieanlagen, Kanäle, Strommasten, Stromleitungen, die überall in dicken Strängen herumhingen, alte verdreckte Häuschen und neu hochgechossene Wolkenkratzer, Indstrie-Schornsteine, Bäume, donnernde Lastwagen, Baustellen, hübsche Mädchen und Straßenmärkte wild durcheinander sich aufdrängten und immer neue schwer zu fassende chaotische Bilder erzeugten. Alles war in Bewegung, um Schönheit war niemand bekümmert, es sollte voran gehen, Brücken waren im Entstehen, neue Strassen, ganze Wohnviertel wurden abgerissen, riesige Flächen neu gebaut, ein Tunnel in einen Berg gegraben, Strassen aufgerissen, weil eine U-Bahn gebaut wurde…

Wuxi gilt als eine der aufstrebenden Industriestädte Chinas und unter den großen Städten steht sie von ihrer Wirtschaftskraft her auf Platz neun. Die Stadt hat eine lange Geschichte, aber von der sieht man nichts mehr. Der Kaiserkanal vielleicht, der durch die Stadt führt, ein uralter Kanal, der in Teilen schon vor 3000 Jahren begonnen worden war. Er ist heute eine intensiv genutzt Wasserstrasse, tausende von Frachtschiffe. die Kohle, Sand und andere Güter schleppen sind dich gedrängt auf ihm unterwegs. Manchmal wunderte ich mich, wie sie es immer schaffen so dicht aneinander und gegeneinander vorbei zu fahren in hohem Tempo, ohne zu kollidieren. Der Kanal war vor allem zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert ein Transportweg von großer militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung, der die Hauptstadt Beijing im Norden über 1800 km mit Hangzou im Süden, einer Stadt am Meer, etwa 100 km südlich von Wuxi, verband.Die himmelstürmenden, mächtigen, roten Säulen in den Tempeln und Palästen der „Verbotenen Stadt“, dem Regierungsbezirk der Kaiser in Beijing, sind aus Zedern-Holz, das über diesen Kanal aus den Bergwäldern des Südens nach Norden verschifft wurde. In Zeiten von Hungersnöten war der Kanal überlebenswichtig für die Hungernden, denn über den Wasserlauf wurden sie mit Reis versorgt. Die Kaiser hatten für diese Notlagen in riesigen Getreidespeichern vorgesorgt. Und natürlich konnten über den Kanal schnell Truppen verlegt werden.

Ansonsten macht dieses uralte Land einen unglaublich jungen Eindruck, weil es sich eben um seine Geschichte wenig schert, weg damit mit dem alten Plunder, hatte man in der Kulturrevolution Ende der sechziger Jahre gesagt und etwa die zweitausend Jahre alte Stadtmauer Beijings fast vollständig abgerissen, Platz für Neues! Es gibt zugleich auch die Tendenz in der chinesischen Gesellschaft, sich um das Alte, das Altertümliche zu kümmern und es zu erhalten, aber sie ist nicht sehr stark...Wenn es um Geschäfte, Investitionen, Neubauten, Gewinne geht, hat das Alte einen schwachen Stand.

Wuxi war eine der ersten Städte in China, die Industriezonen anlegte und ausländische Firmen anlockte. Besonders die japanische Industrie ist in Wuxi stark vertreten. Sony, Minolta, Agfa, Canon, Panasonic haben riesige Werke errichtet. Die neugebauten Straßen, die in die Industriegebiete hineinführen, scheinen sich am Horizont zu verlieren, Fabrik reiht sich an Fabrik. Die prächtig breiten Straßen, von Bäumen gesäumt, umgeben von neuen und meist schick gestalteten Fabriken und Verwaltungsgebäuden machen einen noblen Eindruck. Sonys Fabrikhalle ist ein paar Hundert Meter lang, es ist die größte Kamera- Fabrik in China und beschäftigt 8000 Menschen.Wenn man davor steht, ist man erstaunt, es ist so still, man sieht keinen Menschen. Der langgestreckte, riesige weiße und völlig fensterlose Kasten ist von einem kurzgeschnittenen grünen Rasen umgeben und der wiederum von einem drei Meter hohen Zaun. Nichts bewegt sich. Auch die chinesische Solarindustrie, die jetzt die deutsche vom Markt verdrängt, ist stark vertreten. Suntech, der weltgrößte Produzent von Photovoltaik-Modulen, hat seine Zentrale in Wuxi und stellt stolz seine in der Sonne spiegelnde weltgrößte Energie-produzierende Glasfassade aus.Aber auch die deutschen Firmen Bosch, Siemens, Bayer, OBI und Metro haben Niederlassungen und Fabriken hier. Siemens und Bosch hatten ihre ersten Niederlassungen schon in den zwanziger Jahren in China und sind aus dieser alten Tradition heraus gern gesehen im Land und ziemlich erfolgreich.

Aber durch die Industriezone fuhr ich nur gelegentlich, weil es einfach zu langweilig war. Um die großen Fabrikkästen herum bewegt sich nicht viel, alles findet in ihnen statt, wo die Maschinen eifrig stampfen und nur manchmal hört man draußen ein Klopfen, Surren, Brausen oder Dröhnen. Lieber trieb ich mich in den Weichteilen der Stadt herum, in den vergammelten Fabrikanlagen beim Kanal unten, wo man die Maschinen scheppern hörte und verruste Arbeiter über die Höfe schlurfen sah oder verschwitzt auf Mäuerchen sitzen und aus Reisschalen futtern oder ich fuhr zu Seitenkanälen, wo alte verrostete Kähne im trüben Wasser dümpeln, oder weiter raus zum anderen Ufer des Sees, in kleine Dörfer, wo es noch Holz- und Fachwerkhäuser gibt und Kinder vor den Häusern auf der Straße spielen und alte Männer ihre Angeln ins Wasser halten.

Manchmal fotografierte ich in der Innenstadt die in den Himmel ragenden Hochhäuser von Hotels, Banken und Versicherungskonzernen. Immer wieder ein schönes Motiv, Fußgänger Radfahrer, Rollerfahrer unten auf der Straße und darüber die massiven, den Himmel verdrängenden Bauten. Die Menschen so klein und ihr Werk so groß. Meistens musste ich dafür die Kamera zur Seite drehen, um das Bild im Hochformat aufzufangen, sonst wäre das Hochhaus nicht als Ganzes zu fassen gewesen. Und ein bisschen Himmel über dem Hochhaus musste schon noch sein. Auf den ersten Blick sah diese Innenstadt sehr amerikanisch aus, eine „downtown“ wie man sie überall in amerikanischen Städten sehen könnte.

Und dann der erste Platten in einem Neubaugebiet irgendwo weit draußen. Und meine Wohnung war mindestens eine Stunde Fahrzeit vom Ort der Panne entfernt. Was tun? Traurig stand ich am Rande der Straße und überlegte…..Na dann das Rad eben nach Hause schieben. Aber schon nach ein paar Metern kam ich an einer kleinen Werkstatt vorbei, wo neben Rollern und Motorrädern auch Räder repariert wurden. Ich schob also mein Rad einem mich staunend anblickenden älteren Mann in Mechanikermontur entgegen, der an einem vergammelten dreckigen Roller herumschraubte. Er lächelte, ließ den Roller stehen und machte sich sofort an die Arbeit. Was das denn koste, wollte ich wissen: „Duo schautschiän?“ Das hatte ich schon gelernt. „Liang Yuan“ Zwei Yuan? Was so billig? Das sind ungefähr 30 Cent. Unglaublich. Ich war erleichtert. Er montierte noch nicht einmal das Rad ab, sondern zauberte den Schlauch aus dem Reifen, pumpte ihn ein wenig auf und drückte ihn durch eine kleine Wasserschüssel, bis er das Loch gefunden hatte. Fünf Minuten später konnte ich weiterfahren. Und es hatte nur 30 Cent gekostet. Ein Loblied auf die chinesischen Farhrrad-Reparateure.

Später stellte ich fest, dass es sehr viele von ihnen gab. Und alle verlangten nicht mehr als 2 oder 3 Yuan, um einen Platten wieder auszubügeln. Die meisten hatten keine eigene Werkstatt, sondern nur einen Stuhl an irgendeiner Straßenecke, einen Werkzeugkasten, ein paar Reifen und Schläuche und manchmal einen Sonnenschirm gegen die brennende Sonne im Sommer.

Wie ich in China ein Kind bekam

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