Читать книгу Dornröschen muss sterben - Ulrike Barow - Страница 9
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ОглавлениеRoland Lütjens hatte sich am Strandaufgang auf einen der Zaunpfähle gesetzt. Es war zwar unbequem, aber immer noch besser, als zu stehen. Wie der Zufall doch manchmal spielt, dachte er, da macht man einen Inselausflug und trifft unversehens auf einen alten Freund aus Jugendtagen. Sie hatten viel zusammen unternommen damals, gemeinsam Sport getrieben, waren zum Angeln ans Große Meer gefahren und hatten im Motodrom von Halbemond den Motorrädern hinterhergesehen, wie sie Staub aufwirbelnd und mit quietschenden Reifen ihre Runden gedreht hatten.
»Na, was hast du denn hier im Gewimmel gesucht?«, fragte er Hendrik, der mit hängenden Schultern auf ihn zugetrottet kam.
»Nicht was, sondern wen. Britta heißt sie, aber ihre Leute haben sie heute Morgen auch noch nicht gesehen. Komisch ist das. Ich kenne sie zwar erst seit drei Tagen, hätte sie aber als zuverlässig eingeschätzt. Schließlich hat sie ihre Turngruppe vom Postsportverein zu betreuen. Bin gespannt, wie sich das aufklärt. Aber jetzt auf ins Strandcafé. Hoffentlich finden wir bei dem schönen Wetter draußen noch ein gemütliches Plätzchen.«
Roland Lütjens folgte seinem alten Freund. Bald hatten sie einen freien Tisch ergattert und jeder einen kräftigen Kaffee vor sich stehen.
Die nächste Stunde verbrachten sie damit, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen. So unterschiedlich ihre Lebenswege verlaufen waren, waren sie doch immer ihrer Heimat treu geblieben. »Du hast doch damals eine Lehre in der Verwaltung im Norder Rathaus gemacht, oder?« fragte Hendrik.
Lütjens nickte. »Staubtrockene Angelegenheit, aber ich habe bis zur Prüfung durchgehalten.«
»Ich habe eine Lehrstelle in Delmenhorst gefunden«, erzählte Hendrik, »und bin nach der Ausbildung tatsächlich eingestellt worden. Dann kam das Übliche, Heirat, Hobbys, das alltägliche Leben halt. Bis meine Frau das alltägliche Leben meines Nachbarn immer mehr schätzen lernte. Da war es aus mit Delmenhorst. Die Stelle habe ich auch gekündigt. Ich hatte keinen Bock mehr auf diese Stadt. Bin dann heim zu Muttern. Wo wohnst du jetzt?«
»In Bad Zwischenahn. Ist auch nett da. Ich habe zwei Kinder inzwischen und führe ein ganz normales Familienleben. Du musst unbedingt mal kommen und uns besuchen. Und dein Zuhause ist jetzt wo? Bei deiner Mutter?«
Hendrik erzählte ihm, dass die Antje zurzeit sein Zuhause war. »Bei meiner Mutter in Norden habe ich noch ein Zimmer und einen Briefkasten. Für alle Fälle. Wenn das Arbeitsamt sich meldet. Ich habe schon alles Mögliche versucht, aber als Chemielaborant sind die Möglichkeiten hier im Norden eher begrenzt. Wenn ich bis zum Herbst nichts finde, werde ich wohl nach Süddeutschland gehen. Auch wenn es einem Ostfriesen schwerfällt, die Heimat zu verlassen. Auf Dauer ohne Arbeit ist aber auch kein richtiges Leben und das Arbeitsamt sitzt einem natürlich im Nacken. Aber bis dahin«, er grinste, »werde ich mir den frischen Nordseewind um die Nase wehen und wie ein richtiger Seemann in jedem Hafen eine Braut weinend zurücklassen. Eine Ehe ist genug. Bringt ja doch nichts. Nur Stress und Ärger. Tja, und dann habe ich vor drei Tagen am Strand die Britta kennengelernt. Sie hat mich erst zum Volleyballspiel und dann noch zu ein paar anderen netten Sachen verführt.« Hendrik machte dazu eine Handbewegung, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ.
Roland Lütjens schaute ihn skeptisch an. »So genau wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.«
»Du hast recht, war nicht so gemeint«, sagte Hendrik bedauernd. »Wir hatten wirklich bis jetzt eine schöne Zeit. Ich habe gar nicht mehr geglaubt, dass es auch nette Typen unter den Frauen gibt. Als meine Ex damals die Seiten gewechselt hat, da war ich so sauer, ich hätte die glatt um die Ecke bringen können.«
»Na, na, komm, ein bisschen vornehme Zurückhaltung bitte. So schnell bringt es sich nicht um. Du siehst doch, das Leben geht weiter.« Roland Lütjens umfasste mit einer ausholenden Armbewegung die Menschen um sie herum. »Schau sie dir an. Alles gut gelaunte Urlauber. Meinst du nicht, die hätten nicht auch schon dicke Probleme im Leben gehabt?«
Hendrik wunderte sich. »Das klingt ja, als wärst du Pastor und kein Verwaltungshengst. Ich habe es doch nicht so gemeint. Obwohl, wenn ich es recht überlege, mit meinem Chemiewissen könnte ich schon den einen oder anderen … Und ein kräftiger Schlag mit dem Hammer oder ein dickes Tau um den Hals würde im Notfall auch reichen.« Hendrik brach in lautes Lachen aus und konnte sich erst recht kaum beruhigen, als er Roland Lütjens’ mühsames Grinsen bemerkte. »Ist dir das Thema zu gruselig?«
Lütjens schüttelte den Kopf. »Nein, zu beständig. Komm, lass uns einen Gang machen. Ich will die Insel noch ein bisschen besser kennenlernen.«
»Okay, aber vorher muss ich noch mal kurz, du weißt schon. Für kleine Flamingos.«
Roland Lütjens nickte. »Alles klar. Bis gleich.« Er trank den letzten Schluck Kaffee aus und dachte darüber nach, was sein alter Freund ihm erzählt hatte. Hendriks Leben schien aus den Fugen geraten zu sein. Ehefrau weg, keine Wohnung, und ein Leben auf der Antje konnte Roland sich nur vorübergehend als lohnendes Ziel vorstellen. Vielleicht war er aber auch nur zu bieder geworden mit Familie und Reihenhaus in Bad Zwischenahn. Allerdings war die Ordnung in seinem Privatleben genau das, was er brauchte, wenn er von seinem Dienst nach Hause kam. Ein Dienst, der ihn zeitlich und nervlich so manches Mal auf das Äußerste forderte.
Doch jetzt war Urlaub. Erst nächste Woche würde er wieder arbeiten müssen. Und heute Abend würde seine Familie ihn in Neßmersiel wieder in Empfang nehmen und die beiden Kleinen würden ihm mit leuchtenden Augen von den Seehunden erzählen.