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Prolog, Frankfurt 1993
ОглавлениеSeine Schritte wurden immer schleppender, je mehr er sich der Straße näherte, in denen sich ihre kleine Mietwohnung befand. Es war eine kleine Dreizimmerwohnung in einem alten schäbigen Wohnblock, in dem die Flure nach kaltem Zigarettenqualm, Urin und manchmal auch Erbrochenem stanken. Wer im Frankfurter Stadtteil Bonames lebte, hatte keine großen Ansprüche. Der Großteil der Bevölkerung war arbeitssuchend – wie es ihm Beamtendeutsch so hübsch bürokratisch genannt wurde – und kaum jemand schaffte den Absprung zu den Reichen und Schönen, deren Villen in Okriftel oder den anderen gepflegten Vororten standen. Er würde Ärger bekommen. Gewaltigen Ärger. Das hatte er schon gewusst, als der Lehrer die Mathematikarbeiten zurückgegeben hatte. Er hatte nur eine 2-, eigentlich keine schlechte Note, aber es würde ihr nicht genügen. Sie erwartete nur Topleistungen von ihm, denn schließlich sollte er es ja einmal besser haben als sie.
Sie glaubte, dass er immer noch nicht wusste, wie sie das Geld für sie beide wirklich verdiente. Als wenn er nicht abends im Bett das leise Klappen der Türen, das Klirren der Gläser und das leise Gemurmel, Gekicher und später das Stöhnen aus dem Schlafzimmer hören würde. Manchmal schlich er an der Tür zum Schlafzimmer vorbei, wenn er nachts noch einmal auf die Toilette musste, auch wenn sie ihm streng verboten hatte, sein Zimmer noch zu verlassen, nachdem sie ihn zu Bett geschickt hatte. Vor allem dann, wenn „Besuch“ da war, wie sie es nannte. Besuch – er schnaubte abfällig. Fette, schmierige, verschwitzte Kerle, die ein paar Euro dafür bezahlten, dass seine Mutter die Beine breit machte. Sie hatte mit Müh und Not ihren Hauptschulabschluss geschafft, danach aber keinen Ausbildungsplatz bekommen. Mit sechzehn hatte sie seinen Vater kennengelernt, kurz darauf war er auf die Welt gekommen und der versoffene Bastard, wie er seinen Erzeuger zu nennen pflegte, hatte sich davon gemacht. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört oder gesehen. Aus Angst alleine zu bleiben hatte seine Mutter sich in eine Affäre nach der anderen gestürzt, bis Hardy kam. Hardy hatte sie zunächst wie eine Königin behandelt, sie zum Essen und ins Theater eingeladen, bis er nach knapp einem Jahr einen „Kollegen“ abends zum Essen mitbrachte und sein wahres Gesicht zeigte. Er war ein eiskalter Zuhälter und verschacherte sie an alles und jeden, der ein paar Euro dafür bezahlte, mal wieder Sex zu haben. Und davon gab es hier im Stadtviertel weiß Gott genug Kerle. Anfangs hatte sie noch versucht, sich ihm zu widersetzen, aber nachdem er sie ein paar Mal im wahrsten Sinne des Wortes grün und blau geschlagen hatte, hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt. So ging es nun seit gut fünf Jahren, sie hatte sich allerdings wohl geschworen, dass er es schaffen sollte, dass aus ihm etwas Anständiges werden sollte. Seit einem halben Jahr besuchte er das städtische Gymnasium, er war kein schlechter Schüler, aber seine Mutter war absolut unbarmherzig, wenn er einmal nicht der Klassenbeste war. Jeden Tag beim Mittagessen erklärte sie ihm, dass sie es ja nur gut meine, dass sie nur sein Bestes wolle und er solle doch später einmal ein besseres Leben in einer schöneren Wohnung vielleicht sogar mit einem kleinen Garten oder Balkon führen. Sie bestrafe ihn doch nur, weil sie es für ihn und seine Zukunft tat. Jeden Tag die gleichen Worte – wie ein Mantra, das sich in seinen Kopf einbrannte. Und doch hasste er sie dafür. Nein, vielleicht hasste er sie nicht wirklich, aber er verachtete sie und sehnte sich den Tag herbei, da er diesem allem entfliehen konnte. Aber er war erst zehn Jahre alt. Ein verzweifeltes Kind, das versuchte, seiner Mutter immer Recht zu machen, auch wenn es ihm nicht gelang. Und er hasste Hardy, diesen schmierigen aalglatten Typen, der nicht nur ihr, sondern auch sein Leben zerstört hatte. Wenn er erwachsen war, würde er sich an ihm rächen – und an allen Hardys und Nutten dieser Welt. Inzwischen hatte er die Eingangstür erreicht, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte. Der kalte, faulige Gestank des Treppenhauses schlug ihm in einer Übelkeit erzeugenden Welle entgegen. Langsam stieg er die Treppenstufen hinauf, es würde sowieso passieren, da konnte er es auch direkt hinter sich bringen. Als er die Wohnungstür aufschloss, hörte er sie bereits in der Küche hantieren. Er ließ den Rucksack auf den Boden gleiten, hängte die Jacke ordentlich an den Haken, nahm das Heft heraus und ging in die Küche. Wortlos legte er das Heft aufgeschlagen auf den Küchentisch. Sie drehte sich um, trocknete sich die Hände an der Schürze ab und warf einen Blick auf das aufgeschlagene Heft. „Dein Gürtel“, sagte sie leise und streckte ihm auffordernd die Hand entgegen. Er zog den Ledergürtel, den er zum letzten Geburtstag von ihr bekommen hatte, aus der Jeans. „Dreh dich um und Hose runter.“ Er tat wortlos, wie ihm geheißen. „Du weißt, dass das alles hier nur zu deinem Besten ist“, sagte sie leise. „Wie viele Punkte fehlen?“ „Sechzehn“, antwortete er mit leiser Stimme, bei der es ihm unmenschliche Kraft kostete, das Zittern zu unterdrücken. „Es ist für deine Zukunft, ich tue das nicht gerne, aber du sollst es einmal besser haben als ich.“ Er schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe, als der Gürtel das erste Mal auf die nackte Haut klatschte. Mit jedem Schlag würde es schlimmer werden, das wusste er aus Erfahrung. Insgesamt sechzehn Mal ließ sie den Ledergürtel auf sein nacktes Hinterteil niedersausen. Ihm wurde übel vor Schmerz, aber schließlich hatte er es ja nicht besser verdient. Er hatte versagt – wieder einmal. Sie schlief mit fremden ekelerregenden Männern, damit sie seine Schulbücher bezahlen konnte. Da war es seine Verpflichtung, eine Gegenleistung zu bringen. Und wenn er dazu nicht in der Lage war, musste er eben mit den Konsequenzen leben. Nachdem sie fertig war, richtete er sich mühsam auf, zog vorsichtig die Jeans und die Boxershorts über die geschundene Haut, die wie Feuer brannte, nahm das Heft vom Tisch und ging zur Tür. „Ich gehe meine Hausaufgaben machen“, sagte er leise, schlich zu seinem Zimmer und warf sich erst einmal bäuchlings aufs Bett, nachdem er sich die Jeans direkt wieder ausgezogen hatte. Er würde wieder tagelang nicht schmerzfrei sitzen können und er würde eine gute Ausrede benötigen, um beim Sport nicht duschen zu müssen. Er hasste sie, er hasste Hardy, er hasste dieses ganze verdammte Dasein.