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6Die Nacht des MordesWimpfen im Jahre des Herrn 1307

Die Nacht ist inzwischen hereingebrochen. Ein böiger Wind fegt über den Hof der Pfalz. Die Luft ist drückend schwül. In der Ferne zuckt ein Blitz über den Himmel und erhellt für einen Moment den Wolkenturm, den der Wind auf die Stadt zuschiebt. Auf der Plattform der Hochwarte zündet der Türner eine Lampe an. Im Geist ist Juliana mit ihm auf dem hohen Turm und schaut nach Norden, wo sie über die kahlen Bergkuppen hinweg die Spitzen der anderen Bergfriede sehen kann, auf denen die Türmer ebenfalls die Lampen mit Öl befüllen. Sie alle gehören zu einem Netz von Burgen, die gemeinsam der kaiserlichen Pfalz Schutz geben: Hornberg, Guttenberg und Horneck, die Burg der Deutschordensherrn, und natürlich Ehrenberg, das Wimpfen am nächsten liegt und wo der Oheim die Mannen überwacht, solange der Ritter Kraft von Ehrenberg mit seiner Familie in Wimpfen und der Pfalz weilt.

Wachsam blicken die Türmer in die Nacht und warnen bei Kriegs- und Feuergefahr. Dann geht das Signal von Turm zu Turm, schneller, als ein Falke fliegen kann.

»Kind, wir sollten gehen«, drängt die Mutter. Sie klingt so hilflos. »Wenn das Gewitter kommt …« Sie lässt die Worte in der Nacht verklingen.

Das Gewitter? Ist es denn nicht schon da? Bricht nicht in diesem Augenblick der schlimmste Sturm über die Familie von Ehrenberg herein, den Juliana bisher erlebt hat? Wird er nicht alles zerstören, was sie bisher kennt? Noch immer klingen ihr die Worte des Wappners in den Ohren, und seine Stimme voller Zorn und Hass. »Heimtückischer Mörder! Holt die Wachen! Verhaftet ihn! Hängt ihn an den nächsten Baum!«

»Ich warte auf den Vater!«, stößt Juliana hervor.

Die Edelfrau gibt einen fiependen Laut von sich. Ihre Schultern beben. »Wir können jetzt nichts tun. Komm mit, ehe wir bis auf die Haut durchnässt werden.«

Es schmerzt Juliana zu sehen, dass die Mutter genauso ratlos ist wie sie selbst. Die Edelfrau flüchtet sich in den Alltag und in das Warten, wie man es ihr beigebracht hat, aber Juliana will nicht nach Hause gehen und warten, bis irgendwer ihnen mitteilt, was andere beschlossen haben. Sie will jetzt und hier erfahren, was mit ihrem Vater passieren wird, und sie muss vor allem wissen, warum er das getan hat. Einen Gegner im Kampf töten, ist eine Sache – aber einen anderen Ritter in einer Kirche niederstechen?

»Mutter, mir ist so übel«, klagt sie und presst die Hand auf ihre Leibesmitte.

»Mein Liebes, kein Wunder, bei diesem schrecklichen Anblick, soll ich dich …?«

»Nein, nein«, stößt Juliana hervor und weicht vor der Edelfrau zurück. »Macht Euch keine Sorgen. Ich komme gleich wieder. Bleibt hier!«

Sie wendet sich ab und hastet davon. Sie schlüpft zwischen den Burgmannen hindurch, die in kleinen Gruppen zusammenstehen und miteinander flüstern. Auch ein paar der Frauen sind aus den umliegenden Häusern aufgetaucht. Blutige Neuigkeiten werden schnell wie Leuchtfeuer weitergetragen!

Juliana hält inne und sieht sich um. Ihr ist zwar übel, aber sie hat sich nicht davongemacht, um sich ohne Zuschauer übergeben zu können. Niemand scheint auf sie zu achten. Gut. Sie schiebt das Tor zum Palas auf und schlüpft in den unteren Saal. Rock und Mantel gerafft, tastet sie sich zur Treppe. Ein Blitz erhellt kurz den Arkadengang und den großen Saal, in dem der König seine Empfänge gibt und seine Feste feiert. Juliana huscht über den Steinboden zur gegenüberliegenden Wand. Die schmale Tür zwischen den Wandbehängen ist geschlossen. Juliana drückt die Klinke herunter und zieht die Tür zaghaft ein Stück auf. Wenn sie nur nicht quietscht! Immerhin ist bereits ein Jahr vergangen, seit der König sie zum letzten Mal benutzt hat.

Zu ihrer Erleichterung öffnet sie sich völlig geräuschlos. Juliana erkennt die Stimme von Gerold von Hauenstein und dann die des Vaters. Zaghaft tritt sie auf die Königsempore hinaus und schiebt sich dann geduckt bis an das Geländer.

»Ich werde ihnen berichten, dass er sofort tot war und nichts mehr sagen konnte«, dringt die Stimme des Dekans zu ihr herauf. »Glaubt mir, mein Freund, es ist besser so.«

»Oh ja«, sagt der Vater mit bitterer Stimme. »Wer ist schon bereit, sich die ganze Wahrheit anzuhören …«

»… und ihr dann noch Glauben zu schenken«, fügt der Dekan grimmig hinzu.

»Nun, dann werde ich Euch wohl um eine weitere gute Tat bitten, verehrter Freund, bevor Ihr das letzte Gebet für mich sprecht und meinen Tod betrauert, denn sterben werde ich müssen. Ihr wisst, wie stolz sie sind. Sie werden keine Ruhe geben, ehe ihr Ordensbruder gerächt ist. Bitte sorgt dafür, dass ein Schwert mir den Kopf vom Hals trennt. Der schimpfliche Makel des Galgens würde meiner Familie ewig anhängen.«

Juliana schlägt die Hand vor den Mund, um den aufsteigenden Schrei zu unterdrücken. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein!

Der Vater seufzt. »Es war dumm von mir anzunehmen, Gott könnte vergessen. Der Allmächtige vergisst keine Tat. Er lässt sich nur manches Mal Zeit, bis er sein flammendes Schwert zückt, um es strafend herabsausen zu lassen. Ich habe es verdient und bin bereit, SEINE Entscheidung anzunehmen.«

»Redet keinen Unsinn«, fährt ihn Gerold von Hauenstein an. »Der Herr vergisst nicht, da habt Ihr Recht, aber er vergibt.« Anklagend zeigt er auf die blutige Leiche zu ihren Füßen. »Das ist nicht die Strafe Gottes. So einfach dürfen wir es uns nicht machen. Wie leicht ist es, die Hände in den Schoß zu legen und alles SEINEM Willen zuzuschreiben.«

»Einfach, sich dem Henker zu übergeben?«, braust Kraft von Ehrenberg auf.

»Nichts tun ist immer einfacher als handeln!«

Der Vater setzt zum Widerspruch an, aber der Dekan gebietet ihm zu schweigen.

»Ruhig jetzt, wir haben nicht viel Zeit. Es gibt eine andere Möglichkeit, und ich glaube, sie wird dem Allmächtigen gefallen. Wir haben schnell zu handeln. Ihr müsst fort von hier, Freund, auf unbekannten Pfaden gehen, und nur der Herr im Himmel kann sagen, ob Ihr Euer Ziel erreicht und ob Ihr jemals zurückkehren werdet. Dann jedoch wäre Euer Gewissen und Euer Name wieder rein – und Euer Versprechen erfüllt.«

»Ich glaube, Ihr habt nicht verstanden, was ich Euch gesagt habe«, schnaubt der Ritter. »Ist Euer Gedächtnis so kurz?«

Unten im Palas wird die Tür geöffnet. »Ich dachte, ich hätte das Fräulein hier hineingehen sehen«, dringt eine Männerstimme bis zu Juliana in ihrem Versteck.

»Mit meinem Gedächtnis ist alles in Ordnung«, versichert ihm der Dekan, »und ich habe nicht nur sehr genau zugehört, ich habe Eure Worte auch verstanden.«

»Juliana?«, erklingt die Stimme der Mutter.

Ihre Finger umklammern die Lehne des Königssessels. Nicht jetzt! Die Männer in der Kirche werden sie hören.

»Ich denke an eine sehr lange Reise – durch Burgund und Frankreich, über die Pyrenäen hinüber, durch Navarra und Kastilien bis nach Galicien, wo das Ende der Welt zu finden ist.«

Eine kleine Pause tritt in der Kapelle ein. Juliana vernimmt wieder die Stimme der Mutter: »Du musst dich irren, guter Mann, sie ist weggegangen, weil es ihr übel wurde. Nimm deine Fackel und folge mir. Sie wird beim Steinhaus sein oder schon zur Brücke vorgegangen.«

»Bis ans Ende der Welt?«, fragt der Vater.

»Nicht ganz. Die Pilgerreise geht bis zum Grab des heiligen Apostels, nach Santiago de Compostela.«

Kraft von Ehrenberg zieht scharf die Luft ein. »Santiago – Kastilien – ja, ich glaube, ich verstehe Euch.«

»Gut. Lasst mich sehen, was ich machen kann. Sie werden sich dieser kirchlichen Entscheidung nicht so einfach beugen.« Gerold von Hauenstein seufzt. »Wir werden um eine kleine Täuschung nicht herumkommen, wenn Euer Leben noch etwas wert sein soll. Der Herr im Himmel möge mir verzeihen.«

Juliana hört ein Scharren. Sie reckt den Kopf, um über die Brüstung sehen zu können. Der Dekan steht neben dem Toten, die blutige Klinge in den Händen. Es sieht so aus, als wolle er sie auf den Altar legen, dann scheint er sich anders zu besinnen, zieht ein Tuch aus seinem Rock und wickelt die Waffe ein.

»Wem gehört der Dolch?«

»Swicker von Gemmingen-Streichenberg«, sagt der Vater und deutet auf die leere Lederscheide an der Seite des Toten.

Der Stiftsherr nickt. »Das wird nichts ändern. Seid Ihr bereit, mein Freund?«

Er geht zur Tür und umfasst den Knauf. »Nur Mut, ER hat sich nicht von Euch abgewendet. Wenn das meine Überzeugung wäre, glaubt Ihr wirklich, ich würde meine Seele mit der Sünde belasten, einen heimtückischen Mörder seiner gerechten Strafe zu entziehen?«

Ein trauriges Lächeln huscht über das Gesicht des Ehrenbergers. »Ja, das glaube ich, denn Ihr lasst keinen Freund im Stich, egal, was er vor Gott und den Menschen getan hat. Das Heil Eurer eigenen Seele ist nicht Euer erster Gedanke!«

»Schmeichelt mir nicht! Nehmt Abschied, und dann lasst uns gehen.«

Ritter Kraft von Ehrenberg sieht noch einmal zu dem Ermordeten zurück und folgt dann dem Stiftsherrn aus der Kirche. Die Tür fällt hinter den Männern ins Schloss. Stille senkt sich herab. Totenstille. Seltsam eindringlich wird dem Mädchen bewusst, dass es mit dem Ermordeten allein ist, dem Toten, den ihr eigener Vater niedergestochen hat. Sie kann es noch immer nicht fassen. Schwebt der Geist des Ritters Swicker noch durch die Kapelle? Kommt er zurück, um an der Tochter des Frevlers Rache zu nehmen? Furcht überfällt sie und drängt sie davonzulaufen, so schnell sie kann. Nur mit Mühe gelingt es ihr, ruhig zu bleiben, um auf der dunklen Empore nicht zu stolpern. Endlich schließen sich ihre Finger um den Türknauf. Juliana huscht zurück in den Palas, durchquert den Saal und hastet die Treppe hinunter. Sie erreicht den Hof noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Dekan von Hauenstein einem Wachmann das Schwert des Vaters überreicht.

»Kraft von Ehrenberg, haben wir Euer Wort, dass Ihr nicht entfliehen werdet?«, fragt der Stiftsherr. Der Ritter verspricht es. »Gut, dann folgt mir.«

Der Franzose und der Wappner stellen sich ihm in den Weg. »Wo bringt Ihr ihn hin? Gibt es hier in der Pfalz nicht drei Türme mit Verliesen?«

»Ich habe Euch gesagt, dass das Verbrechen gesühnt wird. Zweifelt Ihr an meinem Wort?«

»Nein«, sagt der Franzose widerstrebend.

»Ich werde ihn nach St. Peter ins Tal bringen«, gibt der Dekan Auskunft. »Da die Tat in einer Kirche begangen wurde, hat auch die Kirche ein berechtigtes Interesse an dem Fall.« Der Wappner öffnet den Mund, wird aber von dem Stiftsherrn mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht. »Obwohl der Ritter sein Wort gegeben hat, nicht zu entfliehen, werde ich zwei Burgmannen zu seiner Bewachung mitnehmen. Das dürfte den Herren sicher genügen!«

Juliana kann spüren, dass die beiden Mitbrüder des Getöteten nicht einverstanden sind, doch sie widersprechen nicht mehr und lassen die vier Männer auf die Zugbrücke zugehen. Juliana fängt den Blick ihres Vaters auf.

Warum?, fragt sie ihn stumm. Er hat Tränen in den Augen. Seine Lippen formen einen Abschiedsgruß. Dann ist er mit seinen Bewachern in der Finsternis verschwunden. Verloren steht das Ritterfräulein in der Nacht, zwischen all den Menschen, deren aufgeregte Stimmen von den Mauern zurückgeworfen werden. Sie fühlt sich allein.

Ein Blitz erhellt die kaiserliche Pfalz, ein Donnerschlag lässt die Feste erbeben. Dann öffnet der Himmel seine Schleusen, als wolle er mit einer zweiten Sintflut alle Sünder hinwegschwemmen.

Das Siegel des Templers

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