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4Wolf von NeippergBurg Ehrenberg im Jahre des Herrn 1300

Es ist ein prächtiger Sommer. Das Korn auf den Feldern gedeiht, und weit übers Land leuchten roter Mohn und blaue Kornblumen an den Feldrainen. Das Gras steht hoch und wiegt sich im warmen Wind. Auf Burg Ehrenberg herrscht eine seltsam ausgelassene Stimmung. Der König kommt! Mit all seinem Gefolge wird er am Tag der heiligen Irmgard oder am Tag der heiligen Donata eintreffen und wenigstens drei Tage bleiben. Sicher wird es einen Empfang der alteingesessenen Adelsmänner und der dem König ergebenen Ministerialen geben, die seine Burgen zu Lehen haben, und dann ein großes Fest, bei dem auch die Damen anwesend sein dürfen.

Drüben in der Pfalz liegt die Vorfreude mit all ihren Vorbereitungen schon gefährlich nahe an Chaos und Schreikrämpfen. Das größte Problem, das die edlen Männer nicht zur Ruhe kommen lässt, ist der Neckar und wie ihn der König mit seinem Gefolge in angemessener Würde überqueren soll, jetzt, da die uralte Brücke in Trümmern liegt. Das Eis vom Februar hat sie ihrer Stützen beraubt, und mit einem ohrenbetäubenden Getöse sind die Eichenstämme in den Fluss gestürzt. Ein Bauwerk, das schon unter den römischen Herrschern errichtet worden sein soll – zerstört in ein paar Augenblicken!

Und nun will der König mit seinem Gefolge nach Wimpfen kommen, mit Pferden, Kutschen und Karren. Auf welcher Neckarseite werden sie reisen? Kommen sie von der kaiserlichen Stadt Heilbronn her und queren dort den Fluss, oder ziehen sie am Ostufer entlang?

Schon seit Monaten treffen sich Vertreter des Ritterstifts im Tal, der Bürgerschaft der oberen Stadt und die Adeligen der Schutzburgen, um darüber zu sprechen, wie man die Brücke wiederaufbauen könne, doch bisher folgten den Worten keine Taten. Man müsste einen bewährten Brückenbauer anwerben und Männer mit Erfahrung, um den breiten und tiefen Fluss zu überspannen. Alle hoffen, irgendwer werde es schon in die Hand nehmen, man selbst habe für so ein großes Bauwerk nicht das notwendige Geld. So bleibt es bei unverbindlichen Gesprächen, und Mensch und Tier, die über den Fluss wollen, werden von den Apostelfischern der Talstadt gegen einen kleinen Beitrag übergesetzt. Ritter Kraft von Ehrenberg prophezeit Frau und Tochter bei einem gemeinsamen Nachtmahl, dass alle die Brücke wohl noch lange vermissen werden. »Ich sage euch«, spricht er zwischen einem Bissen Hasenbraten und einem großen Schluck von seinem warmen Aniswein, »wir werden es nicht mehr erleben und unsere Kinder auch nicht! Man wird sich weiterhin gegenseitig die Verantwortung zuschieben und sich unterdessen an die Fähre gewöhnen. So ein Brückenbau ist eine gewaltige Aufgabe. Wie soll sie ausgeführt werden, wenn alle Baumeister für die Kirchen gebraucht werden, die allerorts entstehen? Sie müssen immer höher werden, luftiger, himmelwärts strebend, um Gottes Herrlichkeit angemessen zu preisen. Das verschlingt alles Geld und alle Arbeitskräfte, die es in den deutschen Landen gibt. Unsere verehrten Stiftsherren müssen ja selbst von ihren Plänen Abstand nehmen, St. Peter mit einer neuen Westfassade und natürlich entsprechend hohen Türmen zu versehen, so knapp sind die Gulden in ihrer Schatulle geworden. Angesichts dieser Misere fällt es uns doch leicht, auf so etwas Alltägliches wie eine Brücke zu verzichten!« Er rülpst vernehmlich und hebt den Becher. »Alles für Gottes Herrlichkeit!«

Juliana betrachtet den Vater überrascht. Spottet er gar des Herrn und der Kirche?

Während sich die Damen und Herren in Wimpfen des hohen Besuchers wegen in heller Aufregung befinden, herrscht auf der ersten Schutzburg im Norden der Pfalz hoffnungsvolle Erwartung vor. Juliana ist gerade der Mutter entflohen, die ihr ein neues Kleid angemessen hat. Hier in der elterlichen Burg macht es nichts aus, dass die Säume der alten Gewänder bereits einige Zoll über dem Boden schweben, so sehr ist sie seit dem vergangenen Sommer gewachsen. Für einen König jedoch muss das Kind angemessen gekleidet werden, will der Vater seine Älteste mit zur Pfalz nehmen.

»Gehst du auch mit auf das Fest?«, fragt Juliana ihren Freund Wolf von Neipperg, der seit seinem siebten Jahr dem Vater erst als Page und nun seit dem Neujahrstag als Knappe dient. Der Junge zuckt mit den Schultern. Er ist dem Mädchen nicht nur drei Lebensjahre sondern auch eine Hauptlänge voraus.

»Weiß nicht. Ich denke, ich werde mitmüssen, wenn der Ritter es befiehlt.«

Juliana reißt die Augen auf. »Ja willst du denn nicht mitkommen auf das Fest? All die feinen Leute sehen und dann das üppige Mahl!«

»Nun ja, das Essen ist es schon wert«, räumt Wolf ein, »die meisten Ritter jedoch kenne ich schon von der Falkenbeize und dem letzten Turnier.«

»Nicht die Ritter, die der König mitbringt«, widerspricht Juliana.

Der Junge nickt. »Ja, aber was ist an denen anders als an unseren hier im Neckartal?«

»Und die Damen, interessieren die dich gar nicht?«, neckt ihn seine Freundin.

»Nein. Die sind entweder langweilig und reden nur über Putz und Tand, oder sie reißen an den Nerven mit ihrem albernen Lachen und Kreischen.«

Juliana schiebt schmollend die Unterlippe vor. »Ach, so denkst du also über die Fräulein. Das ist gut zu wissen.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust und wendet den Kopf ab. Ihr Begleiter sieht sie überrascht an, doch dann geht ihm ein Licht auf.

»Ich meine ja nicht dich. Nur die anderen Mädchen. Du bist meine Freundin.«

Seine Worte versöhnen Juliana. »Wollen wir auf den Bergfried steigen und Samuel besuchen?« Wolf nickt, und so machen sich die beiden Kinder auf, die unzähligen Stufen zu erklimmen.

Anders als bei den anderen Burgen im Neckartal steht der Bergfried von Ehrenberg außerhalb der eigentlichen Burg. Die Schildmauer umringt den Palas und kleinen Wohnanbau, der sich im Süden anschließt, das Waschhaus, die Baracke der Mägde und Knechte und einen kleinen Stall, in dem die wertvollsten Pferde des Ehrenbergers stehen und seine Greife auf ihren Stangen sitzen. Der große Stall, die Scheunen und andere Lagerhütten lehnen unten im Zwinger an der äußeren Mauer. Um von der inneren Burg, die auf einem Felsen erbaut ist, zum unteren Tor zu gelangen, muss man einer grasigen Rampe folgen, die, wie eine Schnecke, sich steil um die Burg herabwindet. Sie führt durch das obere Tor, das von zwei Burgmannen bewacht wird, nach Norden, dann auf den Westhang zu und in einem engen Spalt zwischen Schildmauer und Bergfried hindurch. Kaum eine Karrenbreite misst der Weg, der sich von der darüber aufragenden Mauer aus gut verteidigen lässt. Einen Torturm und zwei Sperrmauern, deren Torflügel in Friedenszeiten jedoch offen stehen, muss man noch passieren, ehe man unten im Zwinger ankommt. Ein Wächter und ein Botenjunge, der Besucher zu melden hat, sitzen am Zwingertor, durch das man Ehrenberg verlässt.

Es ist eine prächtige Anlage, und der Vater ist stolz, die Schutzburg der Pfalz vom Wormser Bischof zum Lehen zu haben. Vorväter des Ehrenbergers haben diese mächtigen Mauern erbaut und vor allem den Bergfried, der mit seinen siebzig Schritt Höhe der höchste im ganzen Neckartal ist. Der einzige Zugang zu der letzten Zuflucht der Ehrenberger ist ein schmaler Holzsteg, der von der Schildmauer in luftiger Höhe zum Eingang hinüberführt.

Juliana und Wolf stürmen die Holztreppe zum Wehrgang hinauf, überqueren den Steg und steigen die Stufen bis zur Plattform hinauf. Ein Spitzdach schützt den Türmer vor Regen und Sonne, der Wind braust hier oben allerdings zu jeder Jahreszeit kalt zwischen den Zinnen hindurch.

Samuel empfängt die beiden Kinder mit einem Lächeln.

Sie mögen den alten Türmer, der fast nie zur Burg hinabsteigt, sich aber immer über ihren Besuch freut, und der – obwohl er die meiste Zeit hier oben sitzt und über das Land schaut – viele, spannende Geschichten zu berichten weiß. Juliana ist ganz außer Atem, als sie endlich auf die Plattform hinaustritt. Von hier aus reicht ihr Blick nach Süden über den grasigen Höhenzug bis zu den Zinnen der Kaiserpfalz und im Norden und Osten über den Neckar hinweg zu Dörfern und Gehöften und den anderen Burgen des Kaisers. Aber auch die Bischöfe von Worms und Speyer nennen im Neckarraum reichen Besitz ihr Eigen, den sie den Ritterfamilien zu Lehen geben.

»Ich werde grüne Ärmel zu meinem Surkot tragen, berichtet Juliana dem Türmer. »Und ein Schapel aus Gold mit roten Steinen.«

»Wen interessiert das?«, unterbricht Wolf die Freundin. »Ich habe viel spannendere Neuigkeiten. Als ich mit dem Ritter die vergangenen Tage in Wimpfen war, sind mir zwei Pilger begegnet, die auf der Straße nach Sankt Jakob unterwegs sind.«

»Und?«, erwidert Juliana schnippisch und dreht ihm den Rücken zu. Sie lehnt sich gegen die Brüstung und lässt ihr Gesicht vom Wind kühlen, der hier oben frischer ist als unten im Burghof. Unten auf dem Neckar zieht ein langes, schmales Boot vorbei, das mit Säcken beladen ist. Wolf beachtet sie nicht und wendet sich stattdessen an den Türmer, der seine Geschichte hören möchte.

»Bis nach Lucca und Rom sind sie schon gegangen – sie haben mir die metallenen Zeichen an ihren Mänteln gezeigt, die sie dort gekauft haben – und nun wollen sie über die Pyrenäen nach Kastilien ziehen, um am Grab von Santiago zu beten.«

Juliana möchte gern wissen, wer dieser Santiago ist, doch damit würde sie Wolf zeigen, dass sie sich für seine Geschichte interessiert. Nein, sie muss ihn noch ein wenig mit Verachtung strafen. Dennoch hört sie gespannt zu.

»Sie waren zu dritt, drei Brüder, doch vor einer Woche ist der älteste erkrankt. Er bekam Fieber und hustete Blut. Es war schon recht schlimm um ihn bestellt, als die drei am Sonntag Wimpfen erreichten. Die Dominikaner haben die Pilger aufgenommen und sich um den Kranken gekümmert, aber es war zu spät. Vor zwei Tagen ist er gestorben, und die Mönche haben ihn gleich unten im Kirchhof an der Mauer beerdigt.«

»Wie schrecklich!«, entfährt es Juliana.

»Warum?«, will der Türmer wissen. »Jeder muss einmal sterben. Wenn er in Rom und Lucca Ablass erhalten, und seitdem nicht mehr viele Sünden auf sich geladen hat, dann ist seine Zeit im Fegefeuer nur kurz bemessen. Das ist doch gut. Außerdem haben die Dominikaner ihn sicher nicht ohne Beichte und letzte Ölung sterben lassen.«

Da das Mädchen nun nicht mehr vorgeben kann, nur die Landschaft zu betrachten, dreht sie sich zu ihrem Freund und dem Türmer um.

»Nein, das meine ich nicht. Noch zu Großvaters Zeiten stand dort auf dem Hügel vor der Stadt der Galgen! Dort starben die Ehrlosen und die Mörder und wurden im Schatten des Hochgerichts vergraben. Ist es nicht noch immer die gleiche Erde?« Ein Schauder durchläuft sie.

Samuel zuckt mit den Schultern. »Hm, ja, ich kenne mich mit solchen Dingen nicht aus, aber ich denke, nachdem der Galgen verlegt worden ist und der alte Engelhard von Weinsberg den Hügel an die Dominikaner verschenkt hat, zählt das nicht mehr. Nun stehen dort eine Kirche und ein Kloster, und die Bettelmönche leben und beten dort. Sicher haben sie die Erde von der Schande gereinigt und gesegnet … Nein, ich denke, der Pilger hat es gut getroffen.«

»Jedenfalls wollen die anderen beiden nun weiter nach Santiago ziehen«, unterbricht ihn Wolf ungeduldig, der endlich mit seiner Geschichte fortfahren will. »Gleich wenn der König und sein Gefolge wieder abgereist sind, wandern sie weiter, nach Heilbronn, zum Kloster Maulbronn und nach St. Peter im Schwarzwald, nach Freiburg und dann über den Rhein hinüber in die freie Reichsstadt Colmar.« Er geht in die Hocke und malt mit dem Zeigefinger die Route auf den staubigen Boden. »Weiter nach Westen bis nach Burgund und dann die Rhône entlang zum berühmten Kloster Cluny …«

»Wen interessiert das?«, äfft seine Freundin Wolfs Worte nach. »Ich weiß nicht, wo all diese Orte liegen. Was schert es mich, ob diese fremden Männer eine Woche oder zwei wandern müssen, um zu diesem Santiago zu kommen, von dem ich auch noch nie gehört habe.«

»Ein oder zwei Wochen?«, Wolf lacht. Er erhebt sich und wischt sich die staubigen Hände an seiner Cotte ab. »Die Pilger werden mehr als vier Monate unterwegs sein, bis sie die Stadt Santiago oder San Jacobo in Chompostella erreichen.«

»Mehr als vier Monate? Und die ganze Zeit wandern sie immer zu Fuß?« Wider Willen ist das Mädchen beeindruckt. Sie steigt hinter Wolf im düsteren Bergfried die Treppe hinunter und versucht sich vorzustellen, wie das ist, die Familie zu verlassen, um dann Tag um Tag, Woche um Woche über die staubige Landstraße zu wandern, nur um in einer fernen Stadt – ja, was eigentlich zu tun?

»Was machen die in Santiago, wenn die dort ankommen?«, erkundigt sich Juliana, als sie hinter Wolf ins grelle Sonnenlicht des Hofes tritt.

»Sie beten natürlich, was denn sonst? Sie gehen in die große Kathedrale, halten Nachtwache und erflehen die Vergebung ihrer Sünden. Sie sehen sich das Grab von Santiago an, der dort begraben ist. Santiago – so nennen die in Hispanien unseren Apostel Jakobus«, fügt Wolf hinzu, der ihren fragenden Blick sieht. »Jakob oder Jakobus der Ältere. Er hat viele Namen: Iacobus. Jaques oder eben auch Santiago.«

»Sie beten am Grab des heiligen Apostels«, wiederholt Juliana und zieht die Nase kraus.

»Ja, so wie die Pilger nach Rom ziehen, um an Petri Grab Vergebung zu erlangen oder zu den heiligen Stätten von Jerusalem, so wandern auch viele nach Santiago. Es sind Tausende jedes Jahr, hat mir Gilg, der Jüngste der drei, gesagt.«

Juliana versteht das nicht. »Ich kann zum Beten auch in die Kirche nach Wimpfen gehen oder nach St. Peter und Pater von Hauenstein besuchen. Es muss nicht das Grab von Jakobus sein.«

»In St. Peter bekommst du aber keinen Ablass«, gibt Wolf zu bedenken.

»Ach, dann sind diese Männer große Sünder und müssen deshalb so weit wandern?«

»Nein!«, ruft Wolf verzweifelt, »du begreifst das nicht. Der Apostel tut viele Wunder, und es ist für die Seele Reinigung und eine Freude, an dieser heiligen Stätte zu sein.«

Juliana sieht ihn an und runzelt irritiert die Stirn. »Du hast vollkommen Recht, das verstehe ich nicht. Meine Seele empfindet auch auf Ehrenberg und in Wimpfen Freude, und ich habe keine Sünden auf mich geladen, die mich zwingen, zu einem Grab in einem fernen Land zu pilgern.« Sie rafft Rock und Unterkleid und geht auf den Palas zu.

»Und was ist mit der Sünde des Hochmuts und der Eitelkeit? Die hast du gerade auf dich geladen!«, ruft Wolf ihr nach.

* * *

Zwei Wochen später liegen Wolf und Juliana in einem Heuhaufen auf der Hochebene im Westen von Ehrenberg und beobachten, wie der Wind die Wolken über den Himmel treibt.

»Diese dort ist ein Pferd«, sagt Wolf und deutet nach oben. »Sieh die Beine. Es läuft im Galopp, ein heißblütiger Hengst mit schlanken Fesseln, wie sich der Greck von Kochendorf einen gekauft hat.«

Juliana kichert. »Reinrassig kann er nicht sein, dein Wolkenhengst. Sieh dir seine Ohren an. Ich halte ihn für einen Esel – oder höchstens für ein Maultier – also völlig ausreichend für einen Schildknappen von dreizehn Jahren.«

Wolf schnaubt ärgerlich. »Du bist dran.«

»Dort hinten segelt ein großes Schiff auf uns zu. Sieh nur hier den Rumpf und dort zwei Masten mit geblähten Segeln.«

Wolf dreht den Kopf und versucht, das Bild in dem sich auftürmenden Wolkenberg zu erkennen.

»Ja, es ist eines dieser Riesenschiffe, die auf dem Meer fahren, weit draußen, so dass kein Land mehr in Sicht ist.«

»Bis ans Ende der Welt«, ergänzt Juliana verträumt.

»Finis terrae – das Ende der Welt. Wusstest du, dass die Felsen von finis terrae kaum drei Tagesmärsche von Santiago entfernt sind? Man muss nur weiter nach Westen gehen, dann erreicht man das Ende der Welt.«

Juliana stöhnt und hält sich die Hände vor die Augen. »Schon wieder der alte Apostel Jakob. Ich dachte, diese Geschichte läge hinter uns.«

Wolf springt auf. »Das ist nichts, was jemals hinter uns liegen kann. Du musst einmal richtig darüber nachdenken. Es ist das Grab des Apostels! Er hat Jesus gekannt und ist mit ihm gewandert. Er hat seine Wunder gesehen und seinen Leidensweg miterlebt. Und er ist Zeuge der Auferstehung geworden! Sein Leib ruht in der Krypta unter der Kathedrale, und jeder Pilger kann seinen Sarkophag berühren! Und nicht nur das. Der Apostel weilt noch unter uns. Er tut Wunder. Er ist den Christen in den Schlachten gegen die Mauren erschienen und ist auf seinem großen, weißen Pferd mit ihnen in den Kampf gezogen. Maurentöter nennen sie ihn voller Verehrung. Er hat dafür gesorgt, dass heute fast ganz Hispanien wieder christlich ist.«

»Er ist leibhaftig dabei und schlägt den Ungläubigen mit dem Schwert die Köpfe ab?«, zweifelt Juliana. Die Vorstellung ist ihr unheimlich.

»Aber ja, so haben es mir die Pilger in Wimpfen erzählt.«

In Julianas Geist tobt eine blutige Schlacht. Ein bärtiger Mann auf einem riesigen Ross reitet über tausend erschlagene Leiber und reckt sein Schwert in die Höhe, dessen Klinge rot glänzt.

»Ich weiß nicht, ich bete lieber weiter zur Heiligen Jungfrau, der barmherzigen, der friedfertigen.«

Wolf macht eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bete auch zum Herrn und zur Heiligen Jungfrau, und dennoch muss ich immer an Sankt Jakob denken und wie wundervoll es wäre, sein Grab mit eigenen Augen zu sehen und mit meinen Händen zu berühren. Schon jetzt kann ich meine Unruhe kaum mehr bezähmen. Denke nur, wie aufregend solch eine Pilgerreise ist. Jeder Tag bringt etwas Unbekanntes, einen neuen Weg. Man trifft immer wieder andere Menschen auf der Straße, die Geschichten erzählen können, und sieht die ganzen Städte und Länder, von denen man bisher nur gehört hat. Berge und Flüsse müssen überquert werden, und vielleicht ist man gezwungen, gegen wilde Tiere oder Wegelagerer zu kämpfen. Man wird selbst Teil einer aufregenden Geschichte, die man in den Jahren danach wieder und wieder gedrängt wird zu berichten.« Seine Wangen glühen, und die grünen Augen leuchten.

»Und, wann wirst du reisen?«, fragt seine Freundin in spöttischem Ton. »Wartest du deinen Ritterschlag noch ab, oder läufst du schon vorher in dein Verderben? Wenn ja, dann nimm die Beine richtig in die Hand, denn wenn Vater dich einholt, wird er dir eine Tracht Prügel verpassen, wie du sie noch nicht erlebt hast.«

»Ich weiß sehr wohl, was meine Pflicht ist«, ruft Wolf gekränkt. »Was denkst du von mir? Ich werde nicht einfach weglaufen und den Ritter ohne ein Wort verlassen.«

Das Siegel des Templers

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