Читать книгу Das Siegel des Templers - Ulrike Schweikert - Страница 13
Оглавление7Pampalona |
Juliana und André wanderten durch das Tal der Arga, vorbei an ärmlichen Weilern. Kieferwälder spendeten ihnen Schatten, später säumte die saftig-grüne Flussaue ihren Weg. Eine alte Brücke kreuzte die Arga, dann verließen sie das Wasser und stiegen auf einen bewaldeten Hügel, passierten eine einsame Kapelle und folgten dem Pfad wieder hinab. André war eigenartig schweigsam, nachdem er vor der Kirche so forsch auf seine Begleiterin zugegangen war. Ein paarmal versuchte Juliana, ein Gespräch zu beginnen.
»Warum ziehst du nach Santiago? Was treibt dich zum Grab des Apostels?«
»Hm«, brummte André, »kein besonderer Grund. Einfach so. Die weite Reise und das Abenteuer, nachdem ich so viele Jahre hinter Mauern auf einer Felsnadel über der Donau festgesessen habe.«
Juliana war nicht überzeugt, fragte jedoch nicht weiter. Schließlich gingen sie seine Gründe nichts an. Wer wusste schon, was er seinem Gott im Gebet versprochen hatte und warum.
»Und du? Was führt dich hierher?«
Darauf hätte sie gefasst sein sollen! Wie konnte sie sich nur so leichtsinnig auf gefährlichen Grund hinauswagen. »Ja, also, das ist so«, stammelte sie. Plötzlich stand ihr Wolfs Gesicht ganz deutlich vor Augen, und es erschien ihr wie eine himmlische Errettung.
»Auf der Burg gab es einen Jungen, Wolf, er war Page, später Knappe, und drei Jahre älter als ich. Wir waren Freunde. Irgendwann begann er, vom heiligen Jakobus zu erzählen und von dessen Grab im fernen Galicien. Ein paar Jahre später zog er los und ist nicht wieder zurückgekommen.«
»Und nun suchst du ihn?«
Juliana zögerte. »Ja …« Sie schwieg. »Bist du mit deinem Pferd auf die Reise gegangen?«, wechselte sie das Thema.
»Wie kommst du darauf?« André schien überrascht.
»Nun ja, deine Stiefel eignen sich besser zum Reiten als zum Laufen, und auch dein Rock ist der eines Reiters.«
»Gut beobachtet«, stimmte er ihr widerstrebend zu. »Ich habe es vor den Pyrenäen zurückgelassen – sowie auch mein Kettenhemd und den Helm.«
»Nur von deiner Schwertscheide willst du dich nicht trennen«, fügte das Mädchen hinzu.
»Nein«, sagte André nur und strich über das noch neue Leder. Seine Miene verdunkelte sich wieder, und er schien in Gedanken an einen anderen Ort zu reisen. »Außerdem ist es zu Pferd keine echte Pilgerreise«, sagte er unvermittelt in schroffem Ton. »Man muss sich dem Apostel zu Fuß nähern.«
»Dann kann das dort drüben kein Pilger sein«, vermutete Juliana und zeigte auf einen Mann, der in raschem Tempo den Hügel hinunterritt. Sie hatten sich ein Stück vom Weg entfernt und am Stamm eines alten Ahornbaumes niedergelassen. André schnitt gerade ein Stück Speck in zwei Teile und reichte seinem Begleiter einen. Bei Julianas Worten sah er auf. Der Mann beugte sich weit über den Hals des Tieres. Seine graubraune Kutte flatterte im Wind.
»Ein Bettelmönch auf solch einem Pferd«, rief André erstaunt. »Und sieh, wie er im Sattel sitzt, als habe er sein ganzes Leben dort verbracht.«
»Vielleicht hat er das Tier gestohlen«, mutmaßte das Mädchen.
»Möglich. Nicht unter jeder Kutte ist ein reines Herz.«
»Vielleicht ist er eigentlich ein Ritter, der eine schlimme Tat begangen hat, und zur Sühne einem Bettelorden beigetreten ist«, spann sie den Faden weiter. »Doch das ist ihm nicht genug. Er will sichergehen, dass ihm alle seine Sünden vergeben werden. Daher pilgert er nun nach Santiago.«
»So ein Blödsinn!«, stieß André schroff aus. Das Mädchen sah den schlanken jungen Mann an ihrer Seite erstaunt an. »Ich meine«, verbesserte er sich mit gepresster Stimme, »das würde ihm nichts nützen, wenn er auf seiner Pilgerfahrt ein Pferd stiehlt. Dann ist sie nichts mehr wert.«
»Gut, dann ist es eben sein Pferd, das er heimlich behalten hat, als er ins Kloster eintrat.«
André lachte ein wenig gezwungen und erhob sich. »Du hast eine blühende Phantasie. Vermutlich ist er gar kein Pilger. Er könnte ein Bote sein, oder er sucht jemanden, daher ist er so in Eile.«
Da war sie wieder, diese Beklemmung, und dieses Mal so stark, dass sie Juliana vor sich nicht mehr verleugnen konnte. Sie musste sich eingestehen, dass das ungute Gefühl schon beim ersten Blick auf den Reiter in ihr aufgekeimt war.
So ein Unsinn!, schimpfte sie sich im Stillen. Sei kein hysterisches Weib. Nur weil er eine Franziskanerkutte trägt wie Bruder Rupert? Es musste inzwischen Tausende Männer geben, die dem heiligen Franz von Assisi nacheiferten und in seine Bruderschaft eingetreten waren. Sie hatte gehört, der Heilige wäre sogar selbst diesen Weg gepilgert und habe auf seiner Reise Klöster gegründet. Und doch konnte sie den finsteren Bruder Rupert nicht mehr aus ihren Gedanken verdrängen. Als sie ihren Weg fortsetzten, hörte sie André kaum zu, der nun plötzlich wieder munter war und erzählte, was er über die Orte an ihrem Weg gehört hatte.
»Bald erreichen wir die große Stadt Pampalona. Ich bin schon sehr gespannt! Sieh nur, dort drüben hinter der Brücke kannst du die Basilika der Dreieinigkeit erkennen. Das Hospital gehört den Augustinerherrn von Roncesuailles, wie auch das Kloster, in dem wir heute die Nacht zugebracht haben. Sie müssen ihnen Abgaben bezahlen. Fray Lorenzo hat mir gestern Abend davon erzählt.«
Sie passierten die vielbögige Brücke und sahen auf das Wasser herab, das hier schäumend über felsige Abbrüche rauschte. Juliana und André beobachteten ein paar Männer, die an einem hölzernen Mühlrad arbeiteten. Andere waren dabei, die Flechtwände der neuen Mühle aufzurichten. Auf einem Karren lag bereits der untere Teil des Mühlsteines. Sicher würde die Kraft mehrerer Männer nötig sein, um ihn an seinen Platz zu wuchten.
Die beiden Pilger gingen weiter. Nicht einmal eine Stunde später trafen sie wieder auf den Río Arga, der sich wie eine Schlange nach Westen wand. Sie schritten über die Puente Magdalena, hinter der sich die Mauern von Pampalona aus der grünen Flussaue in den Nachmittagshimmel reckten.
* * *
»Sprecht Ihr Baskisch? Spanisch? Französisch?«, schallte ihnen eine Stimme entgegen, noch ehe sie das Stadttor erreichten. Ein zerlumpter Junge von acht oder neun Jahren trat ihnen in den Weg. »Ich kann auch ein wenig Italienisch. Wollen die Herren eine Führung durch die drei Städte? Bitte, ich weiß alles und erzähle Euch spannende Geschichten. Es kostet Euch nur zwei sanchete oder ein tornés chico oder was Ihr an kleinen Münzen dabeihabt. Ich nehme alles. Die Juden wechseln sie mir. Bitte, überlegt es Euch, ob Ihr es riskieren wollt, in dieser berühmten Stadt eine wichtige Sehenswürdigkeit zu versäumen.« Nun musste der Junge Luft holen.
»Verschwinde!«, raunzte ihn André an und hob die Hand, als wolle er ihm eine Ohrfeige verpassen. Der Junge duckte sich, wich aber nur einen Schritt zurück und sah noch immer abwechselnd von einem zum anderen.
»Kennst du die Geschichte von Kaiser Karl und dem Ritter Roland?«, wollte Juliana wissen.
»Sí, sí, Carlomagno. Ich kenne alle Geschichten, die der Franken und die der Basken. Ihr müsst mir nur sagen, auf welcher Seite Ihr steht und wer der Held sein soll.« Er streckte seine schmutzige Hand aus und sah Juliana aus weit aufgerissenen Kinderaugen an.
Ihr entfuhr ein Lachen. »Du bist hartnäckig und geschäftstüchtig, mein Kleiner.« Sie kramte eine Kupfermünze aus ihrem Beutel. »Mehr kann ich nicht entbehren. Für wie viele Geschichten reicht das?«
Der Junge betrachtete die Münze und ließ sie in seinem Kittel verschwinden. Dann streckte er André die Hand entgegen. »Wenn der edle Herr auch noch eine Münze hat, dann darf er die Geschichten ebenfalls hören, und ich führe Euch zu San Nicolás, San Lorenzo und zu San Cernin – und zum Palast des Königs natürlich.«
André schwankte zwischen Lachen und Ärger, gab dem Knirps schließlich aber eine Münze. »Gut, dann wollen wir aber den Kaiser als Helden. Wie heißt du?«
»Miguel, nach dem Erzengel«, sagte der Junge, zog sich den viel zu weiten Kittel zurecht und winkte ihnen, ihm an der Mauer entlang zum Nordtor zu folgen, während er sogleich mit seiner Geschichte über Karl den Großen begann.
»Wenn Ihr es vorzieht, den fränkischen Spielleuten zu glauben, dann war Pampalona zu dieser Zeit eine von Heiden und grimmigen Muselmanen bewohnte Stadt.« Er zog eine Grimasse, um zu zeigen, was er von dieser Version hielt. »Drei Monate belagerte Carlomagno die uneinnehmbaren Mauern ohne Erfolg. Dann kniete er nieder und flehte unseren San Jacobo um Hilfe an.« In einer Art Singsang sprach er die Verse: »Da zerbarsten, aufgrund der Bitten des heiligen Jakobs, die Mauern von ihren Grundfesten aus. Den Sarazenen, die sich taufen ließen, wurde das Leben geschenkt; diejenigen, die es ablehnten, kamen unters Messer.« Der Junge räusperte sich und spuckte in den Morast. »Sarazenen in Pampalona«, sagte er verächtlich. »Es war nicht die Taufe, die darüber entschied, wer eine Klinge in den Leib bekam.« Leise fügte er hinzu. »Ich frage mich immer wieder, ob Iacobus uns damals wirklich verraten hat.«
Pampalona bestand aus drei einzeln ummauerten Stadtteilen. Miguel führte sie ein Stück an der Außenmauer entlang, die vom Fluss aus gesehen beeindruckend hoch über ihnen aufragte. Sie reihten sich in den immer dichter werdenden Strom aus Menschen, Karren und Vieh ein, der auf das Stadttor zustrebte.
»Das ist das Portal del Abrevador«, sagte der Junge. »Von dort kommen auch heute noch die Fremden, die sich in der Stadt niederlassen … Allerdings nicht hier in den Mauern um die Kathedrale, denn dieses Viertel gehört den echten Navarresen. Außer den Juden, die in den Gassen südlich der Kathedrale wohnen, gibt es hier keine Fremden. Wir nennen unsere Stadt übrigens Irunga.«
Er führte sie zur Kathedrale und zeigte ihnen die größte Pilgerunterkunft, die direkt an ihre Mauern angebaut war. Dort drängten sich viele Männer und ein paar Frauen, meist an ihren zerlumpten Gewändern, an den Stäben und Kürbisflaschen als Pilger zu erkennen. Ein paar von ihnen trugen stolz die Jakobsmuschel am Hut oder an die Brust geheftet, zum Zeichen, dass sie ihr Ziel bereits gesehen hatten.
Während Miguel die beiden Fremden über den Platz vor der Kathedrale führte, erzählte er vom berühmten König Sancho el Mayor, der die Stadt zu Reichtum und Glanz geführt hatte.
Durch das Westportal betraten die drei die Kirche. Julianas Blick fiel auf die düster vor ihnen aufragende Rückwand des Chorgestühls, das das Mittelschiff fast völlig einnahm und ihnen den Blick auf den Altar verwehrte. Sie schritten durch das Seitenschiff an der mit beschädigten Schnitzereien versehenen Wand vorbei, die bis zur dritten Säule reichte.
Die Kathedrale war in einem erbärmlichen Zustand. Figuren waren von ihren Sockeln gestürzt, Schmuckwerk von den Wänden gerissen. In manchen Bereichen drohte gar der Einsturz. Zwar sah Juliana ein paar Gerüste, auch waren manche Bogen mit Holzstempeln abgestützt, sie konnte jedoch keine Handwerker entdecken, die sich der Schäden annahmen.
Dafür wurde am Kreuzgang eifrig gebaut. Mehrere Steinmetze saßen im Hof und formten Sandsteinblöcke für das prächtige Maßwerk der Spitzbogen, die den Innenhof mit dem Brunnen umfassten.
Miguel fuhr mit seiner Geschichte fort. »Der König war recht großzügig mit seinen Privilegien, die er an die Franken in San Cernin und San Nicolás gab. Das erfreute die alteingesessenen Basken nicht gerade. Und dann, vor dreißig Jahren, loderte der bis dahin schwelende Zorn in hellem Hass auf. Ein fränkisches Aufgebot von bewaffneten Männern stürmte die Navarreria. Sie plünderten die Kathedrale und zerstörten viele Häuser. Noch heute sind die Schäden an vielen Stellen zu sehen. Nun will der König ein Castillo in die Mitte bauen, das zu keinem der Viertel gehört, um die Navarrería zu schützen. Einen Graben haben sie schon ausgehoben, dort wo die Mauern hochwachsen sollen. Wir werden daran vorbeikommen, wenn wir nach San Nicolás hinübergehen.«
Sie passierten zwei Tore und durchschritten das Frankenviertel San Nicolás. Miguel plapperte ohne Unterlass, zeigte auf Kirchen und Klöster und wusste zu jedem Bauwerk eine Anekdote zu berichten. Inzwischen hatten sie das nördliche Barrio erreicht und standen vor der trutzigen Wehrkirche San Cernín, die sich an die Stadtmauer lehnte.
»Wie lange bleiben die Herren in Pampalona?«, wollte der Junge wissen, als ihm keine Geschichte mehr einfiel. »Soll ich Euch ein gutes Quartier empfehlen? Alle Pilger rasten hier – viele für ein paar Tage!«
Juliana fuhr herum. »Alle Pilger? Bist du sicher, dass jeder in der Stadt Quartier nimmt?«
»Aber ja!« Miguel nickte heftig mit dem Kopf. »Es ist die wichtigste Stadt in Navarra.«
Die Erregung stieg ganz plötzlich in Juliana hoch. »Kennst du alle Spitäler und Pilgerherbergen?«
Wieder nickte der Junge. »Das sind eine ganze Menge. Die größte Armenherberge ist das Hospital von San Miguel gegenüber der Kathedrale, dann gibt es die dort drüben, die zur Kirche San Cernin gehört, das Hospital San Llorente, das Hospital de los Labradores und das de Santa Catalina und dann vor der Stadt an der Magdalenenbrücke das Spital der Leprosen …« Juliana hob abwehrend die Hände und der Junge verstummte. Ihr Mut sank. Dennoch fragte sie:
»Wenn du jemanden suchen wolltest, einen Pilger, wo würdest du beginnen?«
»Einen armen oder einen reichen?«
Das Ritterfräulein zögerte. »Einen armen Mann«, sagte sie dann.
»Geht zur Kathedrale«, schlug Miguel vor. »Fast alle klopfen dort zuerst an. Ich kann Euch nachher hinbegleiten – aber zuerst zeige ich Euch noch den Palast. Ich habe ihn absichtlich bis zum Schluss aufgespart. Wenn wir Glück haben, lassen uns die Wachen heute näher heran, denn unser König Ludwig und seine Gemahlin Margarete von Burgund sind mit dem Infanten gerade nicht in der Stadt.«
Juliana unterdrückte ein Stöhnen. Sie war müde und hungrig, und ihr taten die Füße weh. Alles, was sie wollte, war eine Bank, auf die sie sich setzen konnte, und einen Teller mit warmem Essen. Und einen Menschen, der ihr sagte, dass er den Vater vor nicht allzu langer Zeit gesehen hatte und dass er wohlauf war.
* * *
Die Nacht war hereingebrochen. Juliana saß mit einigen anderen Pilgern im großen Refektorium des Spitals. Nach dem üppigen Essen fühlte sie sich schläfrig. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und knetete sich die geschwollenen Füße. Auf der anderen Seite stimmten ein paar Männer ein französisches Pilgerlied an. Unwillkürlich summte das Mädchen mit. André lehnte neben ihr an der Wand. Er hatte die Augen geschlossen und schnarchte leise.
Der Mönch, der ihnen das Essen ausgeteilt hatte, kam, um die leeren Schalen einzusammeln. Das war eine gute Gelegenheit. Das Ritterfräulein fasste sich ein Herz und fragte ihn nach ihrem Vater. Sie beschrieb den Ritter genau. Bruder Basilius neigte den Kopf zur Seite und musterte Juliana. Erstaunen zeichnete sich in seiner Miene ab.
»Das ist ja seltsam«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Was?« Ein Hoffnungsschimmer rieselte durch ihren Körper.
»Erst gestern hat jemand nach dem gleichen Pilger gefragt – aus Franken sagst du? Vom Ufer des Neckars?«
Das Mädchen erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Wer konnte sich hier in Navarra nach dem Vater erkundigen? Fast überhörte sie, was der Mönch hinzufügte.
»Und nach einem blonden Mädchen von siebzehn Jahren hat er gefragt, ebenfalls aus Franken.«
»Wie ist ihr Name?«, mischte sich André ein, der erwacht war und anscheinend zugehört hatte. »Du bist doch von dort? Hast du mir das nicht gesagt? Vielleicht kennst du sie?«
Juliana keuchte. »Nicht sehr wahrscheinlich«, würgte das Fräulein hervor, »es gibt in Franken viele Orte und Burgen. Man kann nicht alle von ihnen kennen.«
Der Mönch legte die Stirn in Falten, dann erhellte sich seine Miene. »Jetzt fällt es mir wieder ein: Juliana von Ehrenberg!«
»Von Ehrenberg?«, wiederholte André und sah das Mädchen überrascht an. »Aber sagtest du nicht …« Er verstummte, als Juliana ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß. Der Blick, den er ihr zuwarf, versprach jedoch nichts Gutes. Sie musste sich eine plausible Geschichte einfallen lassen, und zwar schnell!
Als sie zum Schlafsaal hinübergingen, platzte der junge Ritter mit seiner Frage heraus. »Du kennst dieses Mädchen, nicht? Du bist doch auch von Ehrenberg?« In seinem Blick war etwas Lauerndes.
Juliana schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe dir nicht meinen richtigen Namen gesagt. Entschuldige, das war nicht recht von mir. Ich nannte Ehrenberg, weil es mir in den Sinn kam. Ich war zu Gast auf der Burg und hörte von dem Mädchen, das sich auf den Pilgerweg gemacht hat. Sicher kam mir deshalb der Name in den Sinn.« Sie sah ihn prüfend an. Würde er ihr diese Geschichte abnehmen?
»Ach so ist das«, sagte André, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Willst du mir nun deinen richtigen Namen verraten?«
Juliana senkte den Blick. »Nein, lieber nicht. Wenn du nun allein weiterziehen willst, kann ich das verstehen.«
Der junge Ritter schüttelte den Kopf. Noch immer sah er sie aufmerksam an. »Unsinn. Wir haben das Recht, vor den Menschen unsere Geheimnisse zu bewahren. Gott kennt die Wahrheit – ist das nicht genug?«
Etwas brüsk wandte er sich von ihr ab und legte sich auf ein Lager, das in einiger Entfernung zu der Matratze war, auf der Juliana ihre Tasche und den Rucksack abgelegt hatte.
»Du hast gesagt, du würdest einen Edelmann suchen«, sagte er nach einer Weile, ohne sie anzusehen. »Ich denke, es handelt sich eher um ein Edelfräulein! Auch du suchst nach diesem Mädchen. Wer aber mag der Ritter sein, nach dem du dich erkundigt hast? Ihr Ehemann? Ihr Bruder oder Vater? Ist sie davongelaufen? Vor ihm oder vor dir?« André schien keine Antwort zu erwarten, sondern kehrte Juliana den Rücken zu und rollte sich unter seiner Decke zusammen.
* * *
Auch der nächste Morgen hielt eine Überraschung für Juliana bereit. Sie hatte sich früh erhoben und löffelte gerade im fast leeren Saal einen Teller Haferbrei, als ein Mann in einer Kutte hinter sie trat. Sie achtete nicht auf ihn, sah nur den groben Stoff aus den Augenwinkeln. Das Mädchen schob die letzten Reste Brei in den Mund und leckte genüsslich den Löffel ab. Erst jetzt merkte sie, dass die Gestalt in der Kutte noch immer hinter ihr stand. Sie konnte seinen Blick in ihrem Rücken spüren. Das Kribbeln begann in ihrem Nacken und wanderte langsam an ihr hinab. Sie wusste bereits, wer es war, bevor er zu sprechen begann und sie seine tiefe Stimme hörte.
»Einen gesegneten Morgen wünsche ich. Ist das nicht der junge Johannes aus Franken? Nein, welch Überraschung, dass wir uns wieder begegnen, nachdem wir uns so unerwartet aus den Augen verloren haben!« Die muskulöse Gestalt trat um den Tisch herum und setzte sich ihr gegenüber, eine volle Breischale in den Händen. Ein Lichtstrahl ließ die Narbe an seinem Hals weiß schimmern.
»Euch auch einen guten Morgen, Bruder Rupert«, seufzte das Mädchen. »Ganz so unerwartet ist unser Wiedersehen für Euch sicher nicht. Ihr seid schnell unterwegs gewesen!« Er brummte nur, senkte den Blick auf seine Schale und begann, gleichmäßig den Brei in sich hineinzuschaufeln.
»Habt Ihr es plötzlich so eilig, das Apostelgrab zu sehen, dass Ihr auch die Nächte durchwandert?«, fragte sie sarkastisch.
»Nein«, antwortete er mit vollem Mund, »ich bin bereits seit gestern hier, dachte aber, ich könnte hier noch etwas Warmes essen, bevor ich mich weiter auf den Weg mache.
»Gestern schon? Ach, dann seid Ihr mit Engelsflügeln geflogen – oder gar auf dem Rücken eines teuflisch schwarzen Pferdes?«
Nun hob der Bruder die dichten Brauen und sah das Mädchen an. »Dann habe ich dich wohl überholt, ohne dich zu sehen? Ja, ich bin geritten. Es gibt noch wahre Christenmenschen, und einer davon musste sein Pferd nach Pampalona bringen, da er es dorthin verkauft hat. Meine Füße brauchten ein paar Stunden Schonung. So hatten wir beide etwas von dem Geschäft.«
Das Ritterfräulein glaubte ihm kein Wort. Er hatte nach ihr gesucht und keine Mühen gescheut, sie einzuholen. Warum? Was wollte er von ihr?
»Es war nicht klug von dir, den Weg über die Pyrenäen allein auf dich zu nehmen«, brummte der Mönch und kratzte sich den Bart. Vermutlich hatte sich Ungeziefer darin eingenistet. »Es ist nur Gottes Nachsicht mit dir zu verdanken, dass du nicht in ernsthafte Schwierigkeiten geraten bist. Haben wir nicht oft genug darüber gesprochen? Hast du die Elenden in Valence vergessen, die den Räubern in die Hände gefallen sind?«
Juliana presste trotzig die Lippen aufeinander. Wer war er, dass er sich erlauben konnte, ihr solche Vorhaltungen zu machen? Sie ließ die leise Stimme in sich nicht zu Wort kommen, die ihr sagte, dass er vollkommen Recht hatte.
»Danke, ich bin gut zurechtgekommen«, sagte sie patzig. »Und das werde ich auch in Zukunft!«
»Das freut mich zu hören.« Bruder Rupert ließ sich nicht provozieren.
André kam verschlafen in den Saal, gähnte und sah sich um. Er zögerte einen Moment, dann trat er an den Tisch, begrüßte Juliana und stellte sich dem Bettelmönch vor.
»Ihr kennt euch?«, wollte er wissen, während er die massige Gestalt des Bettelmönchs musterte.
»Ja, wir hatten das Vergnügen, von Freiburg bis zum Fuß der Pyrenäen miteinander zu reisen«, sagte der Mönch, ohne den Blick von dem Ritterfräulein zu wenden. »Und es ist eine Freude, dass wir uns hier so ganz zufällig wiederbegegnen, so dass wir von nun an unseren Weg gemeinsam fortsetzen können. Schließlich ist uns Pilgern allen wohl bewusst, wie gefährlich es ist, wenn wir allein und schutzlos über die Landstraße wandern!«
Juliana wich dem Blick aus den braunen Augen aus. »Ich bin nicht allein«, widersprach sie. »Ritter André de Gy wird mit mir gehen.« Sie sah den jungen Mann aus Burgund flehend an.
»Ja, das stimmt«, sagte er zögernd, »dennoch muss ich dem Bruder zustimmen, dass einer größeren Gruppe von Pilgern sicher weniger Gefahren drohen als ein oder zwei Männern.« Er streckte dem Bettelmönch die Hand entgegen. »Wohl dann, Bruder Rupert, wandern wir zusammen. Ich will nur rasch eine Schale Brei leeren. Dann können wir aufbrechen.«
Der Mönch schob seine Hände in die Ärmel und neigte den Kopf. Juliana sah, wie sich der ungepflegte Bart, der so gar nicht zu einem Mönch passte, zu einem zufriedenen Lächeln teilte. Sie unterdrückte einen Seufzer. Was blieb ihr anderes übrig, als sich zu fügen? Schließlich sprach nichts dagegen, sich wieder in Bruder Ruperts Gesellschaft zu begeben – nichts außer das seltsame Gefühl in ihrer Magengrube.