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3Roncesuailles

Sonnenlicht ließ die dünnen Häute vor den Fenstern golden leuchten. Juliana schlug die Augen auf und sah zu einer hölzernen Balkendecke empor. Die Erinnerung kehrte nur langsam zurück. Dies war weder ihre Kammer im Stadthaus in Wimpfen noch die Kemenate auf Burg Ehrenfels. Sie war im Kloster Roncesuailles im Königreich Navarra, Pilgerspital der Canónigos Regulares de San Agustín – und sie hatte die Pyrenäen überwunden!

Rasch warf Juliana die Decke ab, zog ihr Hemd über die Knie und angelte nach Beinlingen und Kittel. Während sie sich die knöchelhohen Schuhe band, ließ sie den Blick durch das Pilgerspital schweifen. Falls die Betten in der Nacht alle belegt gewesen waren, dann hatten sich die meisten der Gäste bereits wieder auf den Weg gemacht. Nur noch drei Lager waren besetzt. Auf einer der Matratzen lag ein älterer Mann mit Tonsur. Seine Augen waren geschlossen, die Stirn von Schweißperlen bedeckt. In fiebrigen Träumen gefangen warf er den Kopf hin und her und murmelte unverständliche Worte. Im Bett daneben ragte nur ein schwarzer Haarschopf unter der Decke hervor, und auf dem Lager direkt bei der Tür schwang gerade ein junger Mann seine Beine unter dem Laken hervor und zeigte seine dick verbundenen Füße. Er zog eine Grimasse und seufzte, dann wanderte sein Blick zu Juliana hinüber, und er lächelte. Ein Schwall Wörter einer ihr völlig fremden Sprache schlug ihr entgegen. Juliana zuckte mit den Schultern. Sie griff nach ihrem Bündel und dem Mantel. In Deutsch, Französisch und Latein wünschte sie dem fremden Pilger einen gesegneten Morgen und verließ den Schlafsaal begleitet von einer weiteren Wörterflut.

Juliana trat auf einen Hof hinaus und blinzelte ins grelle Morgenlicht. Was für ein herrlicher Tag! Wolken und Regen hatten sich verzogen, der Nebel sich aufgelöst. Und nun stand die Sonne am blauen Spätsommerhimmel. Sie ließ den Blick schweifen. Das Kloster war beeindruckend groß und gruppierte sich um zwei Höfe, die durch einen Torbogen miteinander verbunden waren. Kirche, Kreuzgang und Spital lagen um den talwärts gelegenen Hof. Wie die Augustinerstiftsherren die anderen Gebäude nutzten, ließ sich von außen nicht erahnen.

Der Bruder Infirmarius trat aus dem Kirchenportal und schritt auf den Krankensaal zu. Sein Gehilfe Enneco folgte mit dem schweren Medizinkoffer.

»Guten Morgen und Gottes Segen, mein Junge. Willst du weiterziehen?«, fragte der Augustinerherr freundlich.

Juliana verbeugte sich und gab den Morgengruß zurück: »Ja, ich werde weiterwandern. Diesen schönen Sonnentag darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen.«

Die schwarz gekleidete Gestalt lächelte. »Ja, hier oben ist die Sonne ein Segen. Doch warte, bis sie dich auf der Weite der Meseta verbrennt. Dann wirst du Regen und Wolken erflehen – anderseits, soll die Pilgerreise nicht Mühe und Plage sein?«

Juliana sagte nicht, dass sie darauf gut und gern verzichten konnte und dass sie alles lieber machen würde, als nach Santiago zu ziehen, stattdessen murmelte sie undeutlich etwas, das man als Zustimmung auslegen konnte.

»Wie geht es deinem Knie?«, erkundigte sich der Infirmarius. »Ich werde es mir noch einmal ansehen. Wenn du möchtest, kannst du noch einen Tag hier ruhen. Der große Strom der Pilger ist diesen Sommer schon vorbei, und ich glaube nicht, dass heute Abend so viele zu uns kommen, dass alle Betten belegt werden.«

Juliana dankte, lehnte das Angebot zu bleiben jedoch ab. Sie war nicht über die Berge geeilt, um nun müßig darauf zu warten, dass der düstere Bettelmönch sie wieder einholte. Schon wieder hatte sie das Gefühl, seine Augen im Rücken zu spüren. Hatte Bruder Rupert sie etwa schon erreicht? Das Mädchen fuhr herum, doch sie sah nur einen alten Mann, der sich schwer auf seinen Stock stützte und zur Kirche hinüberhumpelte.

»Du willst sicher noch die Kirche besuchen«, brachte sich der Bruder Infirmarius wieder in Erinnerung. »Das kannst du gleich tun, sobald mein Gehilfe deine Wunde frisch verbunden hat … Und lass dir ein wenig Wegzehrung in der Küche mitgeben!«

Den letzten Rat würde Juliana sicher nicht vergessen! Und sie hatte auch nicht vor weiterzuwandern, ehe sie nicht eine Schale Gerstenbrei geleert hatte.

* * *

Ein wenig später trat Juliana gestärkt, mit frisch verbundenem Knie und gefülltem Beutel auf das offene Tor zu. Sie war bereit, ihren Weg fortzusetzen. Wozu sollte sie Zeit vergeuden, um in der Kirche zu beten? Sie stand schon unter dem düsteren Torgewölbe, als sie innehielt. Sie war keine richtige Pilgerin, aber konnte nicht auch sie den Beistand des Herrn im Himmel und der Heiligen Jungfrau gebrauchen? War es das nicht wert, ein paar Augenblicke zu verweilen? Zögernd schob sie das schwere Kirchenportal auf und trat ein. Warmes Licht fiel durch die mit farbigem Glas besetzten Rosetten hoch oben in den Wänden. Das Mädchen stieg die Stufen zum mittleren der drei Schiffe hinunter und ging auf den Altar zu. Obwohl sie sich bemühte, ihre Sohlen leise aufzusetzen, hallten ihre Schritte in dem Gewölbe über ihr wider. Juliana legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick die Säulen hinaufwandern, bis zur Decke hinauf.

»Hier ist man dem Schöpfer nahe«, erklang eine Stimme. Sie fuhr herum. Der Alte mit dem Stock trat aus dem Schatten einer Nische und humpelte auf sie zu. »Dass öder Stein dazu geschaffen ist, menschliche Stimmen in einen Engelschor zu verwandeln, das ist für mich ein göttliches Wunder!«

Sie musste ihn nicht fragen, wie er das meine, denn er öffnete den Mund und begann, auf Lateinisch zu singen: »Ave Regina Coelorum, Ave Domina Angelorum …« Seine Stimme war erstaunlich klar und voller Kraft. »Komm, sing mit. Du kennst den Choral doch sicher?«

Juliana schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht singen«, log sie. Beim Sprechen fiel ihre helle Stimme nicht so auf. Man hielt sie nur für jünger, als sie war, doch für eine hohe Knabenstimme war sie eindeutig zu alt.

»Unsinn«, wehrte der Alte ab, als er sein Lied beendet hatte. »Jeder kann seine Stimme zu Gottes Lob nutzen – und zur Ehre der Heiligen Jungfrau.« Zum Glück drang er nicht weiter in sie, sondern fuhr fort: »Ihr ist diese Stiftskirche geweiht.« Er machte eine ausladende Geste. »Der große König Sancho el Fuerte ließ den Augustinerherren diese Kirche bauen. Vielleicht war das ihr Lohn dafür, dass sie schon seit Menschengedenken die Pilger, die über die Berge kamen, aufnahmen und ihnen Gutes taten.«

»Lebt der König noch?«, fragte Juliana.

Der Alte kicherte. »Du bist mir ein Spaßvogel. Aber nein! Die Kirche ist schon über einhundert Jahre alt – zumindest manche Teile. Und dennoch ist er noch hier – ganz in der Nähe«, fügte er in verschwörerischem Flüsterton hinzu. »Willst du ihn sehen?« Das Mädchen sah ihn verwirrt an.

»Seine Gebeine! Sein Grabmal – nun ja, vielleicht auch seinen Geist«, neckte der Mann, »aber ich fürchte, Letzteren kann ich dir nicht zeigen.«

Er führte sie zu einem steinernen Sarkophag.

»Der König muss diesen Ort sehr geliebt haben, dass er sich so weit von seinem Hof entfernt am Fuß der Berge begraben ließ«, sagte Juliana, als sie die riesenhafte Statue des Monarchen betrachtete, die mit seltsam zur Seite gekippten Beinen auf seinem Sarg lag.

»Geliebt?« Der Alte lachte leise und kratzte sich seinen grauen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte. »Nun ja, vielleicht auch das. Ich denke, er war ein Held und wollte, dass alle Welt ihn als solchen verehrt. Er war der Sieger in der Schlacht von Las Navas de Tolosa … Sieh, diese Ketten hat er eigenhändig vom Zelt des muselmanischen Feldherrn gerissen und sie zum Zeichen seines Triumphes mitgebracht.« Er deutete auf die rostige Trophäe, die sorgfältig an der Wand befestigt war.

»Und was für ein passenderes Grab kann es für einen Helden geben, als Seite an Seite mit Carlomagnos Gefallenen?«

»Carlomagno? Unser Kaiser Karl, den man den Großen nennt? Dann hat die Schlacht wirklich hier stattgefunden? Ist Roland hier an diesem Ort gestorben?«

Der Alte zuckte mit den Schultern. »Wer kann das nach so langer Zeit noch sagen? Es ruhen viele alte Gebeine drunten in der Grabkapelle. Warum nicht auch Rolands tapfere Streiter? Zumindest ist das ein prächtiger Ort für ein Kloster, der einen guten Namen trägt: Roncesuailles, Die Basken würden diesen Namen übrigens nie in den Mund nehmen, Sie nennen den Ort Orierriaga*.« Wieder teilte ein Grinsen sein Bartgestrüpp, »Sie sind nicht so gut auf euren Kaiser und seinen Roland zu sprechen.«

»Warum denn nicht?«, wunderte sich Juliana und folgte ihrem Führer durch die Kirche zurück.

»Weil der Kaiser nicht sehr zartfühlend mit ihrer Stadt Irunga** – oder Pampalona***, wie manche sie nun nennen – umgesprungen ist. Solch eine Festung in seinem Rücken gefiel dem großen Kaiser nicht, also ließ er die Stadt zerstören und die Mauern schleifen. Heute ist die Stadt natürlich längst wieder aufgebaut. Du wirst es sehen, wenn du sie morgen erreichst … Jedenfalls hat das wiederum den Basken nicht geschmeckt. Hast du dich nie gefragt, wie Roland in den Hinterhalt geriet? Die Basken kannten sich hier aus. Sie hätten gewusst, wo sie zuschlagen müssen.«

Das Mädchen sog geräuschvoll die Luft ein. »Aber sie waren doch Christen! Meint Ihr wirklich, sie hätten mit den Sarazenen gemeinsame Sache gemacht?«

Der Alte tätschelte ihr die Schulter. »Du bist noch sehr jung. Warte ab. Es wird nicht dauern, bis du solch ein langes Gewächs im Gesicht hast wie ich, bis du begreifst, was den Menschen am wichtigsten ist und für wie wenig sie bereit sind, Treue und Schwüre zu vergessen. Vielleicht haben die Chronisten ja nur behauptet, die Nachhut wäre den Sarazenen zum Opfer gefallen. Eine viele Tausend Mann starke Armee Ungläubiger kann selbst ein Held nicht besiegen. Wäre es dagegen nicht peinlich gewesen zuzugeben, dass eine rachsüchtige Horde Basken dem großen Roland und seinen Mannen das Lebenslicht ausgeblasen hat?«

»Welch lästerlicher Gedanke«, wehrte Juliana ab. Sie stieg die Stufen hoch und öffnete das Kirchenportal. Der Alte humpelte schwerfällig hinterher. »Das könnt Ihr nicht im Ernst meinen. Ich bin mir sicher, dass es sich genauso zugetragen hat, wie die Troubadoure es erzählen.«

Ihr Begleiter neigte das Haupt. Gemeinsam ließen sie die Einfriedung des Klosters hinter sich und traten in die Morgensonne hinaus.

»Die alten Geschichten zu glauben, ist das Privileg der Jugend. Jedenfalls solltest du es nicht versäumen, die Gebeine im Silo de Carlomagno zu betrachten. Und denke an mich, wenn du hinter dem Weiler des Klosters, durch den du schon bald kommst, deinen Blick über die weite Ebene schweifen lässt. Denn dort ließ der böse Muselmann seine fünfzigtausend Mann starke Truppe aufmarschieren. Welch ein Bild muss das für den tapferen Roland von seinem Hügel herab gewesen sein, der noch nicht einmal über die Hälfte an Männern verfügte!«

Ihr Begleiter verneigte sich ein weiteres Mal. »Wie ist dein Name, mein junger Freund?«

»Jul – äh – Johannes«, stotterte das Mädchen und lief rot an.

»Juan, wie unser heiliger Apostel und Verfasser der Apokalypse.«

»Und wer seid Ihr?«, stieß sie hervor, um ihn von ihrem Patzer abzulenken.

Der Alte legte den Kopf schief und sah sie aus seinen klaren, blauen Augen an. »Ich wurde nach dem ungläubigen Thomas getauft. Ein ganz passender Name, auch wenn meine Eltern das bei meiner Taufe noch nicht ahnen konnten – oder vielleicht doch? Wer weiß.«

»Seid Ihr ein Pilger auf dem Weg zum heiligen Jakobus?«

Er sah zum Himmel hinauf. Das Blau seiner Augen schien noch dunkler zu werden. »Sind wir nicht alle Pilger? Sind wir nicht unser ganzes Leben lang Suchende?« Er schien etwas zu betrachten, das nur er selbst sehen konnte. »Einst kam ich von Norden, wie du, über die Berge, um Santiago zu suchen. Es ist viele Jahre her, und mein Weg ist nicht zu Ende. Und doch ist noch nicht der rechte Zeitpunkt weiterzuziehen. Ja, ich werde noch ein wenig hier bleiben. Alles wird sich finden.« Sein Blick kehrte zu dem Mädchen zurück.

»Ich wünsche dir Gottes Segen auf deiner Reise, Juan«, sagte er zum Abschied. »Vielleicht gehörst du zu den Glücklichen, die mehr finden, als sie suchen. Vielleicht. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass du dich daran gewöhnen musst, dass unser Weg mit mehr Fragen als Antworten gepflastert ist. Aber wenn Er es gut mit uns meint, lernen wir, mit den wenigen Antworten zufrieden zu sein.«

Damit drehte er sich um und humpelte zum Kloster zurück. Juliana sah dem »ungläubigen Thomas« nach, bis er im Schatten des Torbogens verschwand.

* * *

Sie war wieder unterwegs. Setzte einen Fuß vor den anderen. Ihre Schuhe hatte sie gesäubert und mit Fett eingerieben, der Mantel und ihre Kleider waren über Nacht fast getrocknet. So schritt sie weit aus und summte in dem Takt, in dem der Wanderstab den Boden berührte. Singen war gut, das hielt einen vom Nachdenken ab.

Juliana folgte dem sanft abfallenden Pfad nach Südosten. Die Buchen wurden spärlicher, stattdessen wuchsen Eichen und Lärchen, Buchsbäume und Stechpalmbüsche an ihrem Weg. Ein Kleiber tippelte kopfüber einen Stamm herunter und flog dann davon, als ihre Schritte sich näherten. Sonnenstrahlen durchfluteten das lichte Blätterdach und malten Muster auf den weichen Waldboden. Der Abhang wurde wieder steiler, und schon bald lag das Dorf zu ihren Füßen, dessen Höfe den Augustinerherren gehörten. Außer ein paar Hunden begegnete das Mädchen keinem Lebewesen. Die Bauern und Knechte waren wohl auf den Feldern unterwegs oder beim Vieh auf den Weiden, die sich hier ringsum erstreckten.

Der Weg führte über eine steile Böschung zu einem Bach hinunter. Juliana tänzelte über einen dicken Stamm, den die Dorfleute wohl zu diesem Zweck übers Wasser gelegt hatten. Ein weiter Talkessel mit grünen Weiden erstreckte sich vor ihr, auf allen Seiten von Hügelketten umgrenzt.

Hier also hatte sich das große Sarazenenheer versammelt, kamen ihr die Worte des Alten in den Sinn. Und da er sich nun schon einmal in ihrer Erinnerung befand, drängten sich auch die anderen Dinge wieder in ihr Bewusstsein, die der ungläubige Thomas gesagt hatte.

Alle Menschen sollten Pilger sein? O nein, da irrte er sich! Sie wollte nicht nach Santiago ziehen, sie wollte von zu Hause weg! Es war eine Flucht vor der ratlosen Miene der Mutter, die ihre Verzweiflung in Schweigen hüllte, vor den Blicken der Bürger und Burgmannen, die, sobald sie ihnen den Rücken zukehrte, über »die Sache« flüsterten, vor Wilhelm von Kochendorf, der sie nun umso heftiger bedrängte und sie heiraten wollte, um an Vaters Stelle Vogt der Pfalz zu werden. Vielleicht versuchte sie auch, vor sich selbst zu fliehen und vor der Gewissheit, dass alles, was ihr Leben ausgemacht hatte, mit diesem einen Abend im Juni weggewischt worden war und niemals wiederkehren würde? Sie, eine Pilgerin, so wie Wolf damals? Nein! Aber eine Suchende, ja, da hatte der ungläubige Thomas Recht. Sie suchte ihren Vater, und sie suchte die Wahrheit!

Wirklich?, flüsterte eine Stimme in ihr. Wenn du ihn findest, bist du dann bereit, die Wahrheit zu erfahren? Oder willst du nur das hören, was du ertragen kannst?

Juliana sah an sich hinab. Inzwischen war sie zumindest äußerlich nicht mehr von den anderen Pilgern zu unterscheiden. Sie trug Hut, Stab und Kalebasse bei sich. In ihrer Tasche steckte sogar ein offizieller Pilgerbrief, wenn auch nur deshalb, weil Bruder Rupert sie geradezu gezwungen hatte, zur Pilgermesse zu gehen, die an diesem Sonntag gefeiert wurde, und Segen und Brief des Bischofs entgegenzunehmen.

In Freiburg war sie dem Bettelmönch zum ersten Mal begegnet, ja, war geradezu auf ihn gestoßen. Sie war in den Straßenschmutz gefallen, und er hatte ihr die Hand gereicht, um ihr aufzuhelfen. Bruder Rupert bestand darauf, seine Unaufmerksamkeit sei an dem Zusammenstoß schuld gewesen, und lud sie zu einem Kräutermet in eine der Schankstuben ein. So waren sie ins Gespräch gekommen, und er war entsetzt gewesen zu hören, dass sie als Pilger ohne Brief unterwegs war.

»Junge, nur mit dem Brief stehst du unter dem Schutz der heiligen Kirche und bist in Herbergen und Pilgerspitälern willkommen. Sonst sieht man in dir nicht mehr als einen fahrenden Bettler, den man von seinem Hof jagt, und hetzt dir den Hund hinterher.«

Der Bischof hatte ihre Tasche gesegnet, die, wie ihr Bruder Rupert erklärt hatte, klein und aus der Haut eines toten Tieres gefertigt sein musste und die man immer offen trug.

»Sie ist das Sinnbild für die Freigebigkeit und die Abtötung des Fleisches. Die Enge der Tasche bedeutet, dass der Pilger nur einen bescheidenen Vorrat mit sich führt, denn er vertraut auf den Herrn. Die Haut symbolisiert, dass er seine fleischlichen Begierden durch Hunger und Durst, Kälte und Mühen abtötet. Und die Tasche ist stets offen, weil der Pilger das Wenige, das er hat, stets mit den Armen teilt.«

Sie hoffte, es würde ihn ärgern, dass sie zu ihrer Pilgertasche weiterhin den fest verschnürten Leinenrucksack auf dem Rücken trug. Anmerken ließ sich der düstere Mönch mit der Statur eines Kämpfers allerdings nichts. Den Pilgerstock dagegen nahm Juliana gern an, und er hat ihr bisher gute Dienste geleistet.

»Empfange diesen Stab als Stütze für deine Reise und die Mühsale deiner Pilgerschaft«, sagte der Bischof mit weicher Stimme und legte seine Fingerspitzen auf das glatte Holz. »Auf dass du alle bösen Feinde besiegen kannst und sicher zum Grabe des heiligen Jacobus gelangst. Und auf dass du nach Vollendung deiner Reise freudvoll zu uns zurückkehrst, nach dem Willen dessen, der als Gott lebt und regiert in alle Ewigkeit. Amen.«

Es waren mehr als zwei Dutzend Pilger, die in Hut und Mantel aus der Kirche traten und sich auf die Straße nach Sankt Jakob begaben. Sie wanderten in kleinen Gruppen – mal blieb einer zurück, mal kamen andere hinzu. Es gab verschiedene Wege durch Burgund und Frankreich und auch zwei Routen über die Pyrenäen. So verlor man sich und traf einander zufällig wieder – nur Bruder Rupert klebte von nun an an ihr und folgte ihr wie ein Schatten. Erst fiel es Juliana nicht auf, doch dann fühlte sie immer öfter seinen Blick in ihrem Rücken. Wenn sie herumfuhr, stand er meist keine zehn Schritte von ihr entfernt und senkte nur zögernd die Lider. Auch kam es ihr so vor, als lausche er aufmerksam ihren Worten, wenn sie mit anderen Mitreisenden sprach, obwohl er sich den Anschein gab, als wäre er mit seinem Bündel, seinen Schuhen oder einem kargen Mahl beschäftigt.

Wer war er, und warum interessierte er sich für sie? Als sie das Tal der Rhône hinter sich ließen und nach Westen wanderten, begann Juliana, ihn zu beobachten. Er war vielleicht so alt wie ihr Vater, um die vierzig Jahre, sein kurzes Haar war von dunklem Braun, die Augenbrauen breit und dicht. Vielleicht lag es an ihnen, dass sein Gesicht stets abweisend wirkte, oder an dem verfilzten Bart, den er nur ab und zu sehr nachlässig schnitt? Vielleicht war es auch die Narbe an seinem Hals, eine helle Linie, die den Eindruck heraufbeschwor, jemand habe versucht, dem Bettelmönch die Kehle durchzuschneiden. Als Juliana ihn eines Tages bei einem Bad in einem Tümpel überraschte, sah sie, dass er am Oberschenkel durch eine weitere Narbe entstellt war. Wie ein Blitz, gezackt und zerfasert, zog sie sich bis zum Knie hinab.

Welch muskulöse Arme und Beine er hatte, kam es ihr in den Sinn. Ungewöhnlich für einen Ordensbruder. Woher er wohl kam? Er sprach Deutsch, als sei es seine Muttersprache. Vieles klang, wie die Menschen am Zusammenfluss von Neckar, Kocher und Jagst sprachen, anderes eher fremd in ihren Ohren. Aber da war etwas in der Art, viele Worte auszusprechen, die sie an jemanden erinnerte, doch sie konnte nicht sagen an wen. Ihre Versuche, ihn auszuhorchen, schlugen kläglich fehl. Er war wortkarg und meist mürrisch und antwortete nur, wenn es ihm gefiel.

In der Nähe von Toulouse kam Juliana zum ersten Mal der Gedanke, ihr Zusammentreffen in Freiburg könnte etwas anderes gewesen sein als ein Zufall. War er mit Absicht gegen sie gestoßen, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen? Aber warum? Diese Frage quälte sie, ohne dass sie eine Antwort finden konnte, und ihr Unbehagen in seiner Gesellschaft wuchs mit jedem Tag, bis sie es am Fuß der Pyrenäen endlich schaffte, sich seiner zu entledigen.

Das Mädchen hielt vor einem Hügel inne und sah den steilen Anstieg hinauf. Sie nahm ihren Rucksack und die Pilgertasche von den Schultern, zog ihren Umhang aus und band ihn auf ihr Bündel.

Warum verdarb sie sich diesen Sommertag mit Gedanken an den düsteren Mönch? Er war weg, weit hinter ihr, und sie würde ihn – so Gott wollte – nie wieder sehen!

Raschen Schrittes überquerte sie den Hügel und ging durch das nächste Dorf. Die Häuser glichen einander und schienen noch nicht sehr alt zu sein. Anders als in anderen Orten sah man hier keine Ruinen zwischen den bewohnten Häusern und keine verfallen Scheunen. Ja, es gab nicht einmal von Fäule geschwärzte, durchhängende Strohdächer. Hinter dem letzten Hof wand sich der Pfad zwischen Buchen und Kiefern zu einem bewaldeten Höhenzug empor.

Thomas kam ihr wieder in den Sinn und seine Reden von den Pilgern. Anscheinend verehrte er den Apostel Jakobus, obwohl er seine Reise vor langer Zeit abgebrochen hatte. Auf alle Fälle war er einst losmarschiert, um an seinem Grab zu beten. Wenn Juliana an den Apostel dachte, dann erfüllten sie keine guten Gefühle, und sie verspürte auch nicht den Wunsch zu beten. Zorn wallte jedes Mal in ihr auf, wenn ihre Gedanken Santiago streiften. Der heilige Jakobus hatte ihr zwei der liebsten Menschen gestohlen! Erst Wolf und nun auch noch den Vater. Die Stimme in ihr, die sie darauf hinwies, dass nicht der Apostel Schuld an den Vorfällen trug, ignorierte sie. Zumindest bei Wolf lag die Sache klar vor ihr: Jakobus hatte ihrem Freund aus Kindertagen die Sinne verwirrt, und er war seinem Ruf gefolgt.

* heute: Orreaga

** heute: Iruiia

*** heute: Pamplona

Das Siegel des Templers

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