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11La Puent de la Reyna

Die Sonne stand noch orangerot am Himmel, als die drei Wanderer die Mauern der Templeransiedlung erreichten. Der Weg führte durch einen überwölbten Durchgang ins Innere des Besitzes. Links lagen die Pilgerherberge und das Spital sowie der Wohnbereich der Tempelritter und ihrer Servienten, auf der anderen Seite des breiten Bogens erhob sich die einschiffige Kirche Santa Maria de los Huertos mit ihrem quadratischen Turm, auf dessen Spitze ein verlassenes Storchennest thronte.

André strebte sofort auf den Eingang der Herberge zu. Er hatte sich beim Abstieg ins Tal hinunter einen Dorn in den Fuß getreten und litt offensichtlich mehr Schmerzen, als er zuzugeben bereit war. So betraten die drei einen niedrigen Gang, der sich zu einem Saal öffnete. Staunend blieb Juliana stehen. So viele Pilger hatte sie hier nicht erwartet. Fast alle Tische waren besetzt, obwohl es sicher erst in einer Stunde ein Nachtmahl geben würde. Zwei der dienenden Brüder gingen im Saal umher und begrüßten die Neuankömmlinge. Sie schenkten mit Wasser verdünnten Wein aus und sahen sich kleinere Blessuren an. Pilger mit schwereren Wunden oder fiebrig glänzenden Augen schickten sie ins Spital hinüber.

»Mein Name ist Bruder Marcelo«, begrüßte sie ein gemütlich aussehender Servient und stellte für jeden einen Becher auf den Tisch. Die drei dankten ihm. »Kann ich euch sonst irgendwie zu Diensten sein.? Wenn das Mahl fertig ist, werden wir die Glocke läuten.«

André legte den Fuß auf die Bank und zog Schuh und Beinling aus. Anscheinend hatte er nicht den ganzen Dorn zu fassen bekommen. Ein Stück war abgebrochen und hatte sich nun tief ins Fleisch gebohrt. Durch den Fußmarsch hatte sich die Stelle bereits entzündet, wie ein roter Rand um den Einstich zeigte.

»Man muss den Span herausschneiden«, riet Bruder Rupert mit einem Blick auf den Fuß.

»Ja, jemand, der etwas davon versteht!«, sagte der junge Ritter und rückte ein wenig von dem Bettelmönch ab. Offensichtlich wollte er nicht, dass dieser seinem Fuß mit einem Messer zu Leibe rückte. Er sah Juliana flehend an.

»Ich?«, rief sie entsetzt. »Ich kann das nicht!«

Bruder Marcelo setzte sich vor André auf die Bank, zog den nackten Fuß auf seinen Schoß und nahm ein kurzes, gebogenes Messer vom Gürtel. Bevor der junge Ritter protestieren konnte, hatte er mit einer flinken Bewegung das Fleisch geritzt. Eine zweite Drehung der Spitze förderte einen fast einen Zoll langen Splitter hervor. Blut tropfte auf die braune Kutte, aber das schien den Bruder nicht zu stören. Er kramte in seiner Gürteltasche nach einem Stofffetzen und drückte ihn auf die Wunde.

»Du solltest dir nachher bei Bruder Semeno Kräuter auftragen und den Fuß ordentlich verbinden lassen, dann kannst du morgen sicher weiterziehen. Wenn es dir lieber ist, darfst du aber auch einen Tag bleiben.«

Er schob den Fuß von der Bank und erhob sich. Fassungslos sah André dem Sevienten nach, wie er mit seinem Krug davonging und den anderen Pilgern die Becher füllte.

Juliana tastete nach ihrem Knie. Der Infirmarius von Roncesuailles zumindest hatte sein Handwerk verstanden. Nur noch eine Kruste erinnerte an die Wunde an ihrem Bein, und das Knie war auch nicht mehr geschwollen. Sie hoffte, dass Andrés Wunde ebenso gut heilen würde.

Vorsichtig, damit der Lappen nicht verrutschte, schlüpfte der Ritter aus Burgund in seinen Schuh. »Ich glaube, ich gehe zu diesem Bruder Semeno, nicht dass die Wunde zu schwären beginnt. Und dann suche ich mir eine Matratze! Ich werde heute keinen Schritt mehr auf die Straße machen.« Mit düsterer Miene humpelte er davon. Das Ritterfräulein und der Bettelmönch blieben zurück. Ein drückendes Schweigen lag zwischen ihnen.

»Also ich gehe an die frische Luft«, sagte Juliana und sprang auf. Der abgestandene Rauch der Fackeln und der Gestank der hier versammelten Pilger wurden ihr unerträglich. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen.

»Ich wünsche Euch eine erholsame Nacht.« Hastig verließ sie die Herberge und hoffte, der Mönch würde ihr nicht hinterherkommen. Doch nur sein Blick folgte ihr, bis sie in dem düsteren Gang verschwand.

* * *

Juliana verließ den ummauerten Bereich der Tempelritter. Auch das Viertel zwischen Pilgerspital und der eigentlichen Stadt gehörte den Templern. Anders als das lang gestreckte Rechteck von La Puent de la Reyna war der Vorort nur mit einem Wall von Dornbüschen und Palisaden umgeben, die, wie in den Dörfern, das Vieh nachts drin und tagsüber draußen halten sollten. Als Schutz vor einem Angriff taugten sie sicher nicht viel. Vermutlich flüchteten sich die Eigenleute der Templer bei Gefahr hinter die Mauern von Kirche und Spital.

Dagegen war die Stadtmauer, die La Puent de la Reyna schützte, ein beachtliches Bauwerk aus zwei Mauerringen mit einem Graben dazwischen, unzähligen Türmen und vier Toren.

Die beiden Männer, die das Stadttor Suso bewachten, nickten ihr zu, ließen sie aber, ohne Fragen zu stellen, passieren. Das Ritterfräulein schritt die Hauptgasse entlang. Obwohl sie die Fortführung der Landstraße war und in gerader Linie auf die Brücke zuführte, war sie so schmal, dass zwei Ochsenkarren nur mit Mühe einander passieren konnten. So war es nicht verwunderlich, dass die Stimmen der Fuhrknechte, das Knallen von Peitschen und das Gebrüll von Ochsen die Gasse erfüllten. Juliana ließ den Blick an den prächtigen Häusern emporwandern, deren wappengeschmückte Portale erzählten, welche der zahlreichen Adelsfamilien der Umgebung hier ein Stadthaus besaß. Bald erreichte das Ritterfräulein das Portal der Kirche, deren Turm sie bereits von außerhalb der Stadt gesehen hatte. Das Tor wirkte seltsam fremdartig und doch wundervoll harmonisch, denn es endete nach oben in einem Bogen, der aussah, als bestehe er aus zahlreichen, aneinander gefügten Hufeisen. Es zog sie an, das Kirchenschiff zu betreten.

»So etwas hast du in deiner Heimat sicher noch nie gesehen«, sprach eine heisere Stimme das Mädchen an.

Juliana fuhr herum. Sie hatte die zerlumpte Gestalt gar nicht bemerkt, die im Schatten an der Mauer kauerte. Es war ein Mann, dessen Alter sie nicht schätzen konnte, mit einem fast kahlen Schädel und – wie sie sehen konnte, als er sie angrinste – nur wenigen Zähnen im Mund. Sein rechtes Hosenbein fiel leer und nutzlos auf den Boden herab. Er streckte seine schmutzige Hand aus. Zögernd reichte ihm das Mädchen eine Kupfermünze und die Aprikose, die sie sich bei den Templern in die Tasche gesteckt hatte, schalt sich aber im Stillen des Leichtsinns wegen. Sie hatte kaum noch Geld übrig. Was, wenn sie es später selbst dringend brauchte?

Er ist bedürftiger als du, mahnte ihr Gewissen. Du bist jung und hast zwei Beine. Der heilige Jakob wird auf deinem Pilgerweg für dich sorgen.

Wirklich? Er wusste sicher, dass sie nicht kam, um ihn zu verehren. Warum also sollte er sich die Mühe machen, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern?

Die Brüder der verschiedenen Orden am Weg jedenfalls konnten ihr nicht ins Herz sehen und gaben ihr freizügig wie einem echten Pilger auch.

Seltsam, der Gedanke beruhigte sie nicht.

»Ich danke dir. Nach dem Wohin frage ich nicht, denn die Antwort ist bei allen stets die gleiche. Aber das Woher ist immer interessant.«

»Ich komme aus dem deutschen Kaiserreich, vom Neckar in Franken«, gab das Ritterfräulein bereitwillig Auskunft.

»So, so, aus dem Reich von König Albrecht«, sagte der Bettler und wechselte von Französisch zu Deutsch. »Ich wollte dich nicht in deiner Betrachtung stören. Das ist das Hauptportal der Kirche Santiago el Mayor. Nun, kommt es dir seltsam vor? Aber ja, du hast richtig gesehen, es liegt an der Südfassade, nicht wie üblich im Westen. Das wirst du noch bei vielen Pilgerkirchen auf deinem Weg finden.« Der Alte kicherte. »Wäre ja auch zu viel verlangt, wenn die von Osten kommenden Pilger einmal um die Kirche herumlaufen müssten, ehe sie das Prachtportal zu Gesicht bekommen.«

»Es ist sehr schön«, sagte das Mädchen. »Aber irgendwie auch seltsam fremd.«

»Das kommt von den Sarazenen und ihren Hufeisen.«

»Was?«, rief Juliana verwundert.

»Aber ja. Die Kirche ist sehr alt. Ich glaube, sie wurde schon zu der Zeit gebaut, als sich die ersten Franken hier niederließen. König Alfonso el Batallador holte sich die Fremden ins Land. Er war sehr großzügig mit Privilegien, und er gab ihnen das Stadtrecht von Stella*, der Sternenstadt, der Prächtigen. Du wirst sie sehen.« Er lächelte und ließ seine verfaulten Zahnstumpen sehen.

»Und was hat das mit den Sarazenen zu tun?«

»Damals war die Reconquista noch das große Ziel, das sich alle Könige auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Man lebte sozusagen mit den Sarazenen in Nachbarschaft – wenn auch nicht in guter. Die Ungläubigen haben von jeher die Hufeisenbogen geliebt. Sie waren gute Baumeister, das kannst du mir glauben. Und so haben die Christen manches ihrer Kunst übernommen.«

Juliana verzog das Gesicht. »Bei einer Kirche?«

»Warum nicht?« Der Bettler zuckte mit den Schultern. »Die Kunst des Bauens kennt keine Religion. Sie ist weder gut noch böse. Sie ist höchstens kunstvoll oder schlecht ausgeführt. Ich selbst habe herrliche Kirchen gebaut«, brüstete sich der Alte. »Große, leichte, Licht durchflutete Gotteshäuser, die bis in den Himmel ragen. – Nun ja, zumindest Teile davon. Mein ganzes Leben lang habe ich auf Kirchenbaustellen zugebracht, seit mir mein Vater mit zwölf Jahren zum ersten Mal Hammer und Meißel in die Hand gelegt hat. Ich war gut, das kannst du mir glauben. Viele Jahre habe ich Bogen und Kapitelle für den gewaltigen Dom von Köln aus den Sandsteinquadern herausgemeißelt. Doch dann begann das Reißen. Erst in den Fingern und dann im Rücken und in den Beinen. Wenn es morgens kalt und feucht war, konnte ich Hammer und Meißel nicht mehr richtig halten. Da hat mir einer geraten, ich solle nach Süden über die Pyrenäen ziehen. Auch dort würden Kathedralen gebaut, und die Sonne verwöhne die Glieder. Ha!«, stieß der Bettler aus. »Welch ein Tor! Sicher war er niemals in Burgos oder Leon. Der eisige Wind zerrt einem im Winter die Seele aus dem Leib, und man wartet vergeblich auf die milden Lüfte des Frühlings. Und dann, ganz plötzlich, ist der Sommer da und verwandelt das Land in einen Glutofen. So muss sich ein Ziegel fühlen, der nah am Feuer gebacken wird, bis kein Tröpfchen Wasser mehr in seinen Poren ist!« Wider Willen musste Juliana bei dieser Vorstellung lachen.

»Noch lachst du, mein Bürschchen«, schimpfte der Bettler, »aber du wirst an meine Worte denken, wenn du Tag um Tag über die ausgedörrte Meseta wanderst und kein Baum und kein Strauch dich vor der gnadenlosen Sonne und ihrem Dämon, dem Wind, beschützt! Ich weiß es. Ich habe in Burgos Steine behauen. Sie haben dort hohe Pläne und eifern danach, für Gott und seine Herrlichkeit den besten Palast zu errichten. Aber ich denke, weder ich noch du werden es erleben, dass sie den letzten Stein ins Gewölbe setzen.«

»Und wie hat es dich dann hierher verschlagen?«, wollte Juliana wissen.

»Der Wind hat ein Gerüst umgeworfen«, seufzte er. »Lange hat der Bader versucht, das Bein zu retten, aber es faulte, und schließlich musste er es mir abnehmen. Was sollen sie auf der Baustelle einer Kathedrale mit einem einbeinigen Steinmetz mit steifen Fingern anfangen? Ich hatte gehört, dass sie die Kathedrale von Pampalona ausbessern, und gehofft, dass sie mich vielleicht für die kleinen Reparaturen nähmen. Weißt du, für Figuren, die bei den Kämpfen beschädigt worden sind, aber ich bin nur bis La Puent de la Reyna gekommen. Ich bin einfach zu alt und zu schwach, um zu arbeiten. Daher habe ich beschlossen, mein Quartier neben diesem schönen Portal aufzuschlagen und mit den Pilgern zu plaudern, die hier jeden Tag vorbeiziehen.« Auf dem Turm begann eine Glocke zu läuten.

»Bleibst du diese Nacht in der Stadt?«, fragte der Bettler.

»Nein, ich habe bei den Templern Quartier genommen.«

»Dann solltest du dich beeilen. Beim letzten Glockenschlag werden die Tore geschlossen.«

Jetzt erst fiel es dem Mädchen auf, dass die Dämmerung sich auf die Gasse herabgesenkt hatte. Sie verabschiedete sich hastig und lief dann die Rúa de los Romeus zurück.

»Ich heiße Sebastian«, rief der Bettler ihr nach. »Sehe ich dich morgen?«

Juliana drehte sich noch einmal um und hob die Hand, doch sie konnte ihn in den tiefer werdenden Schatten nicht mehr ausmachen.

Gerade noch rechtzeitig schlüpfte sie durch das Tor und eilte zur Templersiedlung zurück.

* * *

Im Refektorium der Pilger war es stickig und roch nach Zwiebeln und Lauch. Der Rauch der Fackeln an den Wänden zog in dicken Schwaden zur gewölbten Decke empor. Die meisten hatten anscheinend schon gegessen. Nur noch ein paar Nachzügler saßen am hinteren Tisch. Weder André noch Bruder Rupert waren zu sehen. Erleichtert ließ sich das Ritterfräulein vorn an der Tür auf eine leere Bank sinken. Hier war die Luft besser, außerdem war ihr nicht nach einer Unterhaltung mit den anderen zumute. Es dauerte nicht lange, da kam Bruder Marcelo mit einer großen, dampfenden Schüssel herein. Es roch noch stärker nach Zwiebeln. Juliana holte sich eine Tonschale aus der Truhe und ließ sie sich mit Suppe füllen.

»Brot gibt es dort hinten«, sagte der Servient und zeigte auf den Tisch, an dem die anderen saßen. Das Mädchen zögerte, stand aber dann doch auf, um sich zwei Stücke aus dem Korb zu nehmen. Sie war zu hungrig, um auf das Brot zu verzichten. Die Suppe schmeckte erstaunlich kräftig, nach Kräutern und nach dem geräucherten Speck, der in ordentlichen Stücken zwischen dem Gemüse schwamm, und auch das Brot war frisch. Solch gutes Essen war in Quartieren, in denen man nichts bezahlen musste, selten. Ja, selbst die Pilgerherbergen, die den Reisenden ihre Münzen abforderten, verpflegten sie häufig schlechter, und die Betten waren voller Flöhe und Wanzen. Vielleicht sollte sie eine Münze in den Korb legen, den der Portner zu diesem Zweck neben sich stehen hatte? Sie legte die Hand an ihren Beutel, dessen Inhalt schon beträchtlich zur Neige gegangen war. Wie sollte sie mit dem wenigen bis Santiago kommen? An die Rückreise wollte sie erst gar nicht denken.

Ein Schatten fiel über den Tisch. Das Mädchen sah auf. Ein Mann war eingetreten: Er war groß und wirkte kämpferisch, sein honigfarbenes Haar fiel ihm bis auf die Schulter, Wangen und Kinn waren glatt rasiert. Normalerweise war seine Haut sicher hell, nun jedoch hatte die Sonne sie gerötet. Er mochte vielleicht um die dreißig sein. Die blauen Augen wanderten durch den Raum und kehrten dann zu der Gestalt zurück, die vor ihm am Tisch saß.

»Ist es erlaubt, sich zu dir zu setzen?«, fragte er auf Französisch. Juliana nickte nur stumm. Sie versuchte, ihren Blick von ihm zu wenden, doch fast gegen ihren Willen kehrte er zu dieser ritterlichen Gestalt zurück, die so unerwartet hier aufgetaucht war. Er stellte den Becher Wein, den er in der Hand hielt, auf den Tisch und setzte sich ihr gegenüber. Juliana aß die letzten Reste ihrer Suppe und verstaute dann den Löffel wieder in ihrer Tasche. Zaghaft hob sie die Lider. Er trug ein Kettenhemd unter seinem schwarzen Mantel. Ein Schwert hing an seiner Seite. Sicher war er ein Ritter. Allein seine gerade Haltung sprach dafür, dass er von Adel war.

»Ritter Raymond de Crest aus der Dauphiné«, stellte er sich vor. »Und wie heißt du?«

»Johannes«, stotterte das Mädchen.

Seine schmalen, hellen Augenbrauen wanderten nach oben. »Nur Johannes? Nichts weiter?«

»Johannes aus Franken«, fügte sie schwach hinzu.

»Du bist doch nicht etwa deinem Herrn entlaufen, Bursche?«, fragte er und schien amüsiert.

»Nein«, protestierte das Ritterfräulein und wurde rot. »Meine Familie ist frei und ehrenhaft!«

Er lachte auf und widmete sich dann wieder seinem Wein. »Willst du auch Wein?«, fragte er nach einer Weile. »Ich meine richtigen Wein. Nicht das verdünnte Zeug, das die Pilger normalerweise bekommen.«

Juliana nickte, obwohl etwas in ihr sie zur Vorsicht mahnte. Sie sah dem Ritter hinterher, wie er den Saal verließ. Kraftvolle Beine hatte er, und die Stiefel, die er trug, waren von vorzüglicher Qualität. Was um alles in der Welt hatte er hier zwischen den Pilgern verloren? Und warum besorgte er Wein für einen armseligen, schmutzigen Burschen aus Franken? Das ungute Gefühl wurde stärker. Sie sollte aufstehen und sich in den Schlafsaal zurückziehen, doch noch ehe sie sich entschieden hatte, kam Raymond de Crest zurück, einen zweiten Becher und einen Krug in den Händen. Er setzte sich wieder auf seinen Platz und goss dem Mädchen ein.

»Sieh nur, wie samtig rot er ist, so muss Wein sein.«

Juliana nahm den Becher entgegen und nippte an ihm. Der Wein war schwer und süß und schmeckte nach den Festen, die sie auf Ehrenberg erlebt hatte oder nach dem großen Hofball in der Pfalz vom vergangenen Jahr. Das Mädchen schluckte. War das Heimweh, was ihr plötzlich Tränen in die Augen zu treiben drohte? Sie senkte das Gesicht tief über den Becher, denn sie spürte den musternden Blick des Fremden.

»Der Wein ist sehr gut, ich danke Euch«, sagte sie, als sie sich sicher war, dass sie ihre Stimme wieder im Griff hatte. Er sah sie nur aufmerksam an.

»Reist du allein?«, fragt er schließlich. Das Ritterfräulein schüttelte den Kopf.

»Wo sind deine Begleiter? Es sind sicher nicht die dort drüben, sonst würdest du ihre Tafel teilen, statt hier allein deine Suppe zu löffeln.«

Warum fragte er? War das nur das normale Interesse eines Pilgers am anderen? Warum nur war sie so misstrauisch und feindselig gegen jeden Fremden, der sie ansprach?

»André – ich meine Ritter André de Gy aus der Freigrafschaft Burgund – hat sich schon auf sein Lager zurückgezogen. Er hat sich heute einen Dorn eingetreten, den Bruder Marcelo ihm vorhin herausgeschnitten hat. Und dann reist noch Bruder Rupert mit uns. Er ist …« Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie gar nichts über ihn wusste, obwohl sie schon so viele Tage an seiner Seite wanderte. Vermied er bewusst, etwas von sich preiszugeben? Warum? »Er ist ein Bettelmönch«, fügte sie vage hinzu.

»Ein Landsmann?«, erkundigte sich der blonde Ritter. »Ja, ich denke. So wie er spricht.«

»Ein alter Mönch, wie so viele hier auf dem Weg«, sagte Ritter Raymond und warf ihr einen kurzen Blick zu.

Juliana lachte. »Das würde er sicher nicht gern hören. Ich denke, er ist um die vierzig. Er könnte mein Vater sein.« In ihren Ohren klang die Wehmut nur zu deutlich. »Und außerdem sieht er kein bisschen wie die Bettelmönche aus, denen wir so häufig begegnet sind. Sie sind schwächlich und dürr, Bruder Rupert macht mir dagegen den Eindruck, als könne er es im Ringkampf mit manchem jungen Ritter aufnehmen.«

Interesse glomm in den blauen Augen ihres Gegenübers. »Das hört sich an, als hättest du einen interessanten Reisebegleiter gefunden.«

»Ja, schon, aber ich mag ihn nicht sehr«, rutschte es dem Mädchen heraus, bevor sie recht nachgedacht hatte. Warum redete sie so offen mit ihm? Nur weil er ein großer Ritter war, dessen Aussehen sie blendete?

Er erinnerte sie ein wenig an Carl von Weinsberg. Ein warmes Gefühl durchflutete sie. Carl. Wenn doch er nach Ehrenberg gekommen wäre, statt dieses grässlichen Wilhelm von Kochendorf. Aber die Weinsberger waren vermutlich nicht sehr auf eine Verbindung zwischen ihrem und dem Hause Ehrenberg erpicht. Vor allem jetzt nicht mehr! Sie wollten höher hinaus. Obwohl Julianas Familie einen alten Namen mitbrachte und die Mutter eine von Gemmingen war! Nein, schämen musste sie sich der Herkunft ihrer Familie nicht. Deshalb drängte der Kochendorfer ja auch so, sie mit seinem Sohn zu verbinden. Er wollte nicht nur Ehrenberg und den Titel, den sie selbst nicht erben konnte, nein, vor allem das Amt des Burgvogts auf der Pfalz schwebte ihm vor, und er war bereit, danach zu greifen, jetzt, da das Schicksal ihm so unerwartet den Vater aus dem Weg geräumt hatte. Dabei war es überhaupt nicht sicher, dass König Albrecht das Amt in der Familie beließ. Aber wenn, dann würde es Julianas Ehemann bekommen. Und der sollte dann – ging es nach den Kochendorfern – Wilhelm von Kochendorf-Ehrenberg heißen.

»Träumst du?«

»Was?«, Julianas Wangen wurden feuerrot. »Verzeiht, was habt Ihr gefragt?«

»Ob du weißt, woher dieser Bruder Rupert stammt? Ist das sein richtiger Name?«

»Ich kenne ihn nur unter diesem«, erwiderte Juliana so abweisend wie möglich. Langsam wurde ihr seine Neugier zu viel. »Er hat mir weder den Ort seiner Geburt noch den seines Klosters genannt. Warum wartet Ihr nicht bis morgen und fragt ihn selbst?«, fügte sie ein wenig schnippisch hinzu und erhob sich.

Der Ritter leerte seinen Becher zum dritten Mal. »Das ist ein guter Gedanke, Johannes. Ich werde deinen Rat befolgen.«

»Eine gesegnete Nacht«, wünschte das Ritterfräulein und wandte sich zur Tür.

»Dir ebenso – ach, da fällt mir noch etwas ein. Bist du auf deiner Wanderung zufällig einem Mädchen von siebzehn Jahren begegnet? Blond – aus Franken, so wie du?«

Juliana musste sich am Türrahmen festklammern, um nicht zu straucheln. Ihre Stimme klang heiser. »Nein, man trifft unter den Pilgern nicht viele Frauen. Sie wäre mir aufgefallen. Warum sucht Ihr sie?«

Der Ritter musterte sie nachdenklich. »Ein Mädchen – ein Fräulein – in diesem Alter allein auf der Straße? Was glaubst du wohl, was eine besorgte Mutter nicht alles tun würde, um sie vor den Gefahren der Welt zu schützen.«

»Da habt Ihr wohl Recht«, krächzte Juliana, nickte ihm noch einmal zu und schwankte den Gang zum Schlafsaal hinunter.

Wer war dieser Ritter? Sie suchte in ihrem Gedächtnis nach allen edlen Männern, denen sie bei Turnieren oder Festen vorgestellt worden war, konnte aber Raymond de Crest nicht in ihrer Erinnerung finden. Hatte wirklich die Mutter ihn geschickt? Oder log er? Wenn ja, was für einen Grund konnte es sonst geben, dass er nach ihr suchte? Das Mädchen lag unter der kratzigen Decke und starrte in die Dunkelheit. Der Schlaf wollte nicht kommen. Warum? Ihr fiel keine Erklärung ein.

Sollte sie sich ihm zu erkennen geben und ihn einfach fragen?

Nein! Selbst wenn seine Version stimmte, zwang er sie womöglich, mit ihm umzukehren und sofort nach Hause zurückzureisen. Sie war nicht so weit gegangen, um nun aufzugeben. Sie würde den Vater finden und eine Erklärung von ihm verlangen!

* heute: Estella

Das Siegel des Templers

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