Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 14
Identität
ОглавлениеDer eigentliche Schlüsseltext der frühen Zeitungsbeiträge ist ein kurzer Essay mit dem Titel: Was bin ich?53 Hier entdeckt der junge Journalist sein Ich als literarisches Thema. Er stellt die Frage, an deren Beantwortung er sich die nächsten Jahrzehnte die Zähne ausbeißen wird – in der Literatur, wie im Leben –, die Frage nach der eigenen Identität und, was damit zusammenhängt, nach einem sinnvollen Leben in der bürgerlichen Gesellschaft: Was bin ich, und wie muß ich leben, um mich selbst zu gewinnen? Diese Frage drängte Frisch zum Schreiben, und schreibend versuchte er sie zu lösen. Er befand sich dabei in bester Gesellschaft: Die Identitätsfrage ist ein Zentralproblem der westlichen Literatur unseres Jahrhunderts.
Vordergründig literarisierte Frisch in Was bin ich? seine aktuelle Lebenssituation: Ein Student, dessen Vater gestorben ist, bricht sein Studium ab und sucht einen Broterwerb als Journalist. Der Tod hat sein soziales Sicherungsnetz zerrissen und ihn vor die Existenzfrage gestellt. Doch es geht nicht bloß um die materielle Existenz. »Geld ist zwar notwendig zum Leben, aber noch viel notwendiger ist es, zu wissen, was man denn ist und wozu man eigentlich taugt.«54 Zwischen »lächerlicher Überheblichkeit« und »lächerlichen Minderwertigkeiten« hin und her gerissen, sucht der junge Mann nach Orientierung und Selbstbestimmung. »Zum Ersäufen bin ich innerlich zu schön«, zum bescheidenen Mittelmaß jedoch zu schade. »Größenwahn und Minderwertigkeitsängste sind immer noch interessanter als die Erkenntnis: ich bin einer vom Millionendurchschnitt.« Der Exstudent möchte Dichter werden, Romane schreiben, Novellen, Komödien – ein selbstbestimmtes, schöpferisches Leben führen. Das ist die eine Seite. Doch wovon leben? »Ich muß Brot verdienen; aber ich will mich nicht lebendig begraben lassen. Da kenne ich Leute, die leben nur, um Geld zu verdienen; und das Geld verdienen sie, um leben zu können; und leben tun sie wiederum, um Geld zu verdienen. Ein Witz. Ich will aus meinem Dasein nicht einen Witz machen. Beruf soll nicht Zwangsjacke sein, scheint mir, sondern Lebensinhalt.«55 Ein sicheres Gespür sagt dem jungen Mann, daß entfremdete Lohnarbeit und ein kleinbürgerliches Angestelltendasein kein gangbarer Weg für ihn sind. Ein Künstlerleben macht Sinn, doch es stellt ihn an den Rand der Gesellschaft und macht brotlos.56 Eine Familie wäre da nicht zu gründen, denn »eine Frau … kostet Geld … eine Wohnung kostet Geld … Kinderchen kosten Geld«.57 Und wer weiß, ob das Talent für ein Künstlerleben ausreicht.58
Mit Was bin ich? fand Frisch nicht nur ein Lebensthema, sondern auch zwei typische Stilmerkmale: Die Auseinandersetzung in der Frageform – er wird sie später zu den legendären Fragebogen weiterentwickeln. Und die Schreiblist, in einer Ich-Form zu schreiben – »Mein Name ist Frisch. Max Frisch stud. phil. I«59 –, die sich autobiographisch ausnimmt und doch zugleich Kunstform ist. In den späten Texten Montauk und Schweiz ohne Armee? Ein Palaver wird er dieses Verwirrspiel auf die Spitze treiben.60
1933. Foto Hans Staub/Max-Frisch-Archiv/Stiftung für die Photographie Zürich.
Angestellten-Dasein versus Künstler-Leben, Normalmaß versus Außerordentlichkeit, soziale Integration versus Selbstverwirklichung, Sinn versus Lohn, das war das Grunddilemma des jungen Frisch, im Leben wie in der Literatur. Es war zugleich die Klammer, die Literatur und Leben aufs engste zusammenschloß. Noch sah Frisch dieses Dilemma nicht historisch, noch fragte er nicht: Wie müßte eine menschliche Gesellschaft beschaffen sein, damit in ihr ein sinnerfülltes und zugleich sozial integriertes Leben möglich ist – diese Frage stellt erst der späte Frisch –, vorerst beschäftigten ihn nur die Auswirkungen des vorgefundenen Dilemmas auf seine individuelle Subjektivität. Doch beide Fragen, die historisch-politische wie individuell-psychologische, sind Kehrseiten derselben Münze. Dieser Zusammenhang wird wichtig, um zu begreifen, wie in späteren Jahren die zwei angeblich so verschiedenen Max Frischs zusammenhängen: der Dichter der Subjektivität und der politische Essayist und Redner.
Künstler versus Bürger. Jahrzehntelang bemühte sich Frisch um Überwindung dieser Spaltung. Er spielte, sozusagen probehandelnd, verschiedene Möglichkeiten literarisch durch und versuchte sie anschließend oft auch zu leben. Die Lösung, die er 1932 fand und die er mit großer Hartnäckigkeit und am Rande des Existenzminimums auch praktizierte, hieß: freier Journalismus. So hoffte er, Brot und Kunst, Sinn und Lohn produktiv zu koordinieren.