Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 19

Erste Deutschlandreise

Оглавление

Im März 1935, inmitten der heftigsten politischen Unruhen, reiste Frisch zum ersten Mal ins nationalsozialistische Deutschland. Er berichtete der Freundin: »korrodi hat mir die versprochnen 120 franken gegeben, voraussichtlich liefere ich ein tagebuch meiner reise, friedliche impressionen … natürlich nichts scharfes. jedenfalls schreibe ich es erst nach meiner rückkehr, wenn ich den ganzen überblick über den stoff habe.«97 »Friedliche Impressionen« und »nichts Scharfes«; der an Politik nicht interessierte Schriftsteller wußte sehr wohl, was sein Blatt von ihm erwartete.

Frisch deklarierte seine Reise als »Probe für unsere eigene geistige Haltung … denn kein Deutschschweizer … wird leichten Herzens das nachbarliche Deutschland aufgeben dürfen … und unsere kulturelle Zusammengehörigkeit kündigen können«.98 Frischs Frage im Reisegepäck hieß: Ist »Deutschland, dessen klassische Sprache uns künstlerisches Vorbild ist« noch das Deutschland der »Dichter« und der »Stillen«, »etwa eines Carossa«, oder nur noch eines der »brüllenden Massen« und der »Volksredner«?99


Zürich, im Café Studio, 30. August 1937, mit Käte Rubensohn. Foto Käte Schnyder-Rubensohn.

Dieser Frage lag eine Einschätzung zugrunde, die damals unter Schweizer Intellektuellen weit verbreitet war. Sie lautete: Das wahre Deutschland ist das der Dichter und Denker: Als eine Art Störung hat sich der Nationalsozialismus der brüllenden Massen, eine geistlose, proletische Bewegung, vorübergehend darin breit gemacht. Säuberlich getrennt handelte Frisch denn auch seine Reisebeobachtungen ab, die er in vier Folgen in der NZZ ausbreitete.100

In Stuttgart begeistert sich der künftige Architekt für den Bahnhof: »das Schönste und Höchste, was unsere Zeit schafft«. Paul Bonatz hatte ihn zwischen 1911 und 1926 als kühne Kombination von modernster Stahlkonstruktion und urtümlichem Quaderbau aus Muschelkalkblöcken errichtet. Der Bau erregte internationales Aufsehen. In seinem Turm »hauste«, so weiß der Journalist zu berichten, während der Revolution im zweiten Reich die Stadtregierung.101 Drei blanke Dolche in der Parteibuchhandlung offenbaren dem Chronisten die eine, das Gespräch mit einem Verlagsleiter die andere Seite Deutschlands: Hier erfuhr er, daß die »Blut- und Schollen«-Literatur mit dem »Mistgeruch« in Deutschland »kaum mehr gekauft« würde, auch in der Schweiz »stoße man auf ein zähes Mißtrauen, fast auf einen Boykott«. Zwar fände die nsdap-Literatur schon großen Absatz, doch das seien Pflicht-, nicht Neigungskäufe.

Es wäre falsch, dem jungen Frisch besondere Realitätsblindheit vorzuhalten. Beinahe alle deutschen Intellektuellen hielten noch Mitte der dreißiger Jahre die Naziliteratur für zu dumm, um ernsthaft Schaden anrichten zu können. Auch in Berlin war es ein Buchhändler, der über Deutschlands Geisteszustand Beruhigendes zu berichten wußte. Das »stille Buch« sei wieder gefragt, man suche wieder »die Gedanken eines umfassenderen, höheren und ewigeren Geistes«.102 (Der Komparativ ›ewiger‹ ist wohl eine unbeabsichtigte Ironie.) Als leuchtendes Beispiel für dieses »stille« Buch pries Frisch Hans Carossas Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg, das Rumänische Tagebuch: »Da ist diese menschliche Größe, die sich in einer flammenden und blutigen Welt, wo alles aus den Fugen fällt, zum Glauben an den Sinn durchringt; da ist diese weite Kraft, daß einer neben dem Einschlag der Geschosse noch die blühende Blume sieht; da ist die erlösende Geduld, die nicht ins Fuchteln und ins Verzweifeln stürzt, sondern das gottgesetzte Schicksal still und männlich-demütig erfüllt; da ist ein dichterischer Kristall, wie er nur werden konnte unter dem ungeheuren Druck eines Weltschicksals.«103 Gottgesetztes Schicksal und männlich-demütige Erfüllung, Geschoß und Blume, Weltenschicksal und dichterischer Kristall – Frisch geriet hier sprachlich in gefährliches Fahrwasser.

Aufschlußreich für sein Verständnis des Nationalsozialismus ist der Bericht, den er von der Berliner Ausstellung »Wunder des Lebens«, die »unleugbar eine Prachtleistung ist«, erstattete.104 Entzückt vom »glücklichen Mittelweg … zwischen allzu populärer Vereinfachung und allzu ausschweifender Gründlichkeit«,105 mit welcher hier ein »Hauptpfeiler nationalsozialistischer Ideen«, »nämlich die Naturwissenschaft«, veranschaulicht wird, bemerkte er nicht, wie sehr er mit diesem Entzücken den Nazis bereits auf den Leim gekrochen war. Indem er die ideologische Verzerrung von Naturwissenschaft, wie sie den Nazis eignete, umstandslos für Naturwissenschaft an sich hielt. Nur einen Punkt gab es, wo diese Verzerrung auch Frisch über die Hutschnur ging; immerhin liebte er zu dieser Zeit eine Jüdin. »Empörend ist dieser Selbstruhm, der seine eigene Rasse erhöht, indem er alles andere in den Schmutz stößt. Was die Ausstellung über die Juden bringt … läßt es uns äußerst schwer werden, über diesem dritten Reich das ewige Deutschland nicht zu vergessen.«106 Doch als sei diese Formulierung schon des Scharfen zuviel, nahm er sie im Nebensatz wieder ein Stück zurück. Er gestand den Nazis zwar ein »notwendiges Zurückdämmen« der Juden zu, bat sie aber auch, »die Rassenfrage nicht länger auf die Spitze« zu treiben.107

Man darf solche peinlichen Äußerungen nicht überbewerten. Frischs Ablehnung des Nazismus ist unbestritten. Doch sie war schmal begründet. Zum einen im Geschmack: Der bürgerliche Individualist und Traditionalist scheute die laute Massenbewegung der Gleichgeschalteten. Denn der »Weg zur wahren Gemeinschaft« verlaufe nicht über den Massenmenschen, sondern »über das erfüllte und selbstreife Individuum«.108 Zum anderen moralisch: Die Rassendiskriminierung ging ihm – über das »notwendige Zurückdämmen« hinaus – zu weit. Zum dritten verachtete er die politische Vereinnahmung der Kunst durch die Nazipolitik. Sie widersprach diametral seinem eigenen, unpolitischen Verständnis von Kunst. Und schließlich imprägnierte er sich mit einer schweizerischen Nationalideologie, der sogenannten »Geistigen Landesverteidigung«, gegen die Anfechtungen von außen. Diese Ideologie – im nächsten Kapitel wird davon ausführlich die Rede sein – war ein recht eigenartiges geistig-politisches Konglomerat, welches nicht nur die unterschiedlichsten Richtungen im Lande auf eine ideologische Linie brachte, sondern zugleich einen Riegel gegen die Versuchungen von jenseits der Grenzen schob, indem es zahlreiche Gedanken der dortigen Staatsideologie in abgewandelter Form integrierte. Frisch wurde ein glühender Vertreter dieses nationalschweizerischen Denkgebäudes.

Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991

Подняться наверх