Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 16
Jürg Reinhart
ОглавлениеDer eigentliche Zweck der Reise war nicht journalistischer Natur. Frisch schrieb auf dem Balkan seinen ersten Roman. In ihn gingen manche Beiträge, die er der NZZ schickte, als Episoden ein.70 Der Text ist eine ›Zwischengattung‹: Er reproduziert, in der Tradition des ›sentimental journey‹ wie des Erziehungsromans, die große Balkanreise zwischen Realität und Fiktion. Nach Zürich zurückgekehrt, stellte er den Text im Winter 1933/34 fertig. Unter dem Titel Jürg Reinhart, eine sommerliche Schicksalsfahrt, erschien der Roman im Herbst 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart (dva). Robert Faesi hatte ihn an den renommierten Verlag vermittelt, und Frisch blieb der dva bis zu deren Fusion mit dem nationalsozialistischen Erler Verlag im Jahre 1938 treu.71
Jürg, der Titelheld des Romans, ist in jeder Hinsicht der Doppelgänger des jungen Max. Frisch hat den Text später einen »sehr jugendlichen Roman« genannt, »der ganz im Autobiographischen stecken bleibt«, und »als Autobiographie einfach nicht ehrlich genug, also von daher nicht interessant« ist. Der Held sei eine »romantische« Figur und das Ganze ein »Versteckspiel und eine Beschäftigung mit den ersten jugendlichen Nöten«.72 Das harsche Urteil ist verständlich – als biographisches Dokument hat der Roman allerdings einen wichtigen Stellenwert: Mit ihm beginnt die lange Reihe der mehr oder minder fiktiven Ich-Geschichten Frischs.
Die Story arbeitet mit Mustern aus der Trivialliteratur. Ort der Handlung ist ein »dreihundertjähriger Herrensitz« mit der melancholischen Bezeichnung »Solitudo« in einem dalmatinischen Badeort mit dem klangvollen Namen Ragusa (heute Dubrovnik). Eine gebildete deutsche Baronin vorgerückten Alters voll »natürlicher Herrschaftlichkeit«73 bewirtschaftet, zusammen mit ihrem blonden und an frühem Leid kränkelnden Freifräulein Tochter das Gut als Fremdenherberge. Unverschuldete Not zwingt sie zu dieser unstandesgemäßen Tätigkeit.
Auf Solitudo trifft sich eine handverlesene Gesellschaft. Da ist einmal der junge Dichter als gesellschaftlicher Außenseiter, ein Schweizer Parzival, der nicht nur seine Landesfarben – weiße Hose, roter Pullover –, sondern auch den vielsagenden Namen Reinhart trägt. Rein, weil er sich ›noch mit keinem Weib beschmutzt‹ hat, hart, weil er trotz gewaltigen Triebstaus und einer Auswahl bereitwilliger Damen hartnäckig seine ›Reinheit bewahrt‹. Diese Damen sind meistens in weiße Seide gekleidet und der Reihe nach: die holländische Baronin Marga, den lüsternen Leib im besten Alter, vernachlässigt von einem viel zu alten Ehemann; das ›süße Maderl‹ Hilde – siebzehn Jahr, blondes Haar –, Hausmädchen und anfänglich noch Jungfrau; und schließlich das genannte Freifräulein Inge. Zu Besuch weilt überdies eine österreichische Freundin, natürlich auch sie Baronin, verwitwet, reich und großherzig, begleitet von ihrem Sohn, dem jungen Herrn Studenten. Am Rande kommen ein helläugiger Arzt nordischer Rasse mit Gewissensbissen und einige Einheimische vor: »dunkle«, »verschlagene«, »faule«, »ungezogene«, »geizige«, »animalische«, »fetthändige« Slawen, die auf dem Istanbuler Abstecher durch ein »schmieriges Jüdlein mit Dreckhals« und einen abgefeimten, seine eigene Tochter prostituierenden Bazartürken ergänzt werden. Je schmuddliger der slawisch-türkische Background, um so reiner hebt sich das arische Heldenpersonal ab: Rassismus als wirkungsvolles Mittel für eine literarische chiar'-oscuro-Technik.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Jürg sucht die entscheidende Tat, die ihn zum Mann macht. Wie das Mädchen durch den Mann ent-jungfert und damit zur Frau gemacht wird, soll ihn ein Geschlechtsakt mit einer Frau ent-knaben, also zum Mann machen.
Drei Frauen stehen zur Auswahl. Marga, die holländische Baronin, scheidet aus, sie liebt Jürg nicht, sie begehrt den hübschen Jungen bloß sexuell. Beim Hausmädchen Hilde ist es umgekehrt: Jürg liebt sie nicht, begehrt sie bloß. Sex ohne Liebe gilt ihm als Schmutz. Nur mit Inge, die den jungen Poeten entsagend liebt und ihn vor einem Affektselbstmord bewahrt, zeichnet sich die Möglichkeit einer echten Liebesbeziehung ab. Sie hilft Jürg, die quälenden Minderwertigkeits- und Versagensängste zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Aber auch Inge kann Jürgs dräuende Frage nach der Bedeutung des Geschlechtsaktes nicht beantworten, ihr fehlt die Erfahrung. Jürg verreist nach Istanbul, begleitet von Inges Befürchtungen, er werde sich dort bei einschlägig tätigen Damen die nötigen praktischen Auskünfte verschaffen. Doch unterwegs kommt Jürg eine befreiende Erkenntnis: »Man wird nicht Mann durch die Frau« – bestenfalls ein »Männchen« –, entscheidend ist die große, »die männliche Tat«.74
Und das Schicksal hält sie ihm bereit: Inge erkrankt unheilbar. Von rasenden Schmerzen gepeinigt, verlangt sie die erlösende Spritze. Eine Sterbehilfe-Debatte entbrennt, doch niemand ist »stark« genug zur »wahrhaft liebenden« Tat. Erst Jürg, von Istanbul zurückgekehrt, verhilft der Kranken zur Überdosis Morphium. Die »männliche Tat« ist vollbracht, Jürg ein Mann – ohne seine Reinheit verloren zu haben!75
Jürg Reinhart wurde von der deutschen Tageskritik hochgelobt.76 Auch Eduard Korrodi pries das Werk in der NZZ vom 14. Oktober 1934. Werner Coninx hingegen fand das Buch mißlungen. Frisch berichtete in einem Brief: »Er ist ein Freund: er hat mir meinen Erstling mit Liebe zerrissen, aber so treffsicher, daß ich manchmal den Eindruck hatte, ich verstünde überhaupt nichts von Dichtung … Dreiviertel des Buches verwirft er, und ich war sehr beeindruckt, mit welcher Wahrheit und zugleich Schüchternheit er meine Anlagen und Gefahren sieht. Nicht literarisch ist sein Urteil, sondern unendlich größer: er sieht den Menschen, und wenn er mir mit freundschaftlichen und bescheidenen Worten andeutet, wo ich Stärke vortäusche an Stelle einer wirklichen Schwäche, ja, wo er die menschlichen Hintergründe einer literarischen Geste erkennt, sah ich mich selber so grell beleuchtet, so klar in meiner unglaublichen Verlogenheit, in meiner Eitelkeit, in meiner gedanklichen Nichtigkeit und meinem geistigen Hochmut, so unvergeßlich klar. Es ist schwer, einen echten Freund zu haben, wenn man klein ist und seiner bedarf; wenn man klein ist und ihm nicht gewachsen.«77
Für die Fachliteratur ist Jürg Reinhart in erster Linie ein frühes Dokument, in dem sich »Bilder und Denkmuster nachweisen lassen, auf die Frisch in späteren Jahren immer wieder zurückkommt: Etwa die Spannung zwischen Autobiographie und Fiktion, die Außenseiterposition des künstlerisch veranlagten Menschen, die hoffnungslose Sehnsucht nach Glück und Liebe, das grenzüberschreitende Gespräch zwischen Lebenden und Toten, das Meer als Bild der Freiheit und Erfülllung«.78 Biographisch interessant ist der Umstand, daß Frisch in Jürg Reinhart zum ersten Mal einen Lebensentwurf literarisch ausprobierte, den er in den Jahren danach auch zu realisieren versuchte: den Entwurf nämlich, sich als Künstler außerhalb der gesellschaftlichen Normen zu verwirklichen. Dieser Versuch wurde folgenreich – und er scheiterte. Im Roman konnte er glücken, weil allerlei ausgeblendet blieb, was im Leben nicht zu übergehen war. So ist der Widerspruch zwischen Selbstverwirklichung und Lohnarbeit, dem Zentralproblem in Was bin ich?, in Jürg Reinhart kaum noch ein Thema. Geldverdienen kennzeichnet allenfalls die Mentalität der einheimischen Slawen – die feineren Herrschaften haben keine Erwerbssorgen. Es herrscht die gesellschaftliche Ausnahmesituation: Man ist in den Ferien, die alltägliche Normalität ist suspendiert.
Dieses literarische Arrangement ist von Bedeutung: Jürg Reinhart ist ein Reise- und Künstlerroman im Gewand eines Erziehungsromans. Das Schema des Erziehungsromans heißt: Ein junger Mensch gerät in eine vorgegebene Welt und reift darin durch Konflikte, Erfahrungen und Bewährung. Am Schluß paßt er in ihre Normen, ist integriert, ist erwachsen. Aber die Welt, in die Jürg hineinwachsen soll, ist nicht die Gesellschaft von 1932/34. Es ist eine versinkende, adlig-großbürgerliche Gesellschaft. Wilhelm Meister, hundertfünfzig Jahre früher verfaßt, ist ihr gegenwärtiger als die autoritär bis faschistisch gewordene Gegenwart. Jürg mäandert zwischen Illusionen aus Rousseaus ›einfachem‹ Leben, romantischer Naturidyllik und Winckelmanns Griechenideal. Der Text bestätigt zwar Frischs Entschluß, ein Künstler außerhalb der Geldverdiener-Gesellschaft sein zu wollen, aber die Bestätigung gelingt nur als Flucht aus der Lebensgegenwart in eine illusionäre Vergangenheit, aus der normalen in die Ausnahmesituation, aus der aktuellen Gesellschaft in ein rückwärtsgewandtes Utopia. Diese formale Konstruktion des Romans reflektiert den Lebensweg des Autors: Frisch hatte sich durch die Flucht in eine Künstlerreise den Zwängen der Lohnarbeit entzogen, war aus der herrschenden Gesellschaft in die fremde, ferne Welt ausgestiegen. Und nur als Aussteiger konnte Jürg/Max seinen Lebensplan als Künstler realisieren. In diesem außersozialen Rahmen ging es nur noch um die innerlich-moralische Entwicklung des Individuums Jürg/Max.
Ausstieg und Flucht haben es an sich, daß sie einmal zu Ende gehen. Die Rückkehr von der Balkanreise in die Schweiz erlebte Frisch traumatisch. Er las, erinnerte er sich später, den Grünen Heinrich von Gottfried Keller, »dem besten Vater, den ich je hatte«, und schockartig überfiel ihn die beängstigende »Vorstellung, daß das Leben mißlingen kann«.79 Zwar irrte Frisch im Datum – er hat den Grünen Heinrich nachweislich erst im Frühjahr 1938 gelesen80 –, aber die Katerstimmung dürfte authentisch gewesen sein. Vierzehn Jahre später fand er scharfe Worte für ein weiteres Rückkehr-Erlebnis ins Heimatland: »Was auffällt, wenn man draußen gewesen ist: das Verkrampfte unserer Landsleute, das Unfreie ihres Umgangs, ihre Gesichter voll Fleiß und Unlust.«81 Jürgs romantische ›Lösung‹ des Lebensproblems erwies sich angesichts der Schweizer Realität als unzulänglich, und Frisch zweifelte zunehmend, ob der freie Journalismus für ihn richtig sei. Dennoch hielt er weitere zwei Jahre an dem einmal gefundenen Weg fest und lehnte eine ihm angebotene feste Redaktorenstelle bei einer Frauenfelder Zeitung auf den Einspruch Kätes hin ab. Er besuchte, wenn auch selektiv, die Universität, schrieb am zweiten großen Prosatext82 und veröffentlichte ein bis zwei journalistische Beiträge im Monat.