Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 8
»Einer davon bin ich« Erinnerungen an Kindheit und Jugend (1911–1932) Familienchronik
ОглавлениеMax Rudolf Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren. »Unser Name ist nicht schweizerischen Ursprungs. Ein Großvater [Franz Frisch, 1838–1892], der als junger Sattler einwanderte, brachte ihn aus der österreichischen Nachbarschaft; in Zürich, wo es ihm anscheinend gefiel, heiratete er [1871] eine Hiesige, Naegeli mit Namen, Tochter einfacher Leute [Maria Luise Naegeli, 1850–1899, Glätterin aus Kilchberg]. Auch der mütterliche Stamm ist vermischt; dort war es ein Urgroßvater, der von Württemberg kam, namens [Gottlieb] Wildermuth [1836 in Zürich eingebürgert, Bäcker], und schon mit seinem Sohn, meinem Großvater also, fing es an: er nannte sich Maler, trug eine erhebliche Krawatte, weit kühner als seine Zeichnungen und Gemälde5 er heiratete dann eine Baslerin namens Schulthess, die nie ganz hat vergessen können, daß ihre Familie einmal eine eigene Droschke besessen hat, und leitete die Kunstgewerbeschule unserer Stadt. … Meine Mutter [Carolina Betty Wildermuth, 1875–1966], um einmal ins Weite zu kommen, arbeitete als Kinderfräulein im zaristischen Rußland, wovon sie uns öfter erzählt hat, und mein Vater [Franz Bruno, 1871–1932] war Architekt. Als Sattlerssohn hatte er sich keine Fachschule leisten können; die Kinder sollten es einmal besser haben.«6
Max Frischs Mutter, Carolina Betty Frisch, geb. Wildermuth. Foto Max-Frisch-Archiv.
Max Frischs Vater, Franz Bruno Frisch. Foto Max-Frisch-Archiv.
Max hatte zwei Geschwister: die zwölf Jahre ältere Halbschwester Emma Elisabeth aus des Vaters erster Ehe und den acht Jahre älteren Bruder Franz Bruno. Die Beziehung zu den beiden war unterschiedlich. 1975 vermerkte Frisch verwundert: »Im vergangenen Jahr ist meine Schwester gestorben. Ich bin betroffen gewesen, wie viel ich von ihr weiß; nichts davon habe ich geschrieben.«7 Der Bruder, promovierter Chemiker, wird im Werk des öftern als Beispiel des aufrechten Schweizers geschildert und war für den kleinen Max eine wichtige Bezugsperson: »Er wußte immer mehr, war immer diesen Sprung voraus, der stimulierend ist. Große Spannungen, glaube ich, gab es nicht … Er hat ein bißchen den Vater ersetzt.«8 – »Und Franz hatte für unsere Mutter zu sorgen.«9
Die Familie lebte in bescheidenen Verhältnissen. Frisch überlieferte manchen Notstand: Es fehlt der »Groschen« fürs Gas – »Der grüne Gas-Automat hat mich gelehrt: Was wir uns nicht leisten können, das kommt uns auch nicht zu.«10 Man sammelte Fallobst und Bucheckern, um Kaffee zu brauen. »Der Vater, als Architekt arbeitslos, versuchte sich als kleiner Makler. Wir hatten Kartoffeln im Keller. Auch die braunen Briketts, die ich aus dem Keller holte, reichten vorerst, wenn man nur die Wohnstube heizte. Meine Mutter, die sich dabei entsetzlich schämte als Tochter einer Familie Schulthess von Basel, stand Schmiere, wenn ich über die Zäune kletterte, um Fallobst zu sammeln. Eicheln zu sammeln im Wald machte mir mehr Spaß als der Eichel-Kaffee.« Der Vater »versteht sich nicht aufs Sparen – so müssen wir es lernen«. Als er starb, hinterließ er Schulden. Der Bruder stotterte sie ab, »um der Mutter die Schande zu ersparen«.11
Viele Schweizer Familien waren damals arm. Das war nichts Besonderes. Daß Armut als »Schande« empfunden wurde, verweist auf das geistige Klima in der Familie. Politisch dachte man konservativ. Der Vater hatte im Ersten Weltkrieg sein Auskommen als Architekt verloren und sah sich vom sozialen Abstieg bedroht. Im Generalstreik 1918 wetterte er »gegen den roten Mob, der damals auf die Straße ging, ja, sogar auf den Paradeplatz in Zürich: unbewaffnet«.12 Je drohender der eigene Abstieg, desto rigider die Abgrenzung nach unten. In Kreisen der Schweizer Baumeister galten Streiks als Aktionen von »ein paar brutalen, gewissenlosen, allen Verantwortlichkeitsgefühls barer Individuen«. Zum Generalstreik 1918 schrieb zum Beispiel die Schweizerische Arbeitgeber Zeitung, »daß wir in Zürich einen ausgewachsenen Großstadtpöbel besitzen, der nur durch Maschinengewehre und Handgranaten im Zaume zu halten ist«13 . Die Mutter, aus besserem Haus, vermittelte dem Sohn ein idealisiertes Bild des vorrevolutionären Rußland. »Rußland war für mich immer das Märchenland. Wie sie von den Wölfen erzählt hat! Wenn man krank war, durfte man das russische Album anschauen. So war Rußland: Mütterchen Rußland!«14
Die Beziehung des jungen Max zu den Eltern war ungleich. »Zum Vater eine schwache, eigentlich eine Nicht-Beziehung. Ich rede auch nie von meinem Vater. Dabei ist nicht etwa irgend etwas Fürchterliches zu überdecken. Es ist von meiner Seite eine Gefühlslücke.«15 Der Vater hatte sich wenig um den jüngsten Sohn gekümmert und war ihm auch keine Vorbildfigur.16 Stärker war die Bindung an die Mutter. Frisch hat bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr bei ihr gewohnt und für ihren Lebensunterhalt mitgesorgt. »Die Mutter war zentral. Aber ich glaube nicht, daß es eine Ödipus-Situation war.«17 – »Das Bild, das ich von meiner Mutter habe, ist eine Art Ikone«.18 Wie eine Ikone behandelte Frisch denn auch sein Leben lang ein oval gerahmtes Jugendfoto der Mutter. Er trug es von Wohnung zu Wohnung und hängte es jeweils an einen Ehrenplatz. In späteren Jahren war Caroline Frisch »eine sehr schwerfällige, dicke Frau, eine sehr gute Hausfrau, die wunderbar kochen konnte und backen, aber ein sehr einfaches Gemüt, sensibel und sehr ehrlich und konnte fabelhaft stricken.« Sie hatte offene Beine, die bestrahlt werden mußten, was teuer war und Frisch, der sie jeweils zur Therapie begleitete, viel Geld und Zeit kostete.19
Soweit die Familienchronik, wie Frisch sie überliefert hat. In seinem Bewußtsein sah Frisch sich als Sproß typisch kleinbürgerlicher Verhältnisse, Verhältnisse, an denen er litt und die ihm zugleich Fundus waren für seine Literatur.
Der einjährige Max Frisch. Foto Ph. & E. Link, Zürich. Max-Frisch-Archiv/Stiftung für die Photographie Zürich.