Читать книгу Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991 - Urs Bircher - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеGefragt, worüber er schreibe, hätte Frisch sein Leben lang fast immer die Antwort geben können: Über mich. »Letzten Endes, wenn wir ehrlich sind, können wir nur von uns selbst aussagen«, notierte er als junger Journalist (Wir bauen eine Straße). Zwanzig Jahre später, im Stiller, reflektierte er skeptisch die Schwierigkeit, über sich selbst zu schreiben: »Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.« Und weitere zwanzig Jahre danach, in Montauk, bilanzierte er: »Ich lebe nicht mit der eigenen Geschichte, nur mit Teilen davon, die ich habe literarisieren können. Es fehlen ganze Bezirke.« – »Ich habe mich in (meinen) Geschichten entblößt, ich weiß, bis zur Unkenntlichkeit.«
Mit dem Versuch, sein eigenes Ich zu literarisieren, befand sich Frisch in bester Gesellschaft. Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert der Ich-Literatur. Die Brüchigkeit des Ichs, das Zerbrechen von Ich-Identität, die Suche nach dem Selbst, die Auflösung des Individuums, die Beschädigung, Entwertung und Entfremdung des einzelnen – unter zahlreichen Titeln reflektierte die Literatur, was in der Wirklichkeit dieses Jahrhunderts mit atemberaubender Geschwindigkeit vor sich ging, nämlich die Marginalisierung des einzelnen, einmaligen und unverwechselbaren Menschen, wie ihn die Humanisten und Aufklärer zum Maß aller Dinge erhoben hatten. Voll bitterer Ironie konstatierte Günther Anders zur Jahrhundertmitte die »Antiquiertheit« eben dieses »Menschen«.
So konsequent Frisch sich selbst und sein Leben literarisierte, so konsequent verbarg er zugleich alles nur Autobiographische. Das wirkliche Leben des Schriftstellers, so seine Überzeugung, finde im Kopf statt: »Ein großer Teil dessen, was wir erleben«, schrieb er in Ich schreibe für Leser, »spielt sich in unserer Fiktion ab, das heißt, daß das wenige, das faktisch wird, nennen wir's die Biographie, die immer etwas Zufälliges bleibt, zwar nicht irrelevant ist, aber höchst fragmentarisch, verständlich nur als Ausläufer einer fiktiven Existenz. Für diese Ausläufer, gewiß, sind wir juristisch haftbar; aber niemand wird glauben, ein juristisches Urteil erfasse die Person.« Darüber hinaus war Frisch von der besonderen Anfälligkeit der Menschen zur biographischen Selbsttäuschung überzeugt. »Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er dann, oft unter gewaltigen Opfern, für sein Leben hält, oder eine Reihe von Geschichten, die sich mit Ortsnamen und Daten durchaus belegen lassen, so daß an ihrer Wirklichkeit nicht zu zweifeln ist«, schreibt er in Unsere Gier nach Geschichten. Dieser Selbsttäuschung unterlag auch Frisch immer wieder.
Die beiden Tagebücher Frischs wurden berühmt als literarische Werke, Privates oder gar Intimes enthalten sie nicht. Viele Dokumente seines Lebens, private Briefe, Aufzeichnungen, Zeugnisse seiner Liebe zu einer Dichterin, mit der er jahrelang in leidenschaftlichen Widersprüchen verbunden war, ein journal intime zum Scheitern seiner zweiten Ehe u.a.m., sie ruhen, auf seinen Wunsch versiegelt im Safe und sollen erst im Jahr 2011 zugänglich werden.
Wer unentwegt über sich schreibt und sich zugleich unentwegt verheimlicht, muß ein gespaltenes Verhältnis zur Biographie haben. Frisch mißtraute Biographen. Ein einziges Mal verlor er im über zwanzigstündigen Gesprächsfilm mit Philippe Pilliod die Contenance: »Es ist das mit dem Autobiographischen so eine dilettantische, kunstfremde, kleinbürgerliche, langweilige Dorfschnüffelattitüde – hat er, oder hat er nicht? Eigentlich ganz unergiebig. Wird etwas exemplarisch, so ist es ganz egal, was daran autobiographisch ist.« Literatur ist Literatur, nicht camouflierte Biographie. Noch da, wo Frisch »Ich« schrieb – was nicht selten geschah – und einer Figur gar den eigenen Namen lieh, verstand er sie als Kunstfigur. Zuweilen allerdings gerieten die literarischen Verhüllungen so durchsichtig wie des Kaisers neue Kleider. Für die literarische Qualität eines Textes ist dies unerheblich, für seinen biographischen Zeugniswert nicht.
Ich las die Texte, einem Vorschlag Rolf Kiesers folgend,1 als ein einziges, großes Tagebuch im Sinne der Tagebücher Frischs, wobei ich die »Dorfschnüffelattitüden« zu vermeiden suchte. Den Schlüssel zu dieser Form der Lektüre gab Frisch selbst an die Hand: »Geben Sie jemand die Chance zu fabulieren, zu erzählen, was er sich vorstellen kann, seine Erfindungen erscheinen vorerst beliebig, ihre Mannigfaltigkeit unabsehbar; je länger wir ihm zuhören, umso erkennbarer wird das Erlebnismuster, das er umschreibt und zwar unbewußt, denn er selbst kennt es nicht, bevor er fabuliert«, hieß es 1964 in Ich schreibe für Leser.
Meine »biographische« Lektüre der wichtigsten Texte Frischs versucht also nicht herauszufinden, welche biographische mit welcher literarischen Figur, welche Lebensepisoden mit welchen Geschichten, welche biographischen Pikanterien mit welchen literarischen Anspielungen gemeint sein könnten. Ich las die Texte in erster Linie vor ihrem historisch-biographischen Hintergrund auf ihre Erfahrungsmuster hin.2 Die Leitfrage hieß stets: Warum schrieb Frisch in dieser Situation diesen Text in dieser Form? Dabei zeigten sich interessante Zusammenhänge. Zum Beispiel spielte Frisch in seinen Texten immer wieder Probleme seiner jeweiligen Lebenssituationen literarisch durch und versuchte sie anschließend gemäß dem literarischen Befund auch im Leben praktisch zu bewältigen. Literatur als Probehandeln, sozusagen.
Die Gliederung ergab sich aus dem gewählten Vorgehen. Die Kapitel verweisen auf wichtige Lebens- und Arbeitszäsuren. Dabei lassen sich – wie immer, wenn ein Kontinuum unterbrochen wird – gute Gründe für den Einschnitt anführen, wenn auch oft nicht minder gute dagegen. Man betrachte daher die Gliederung nicht statisch, sondern als Verschnaufpausen auf dem »laufenden Band« des Lebens.
Der erste Band betrachtet die Jahre 1911 bis 1955. Es ist die Zeit, in der Max Frisch sich vom konservativen Schweizerdichter zum linkskritischen, europäischen Intellektuellen entwickelt. Bislang unbekanntes Quellenmaterial eröffnet hier erstaunliche Einsichten. Der zweite Band behandelt die Jahre bis zum Tod 1991. Der Schriftsteller wird weltberühmt und zur umstrittenen moralischen Instanz im eigenen Land.
Die Sekundärliteratur zu Max Frisch übertrifft den Umfang seines Werks um ein Vielfaches. »Frisch fasziniert die Intellektuellen«, spottete Friedrich Dürrenmatt. »Sie finden bei ihm die Schwierigkeiten dargestellt, die sie auch haben, oder glauben, haben zu müssen.« Wozu also auch noch dieses Buch über Frisch?
Drei Gründe: Erstens, weil es keine Darstellung seines Lebens und Werks im historischen Kontext und für ein breites Publikum gibt. Die kleine Biographie von Volker Hage ist gut geschrieben, geht aber kaum auf die Werke und den Zeithintergrund ein und berichtet als Lebensgeschichte nur das, was Frisch selbst darüber geschrieben und erzählt hat. Dies trifft auch auf die Biographie von Karin und Lutz Tantow zu. Sie begeht darüber hinaus die Unanständigkeit, seitenweise Frischs eigenen Text zu paraphrasieren und als eigene Erkenntnisse auszugeben. Alle anderen Biographien, auch die literaturwissenschaftlich sorgfältig gearbeitete von Alexander Stephan, sind vergriffen und zehn Jahre und mehr veraltet.
Zweitens leben heute, betagt bis hochbetagt, noch einige Weggefährtinnen und -gefährten Frischs, deren persönlichen Erinnerungen und Dokumente sehr wertvoll sind. Für die frühen Jahre sind dies vor allem Frau Käte Rubensohn, seine erste große Liebe, Frau Trudy Frisch-von Meyenburg, die erste Gattin, und Hannes Trösch, der langjährige Mitarbeiter im Architekturbüro. Sie werden im Jahr 2011, wenn Frischs versiegelte Privata eröffnet werden, ihre kritischen Stimmen vermutlich nicht mehr erheben können.
Drittens war Frisch zwar berühmt, beliebt war er in weiten Kreisen – auch in linken – nicht. Sein politisches Engagement eckte an. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und dem Tod Frischs wünschten manche ihn endgültig auf den Müll der Geschichte. Ihrem Wunsch soll mit diesem Buch widersprochen werden.
Das Buch hat viele »Mütter« und »Väter«. Besonders gedankt sei: Frau Käte Rubensohn-Schnyder. Ihr verdanke ich die wichtigsten Informationen zum jungen Frisch; ihrem Mann Dr. Fortunatus Schnyder für die Überprüfung des Textes, Frau Trudy Frisch-von Meyenburg und Hannes Trösch für die Gespräche, Kathrin Straub für die Mitarbeit an der Entstehung des Buchs und dem Max-Frisch-Archiv in Zürich. Gedankt sei auch dem Kuratorium für die Förderung des kulturellen Lebens des Kantons Aargau für die finanzielle Unterstützung.
Ronchamp, im Frühjahr 1997