Читать книгу Unheimlich - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 12
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ОглавлениеEin paar Tage lang geschah nichts. Das Wetter blieb trüb und regnerisch. Magnus und Sten mußten wieder zur Schule und hatten wenig Zeit. Am dritten Abend nach dem Besuch bei Magnus’ Großmutter holten die beiden uns im Pfarrhaus ab, und wir fuhren in einen Nachbarort, etwa eine Viertelstunde von Lilletorp entfernt, um ins Kino zu gehen.
Ein alter Film von Ingmar Bergman wurde gezeigt, Wilde Erdbeeren, auf schwedisch Smultronstället. Für mich war es kein rechtes Vergnügen, da der Film natürlich ohne Untertitel lief. Ich gab es bald auf, Kristin und Magnus zu fragen, was dieser oder jener Darsteller gerade gesagt hätte.
„Das war so: Der alte Mann hat auf seine Jugendzeit zurückgedacht“, erklärte mir Magnus später, als wir noch in einer kleinen Kneipe saßen und etwas tranken. „Er war ein harter Mensch geworden, ein erfolgreichen Mann, und hat sich durch den Gedächtnis an sein Jugendzeit verändert – du verstehst? Er wurde… wie sagt man gleich? Menschlicher.“
Wir redeten noch eine Weile über den Film, und ich verstand jetzt so manches, was mir vorher unbegreiflich gewesen war. Dann schlug Sten vor, wir sollten noch in eine Disco gehen, und wir stimmten sofort zu; Kristin, weil sie so gern tanzt, und ich, weil ich noch nie in einer schwedischen Diskothek gewesen war – doch nicht nur deswegen. Ich fürchtete mich mittlerweile vor jeder neuen Nacht im Pfarrhaus und war froh über jede Stunde, die ich anderswo verbringen konnte.
In der Disco herrschte ein Höllenlärm. Die Lautsprecher waren voll aufgedreht. Natürlich wurden vor allem Abba-Schlager gespielt; aus „Patriotismus“, wie Magnus meinte. Er sagte allerdings, er persönlich könne die Gruppe nicht leiden, weil sie „Plastik-Musik“ mache. Wir konnten uns nur schreiend unterhalten und gaben bald jedes Gespräch auf. Statt dessen tanzten wir viel; und es war irgendwie selbstverständlich, daß Kristin mit Sten tanzte und Magnus mit mir.
Das Tanzen tat mir gut. Ich hatte das Gefühl, daß sich dabei die Anspannung löste, von der ich schon seit Tagen erfüllt war. Es freute mich auch, als ich merkte, daß Magnus kein anderes Mädchen ansah als mich, obwohl ich noch selten so viele hübsche Mädchen auf einmal gesehen hatte.
„Die Schwedinnen sehen wirklich gut aus“, sagte ich, als ich einmal mit Kristin zusammen in die Toilette ging. Sie lachte und erwiderte: „Klar. Sieh mich an!“
Magnus und Sten brachten uns mit den Mopeds zum Pfarrhaus zurück. Bestimmt wachte Professor Zetterlund vom wütenden Motorengeknatter auf, falls er überhaupt schon geschlafen hatte; vielleicht machte er sich Sorgen wegen unseres späten Nachhausekommens. Es war immerhin schon nach Mitternacht.
Er zeigte sich jedenfalls nicht, als wir ins Haus traten und auf Zehenspitzen durch den Flur schlichen, während das Geräusch von Magnus’ und Stens Mopeds in der Ferne verklang.
Kristin war furchtbar redselig. Wir lagen im Bett, und mir schwirrte noch der Kopf von der lauten Musik. Sie aber schwärmte von Sten. „Ist er nicht einsame Klasse?“ fragte sie. „Hast du gesehen, daß er ein Grübchen im Kinn hat?“
Ich sagte, nein, das hätte ich nicht, und sie erkundigte sich, wie ich Magnus fände.
„Nicht schlecht“, sagte ich vorsichtig.
„Na ja, er sieht vielleicht nicht ganz so toll aus wie Sten, aber nett ist er, das muß man ihm lassen.“
Ich dachte, daß Magnus mir auch äußerlich besser gefiel als Sten, äußerte es aber nicht. „Und ich sag dir, er ist verliebt in dich!“ fügte Kristin triumphierend hinzu, als wäre das ihr persönliches Verdienst.
Ich merkte, daß ich rot wurde. Zum Glück war es dunkel im Zimmer. „Quatsch!“ sagte ich.
„Doch, ich schwör’s dir. Er hat dich den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen. Schwer verliebt und all so was, Frankie!“
Ich mußte kichern. „Was du dir immer alles einbildest“, sagte ich, konnte aber nicht verhindern, daß mich ein angenehmer Schauer durchrieselte.
Kristin redete schon weiter. Sie setzte ihr Loblied auf Sten fort, aber ich hörte nicht mehr richtig zu. Ich dachte an Magnus. Dann wurde es plötzlich still im Zimmer. Kristin war über ihrem eigenen Redestrom eingeschlafen.
Auch ich war müde; doch zugleich erfüllte mich eine seltsame Rastlosigkeit, die mich am Einschlafen hinderte. Wie schon seit Tagen hatte ich Angst, in Schlaf zu fallen; es war das Gefühl, im Schlaf machtlos zu sein, allem hilflos ausgeliefert, was im Pfarrhaus geschehen mochte.
Ich drehte mich von einer Seite auf die andere. Der Mond stand hinter dem Ostfenster, eine schmale, verschwommene Sichel, über die Wolkenfetzen hinwegzogen. Die Baumwipfel bewegten sich leicht im Wind. So vieles ging mir durch den Sinn. Ich konnte die Gedanken einfach nicht vertreiben.
Ich versuchte es mit einer Atemübung, die eine Gymnastiklehrerin uns verraten hatte und zu der man das Wort „Ruhe“ benutzt. Man denkt sich „Ru“ beim Einatmen, „he“ beim Ausatmen und versucht dabei, sich innerlich gewissermaßen fallenzulassen.
Ich merkte, daß es gar nicht einfach war, tief und regelmäßig zu atmen, doch mit der Zeit entspannte ich mich, und die Gedanken zerrannen. Ich spürte fast körperlich, wie ich fiel – ich fiel in eine Art Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf.
Alles war still… Ruhe…
Gerade als ich im Begriff war, die Schwelle zum Schlaf zu überschreiten, hörte ich das Geräusch.
Ich schreckte hoch. Es war fast, als hätte ich im Unterbewußtsein bereits darauf gewartet. Das Rascheln meines Kopfkissens übertönte für einen Augenblick alles andere. Doch dann hörte ich es wieder.
Es war jenes Gleiten und Scharren, das ich schon einmal vernommen hatte – die gleichen gedämpften Geräusche aus der Tiefe des Hauses.
Das Blut pochte in meinen Schläfen. Ich konnte es förmlich hören, so angespannt lauschte ich. Dieses Gleiten – es klang, als würde ein Gegenstand über den Boden gezerrt.
Dann trat wieder Stille ein. Doch ich wußte, daß es noch nicht vorüber war. Ich war ganz sicher, daß noch etwas folgen würde – etwas Schlimmeres.
Mein rechtes Bein war eingeschlafen. Es prickelte darin wie von tausend Ameisen, als ich es bewegte. Eine Wolke verdunkelte den Mond. Alles war still. Dann begann jemand zu weinen.
Ich hörte es deutlich; es gab keinen Zweifel: das dünne, jämmerliche Weinen eines Kindes. Dann war da noch ein anderer Laut, der das Quäken übertönte. Ein Schluchzen – das Schluchzen einer Frau.
Mein Herz schlug so heftig, daß ich es kaum ertragen konnte. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, konnte mich aber nicht bewegen. Ich wollte Kristin wecken, doch ich war wie gelähmt, stumm vor Entsetzen, festgebannt in meinem Bett.
Das Schluchzen schwoll an und verebbte. Wieder erklang das dünne Kinderweinen. Ich spürte Blutgeschmack auf meinen Lippen. Vor Schreck hatte ich mir so fest auf die Unterlippe gebissen, daß die Haut geplatzt war.
Unvermittelt herrschte wieder Stille. Ich erwachte aus meiner Erstarrung, begann unkontrolliert am ganzen Körper zu zittern. Mit einem Satz sprang ich aus dem Bett, lief zu Kristin, beugte mich über sie und schüttelte sie.
Mein einziger Gedanke war, daß ich nicht allein sein durfte, wenn es wieder begann – die Geräusche, das schreckliche, jammervolle Weinen.
Es dauerte eine Weile, bis Kristin wach wurde. Sie war völlig verwirrt. Endlich fuhr sie hoch. Ihr Gesicht war ein schwarzer Umriß im dunklen Zimmer.
„Wer… was ist los? Frankie, du? Ist was passiert?“
Ich ging zur Tür und machte Licht. Meine Knie zitterten auf lächerliche Weise. Kristin saß aufrecht im Bett, mit aufgerissenen Augen und wirrem Haar.
„Frankie, was hast du?“ fragte sie erschrocken. „Du bist ja kreidebleich. Ist dir schlecht?“
Auch meine Stimme zitterte, als ich sagte: „Da waren Geräusche, Kristin. Ich… ich hab’s gehört. Es war furchtbar!“
„Was?“ fragte sie. „Was war furchtbar? Du hast geträumt, Frankie!“
Ich ging zu meinem Bett zurück und wickelte mich bis zum Kinn in die Decken ein. Mir war kalt. „Ich hab nicht geträumt“, sagte ich matt. „Ich habe alles gehört, klar und deutlich. Es war grausig.“
Sie schwang die Beine über die Bettkante und starrte mich an. „Was hast du gehört?“
„Weinen“, sagte ich. „Ein Kind hat geweint. Und das Schluchzen einer Frau, genau wie Magnus’ Großmutter es uns erzählt hat. Genauso!“
Kristin holte tief Atem. Ich merkte, wie sie gegen den Schlaf kämpfte, wie sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und zu begreifen, wovon ich sprach.
„Du hast jemanden weinen gehört?“ fragte sie. „Hier, im Haus?“
„Ja, wo denn sonst?“ sagte ich, gereizt vor Erregung. „Es kam von unten. Es klang, als käme es aus dem Keller.“
„Aber das ist doch Unsinn! Das hast du dir nur eingebildet, weil Magnus’ Großmutter davon erzählt hat.“ Kristins Gesicht hellte sich auf. „Oder nein, du hast es natürlich geträumt. Das ist sonnenklar, die Sache hat dich so beschäftigt, dich bis in deine Träume verfolgt. Vor Schreck bist du aufgewacht und hast geglaubt, es wäre alles wirklich passiert. So was gibt’s.“
Meine Angst verwandelte sich in Zorn. „Zum Teufel, ich hab nicht geträumt! Ich hab nicht mal richtig geschlafen, verstehst du? Als du eingeschlafen warst, bin ich noch wachgelegen, ich konnte einfach nicht schlafen. Ich hab versucht, mich zu entspannen, und als ich endlich soweit war, daß ich fast eingeschlafen wäre, fingen die Geräusche an…“
„Das Weinen?“ fragte Kristin, noch immer ungläubig.
„Nein. Zuerst war’s nur ein Scharren und Gleiten, als würde jemand über den Boden geschleift.“
Ich stockte. Ich hatte „jemand“ gesagt. Plötzlich wurde mir klar, daß es genauso geklungen hatte, als würde ein menschlicher Körper über Dielen gezerrt. Ich starrte Kristin an, und sie starrte zurück.
Zitternd sagte ich: „Ich habe die Geräusche schon einmal gehört, Kristin – gleich in der ersten Nacht nach unserer Ankunft.“
„Waaas? Warum hast du mir nichts davon gesagt?“
„Weil ich dachte, daß es eine natürliche Erklärung dafür geben müßte. Aber dann…“ Ich verstummte. „Horch!“ zischte ich.
Mir war, als hätte ich wieder etwas gehört, ein Knarren wie von morschen Bodenbrettern. Wir lauschten, stumm und angespannt, doch nichts rührte sich mehr, alles war still.
„Da war doch nichts“, sagte Kristin. „Du bildest dir nur etwas ein.“
Sie glaubte mir also nicht. „Ich bilde mir nichts ein!“ stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Es ist mir auch egal, was du denkst. Du wirst es schon noch selbst hören; das war ja nicht unsere letzte Nacht im Pfarrhaus!“
Und ich drehte mich auf die andere Seite. Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte Kristin bittend: „Sei nicht böse, Frankie. Es ist nur – ich kann’s einfach nicht glauben, verstehst du? Von Spuk reden, ist eine Sache – aber wenn’s dann aussieht, als würde es ernst werden…“
Ich erwiderte: „Es sieht nicht nur so aus. Es ist ernst.“
Kristin seufzte. Plötzlich war sie gar nicht mehr so begierig auf Spuk. „Sollen wir hinuntergehen und nachsehen?“ fragte sie nach ein paar Minuten. Es klang nicht besonders überzeugend.
„Du kannst ja gehen, wenn du willst“, sagte ich. „Aber mich bringen heute nacht keine zehn Pferde aus diesem Zimmer! Außerdem – wonach willst du suchen?“
„Nach Spuren vielleicht“, murmelte sie. „Du hast doch gesagt, daß jemand über den Boden geschleift worden ist…“
„Ich habe gesagt, daß es geklungen hat, als wäre jemand über den Boden geschleift worden“, verbesserte ich schaudernd. „Aber du wirst keine Spuren finden, Kristin. Ich bin überzeugt, daß schon Magnus’ Ururgroßmutter die gleichen Geräusche gehört hat – Lina, oder wie sie hieß. Solche Erscheinungen hinterlassen keine Spur.“
Kristin schwieg. Ich spürte, daß sie erleichtert war, weil ich sie nicht beim Wort nahm und nicht von ihr erwartete, daß sie allein nach unten ging und nachsah.
Ich war plötzlich sehr müde. Die Angst hatte eine bleierne Schwere in meinem Körper hinterlassen. Ich konnte die Augen nicht mehr offenhalten.
Dann schlief ich und träumte von einer Frau, die auf einer Treppenstufe saß, ein Kind in den Armen. Ich sah nur den Umriß ihrer Gestalt, denn das Traumbild war dunkel und verschwommen. Sie kauerte da, ohne sich zu bewegen, und hielt das kleine Bündel fest umklammert.
Ich stand im Traum ein Stück von ihr entfernt und beobachtete sie, doch es gab keine Verbindung zwischen ihr und mir, und sie wußte nichts von meiner Gegenwart. Ich hörte sie leise weinen und seufzen. Das Kind in ihren Armen war ganz still, so still, daß ich dachte, es müsse tot sein.
Schließlich erhob sich die Frau, ging die Treppe hinunter und verschwand in der Dunkelheit. Ich wollte ihr folgen, wollte nachsehen, wohin sie ging. Doch als ich am Fuß der Treppe angelangt war, stand ich vor einer schweren, mit alten Eisenbeschlägen versehenen Tür. Auf die Mitte der Tür war ein rotes Kreuz gemalt. Ich rüttelte am Griff, aber ich konnte nicht öffnen.
Hinter der Tür hörte ich die Frau schluchzen. Ich hämmerte gegen das Holz, doch sie schien mich nicht zu hören, denn sie machte mir nicht auf. Ich rief: „Lassen Sie mich hinein! Sie müssen fort von hier! Ich werde Ihnen helfen, von hier wegzukommen!“
Dann erwachte ich mit einem Ruck. Im Zimmer brannte Licht und blendete mich, als ich die Augen öffnete. Doch auch hinter den Fenstern wurde es schon hell.
Kristin stand über mich gebeugt, sah mich forschend an und sagte: „Du hast im Traum geredet, Frankie – daß wir von hier fort müssen oder so ähnlich.“
Ich richtete mich auf und sah sie verwirrt an. Dann erwiderte ich langsam: „Nicht wir, Kristin – sie.“
„Sie?“ wiederholte Kristin verständnislos.
„Die Frau mit dem Kind“, sagte ich. „Ich habe sie gesehen.“