Читать книгу Unheimlich - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 9
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ОглавлениеNatürlich radelten wir am nächsten Tag pünktlich nach Lilletorp; ich voller Aufregung, Kristin siegessicher und ausgelassen. Ich hatte so meine Zweifel, ob Sten und sein Freund wirklich auftauchen würden; vielleicht waren sie inzwischen gemeinsam zu dem Ergebnis gekommen, daß sie mit zwei so aufdringlichen Mädchen wie uns nichts zu tun haben wollten; oder sie standen hinter irgendeinem Fenster, wenn wir kamen und vor dem Krogen auf sie warteten, und machten sich über uns lustig.
„Ach was, du alte Unke“, meinte Kristin, als ich ihr meine Bedenken anvertraute. „Sten ist nicht so!“ Dabei kannte sie ihn doch noch gar nicht.
Doch als wir zur Dorfstraße kamen, sahen wir die beiden schon mit ihren Mopeds vor dem Krogen stehen und warten. Man hätte sie von weitem für Brüder halten können, denn sie waren beide gleich groß und gleich blond.
Ich hielt mich hinter Kristin. Am liebsten hätte ich mich irgendwo versteckt. Sie aber kannte wie immer keine Scheu. Sie sprang vom Fahrrad, schleuderte ihr Haar aus der Stirn und sagte: „Hallo, Sten. Und du bist Magnus, wie?“
Stens Freund nickte stumm. Ich glaube, er war genauso verlegen wie ich.
„Hallo“, sagte Sten und versuchte so zu tun, als würden wir uns schon lange kennen. „Gutes Badewetter, ja? Ihr könnt euren Fahrräder im Hof hinter dem Krogen einparken.“
Ich warf Magnus einen verstohlenen Seitenblick zu und merkte, daß er umgekehrt das gleiche tat. Rasch sahen wir beide wieder weg. Immerhin hatte ich bemerkt, daß er schöne graue Augen hatte, in denen ein leichtes Lächeln stand; oder bildete ich mir das nur ein?
„Na, wie gefallen sie dir?“ fragte Kristin, kaum daß wir richtig außer Hörweite waren.
„Pssst!“ zischte ich. Wir schoben unsere Fahrräder durch einen kleinen Torbogen in den Hof des Gasthauses. „Sie sehen gut aus, aber wir müssen erst mal abwarten, ob sie auch sympathisch sind.“
Nachdem wir die Räder an die Mauer eines Nebengebäudes gelehnt und abgesperrt hatten, gingen wir zu Sten und Magnus zurück. Kristin schwang sich sofort wie selbstverständlich hinter Sten aufs Moped, als hätte sie das schon hundertmal getan. So blieb mir nichts anderes übrig, als mit Magnus zu fahren.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, die Arme um einen völlig fremden Jungen zu legen. Doch ich mußte mich ja irgendwo festhalten, wenn ich nicht vom Moped fallen wollte.
Sten und Magnus setzten ihre Motorradbrillen auf, und wir fuhren ratternd und knatternd aus Lilletorp hinaus über eine staubige Straße, die zwischen Feldern und einem Birkenwäldchen dahinführte.
Anfangs fühlte ich mich ziemlich verkrampft und angespannt. Meine Nase war dicht an Magnus’ Hemd; er roch angenehm nach Seife und frischer Luft. Seine blonden Haare flatterten im Fahrtwind und kitzelten mich im Gesicht. Staubkörnchen wehten mir in die Augen, da ich vergessen hatte, eine Sonnenbrille aufzusetzen. Ich schloß die Augen und entspannte mich ein wenig.
Die Fahrt kam mir lang vor. Ich dachte daran, daß ich mir geschworen hatte, eine Zeitlang kein Fahrzeug mehr zu besteigen – und jetzt schaukelte ich wieder durch die Gegend! Meine Arme waren schon ganz steif und mein Gesicht brannte, als wir endlich in der Ferne das Meer sahen. Das Wasser glitzerte grünlich hinter kahlen Klippen, Schwärme von Seevögeln kreisten am Himmel.
Wir fuhren an einer Reihe kleiner roter Holzhäuser vorbei. In das Knattern der Mopeds mischte sich das Geschrei badender Kinder und das Kreischen der Möwen. Zwischen den Klippen wuchs hohes Gras, es wehte im Seewind.
Wir bogen in eine kleine Parkbucht ein, in der etwa ein Dutzend Autos standen, und machten halt. Ich war heilfroh, endlich absteigen zu können. Mein Rücken schmerzte, und in den Armen hatte ich fast einen Krampf.
Magnus setzte seine Brille ab. Ich sah, daß er im linken Ohrläppchen einen kleinen goldenen Ring trug. Das gefiel mir. Irgendwie paßte es zu ihm.
Kristin sagte: „Herrje, ich komme mir ganz verstaubt vor. Nichts wie ins Wasser!“
Wir folgten Sten und Magnus zu einer windgeschützten Stelle zwischen Felsen und stellten unsere Umhängekörbe ab. Das Ufer war steinig, das Wasser so klar, daß man bis auf den Grund sehen konnte. In der Ferne fuhr ein Boot mit rosarotem Segel.
„Puh, eine Qualle!“ sagte Kristin und deutete aufs Wasser. „Gibt’s viele hier?“
„Ziemlich viele, aber sie sind nicht gefahrvoll. Sie stechen nicht, meine ich“, erwiderte Magnus. Es war das erstemal, daß er etwas sagte. Seine Stimme war dunkel, und sein Deutsch klang recht holprig, aber gerade das hatte einen besonderen Reiz.
„Sie geben keine ätzende Flüssigkeit ab, meinst du“, sagte Kristin und lachte. „Trotzdem sind sie irgendwie unheimlich. Ich mag nicht mit ihnen in Berührung kommen.“
„Sie sind hübsch“, sagte ich. „So zart, fast wie aus Glas. Wenn sie so im Wasser treiben, sehen sie wie seltsame Blüten aus.“
„Oder wie Raumschiffe“, meinte Magnus. „Wenn sie groß wären, könnte ich mich denken, wie sie als Raumschiffe durch den Universum schweben.“
„Ja, zu den Klängen von Walzermusik – wie im Film 2001!“ rief Kristin.
Wir lachten. Dann verschwanden Kristin und ich hinter einer Klippe, um uns umzuziehen.
„Vielleicht baden sie hier nackt?“ sagte Kristin, während wir in unsere Bikinis schlüpften. „Die Schweden baden gern nackt, weißt du.“
Ich starrte sie an. „Und das sagst du jetzt erst? Du, das wäre mir peinlich. Meinst du, daß die beiden auch…?“
„Hm“, sagte Kristin mit bedenklicher Miene. „Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Die sind aus einem Dorf, da geht’s wohl nicht so frei zu.“
Ich war sehr beruhigt, als wir wieder hinter der Klippe hervorkamen und feststellten, daß Sten und Magnus Badehosen trugen und daß auch sonst niemand nackt herumhüpfte. Die beiden waren braungebrannt und ziemlich knochig. Wir wateten ins seichte Wasser. Es war verteufelt kalt, und die Steine bohrten sich in meine Fußsohlen.
Kristin und Sten gingen voraus. Ich hörte, wie sie sich auf schwedisch unterhielten. Ich stakste in einigem Abstand hinter Magnus her und verbiß mir einen Aufschrei, als ich auf einen besonders spitzen Stein trat. Da wandte er sich zu mir um, sah mich ernst an und sagte: „Die Steiner machen weh, nicht?“
„Ja“, sagte ich. „Furchtbar.“ Und dann begannen wir beide zu lachen, ohne recht zu wissen, warum.
Kristin ließ sich platschend ins Wasser fallen. Sie schwamm mit ein paar Stößen weiter hinaus, ich sah ihre langen, schlanken Beine im klaren Wasser. Auch Sten stürzte sich in die Fluten. Er prustete wie ein Walroß.
„Verdammt mutig sind die!“ sagte Magnus.
Wir blieben nebeneinander stehen und zitterten. „Man muß sich hineinstürzen“, erklärte Magnus. „Sonst kehrt man um. Oder man verfriert.“
Er sagte das so komisch, daß ich wieder lachen mußte. Wie auf Kommando ließen wir uns vornüber ins Wasser fallen und begannen zu schwimmen.
„Saukalt!“ schrie ich, und Magnus sah mich an und fragte erstaunt: „Sagt man das? Saukalt?“
Kristin rief über die Schulter: „Ist das nicht phantastisch? Einsame Spitze – so ein klares Wasser! Igitt, eine Qualle!“
Sie warf sich herum und schwamm in wilder Flucht nach rechts. Sten kraulte hinterdrein. „Vorsicht! Die Quallen greifen an!“ brüllte er. „Ein ganzer Armee nähert sich von Dänemark!“
Kristin kreischte laut. Sie begann ihn mit Wasser zu bespritzen, und die beiden veranstalteten eine Wasserschlacht. Magnus und ich hielten uns in sicherer Entfernung von den beiden. Wir blinzelten in die Sonne, sahen den Segelschiffen zu, wechselten ab und zu einen Blick oder ein Lächeln. Es war, als würden wir uns schon seit Jahren kennen und nicht erst seit weniger als zwei Stunden.
Später lagen wir zu viert auf der Klippe und sonnten uns. Eine Weile schwiegen wir, doch es war kein unbehagliches Schweigen. Manchmal öffnete ich die Augen und sah träge aufs Meer hinaus oder verfolgte mit den Blicken die Möwen, die in wunderbarer Anmut über dem Wasser schwebten und sich vom Wind tragen ließen.
Plötzlich sagte Magnus: „Ihr wohnt in das alte Pfarrhaus, wie?“
Kristin nickte. „Ja, bei meinem Vater. Ich weiß wirklich nicht, warum er sich das Haus gekauft hat. Es ist so einsam da. Brrr!“ Und sie schüttelte sich.
Magnus machte ein nachdenkliches Gesicht. „In Lilletorp sagen die Menschen, daß es in das Pfarrhaus…“ Er stockte. „Wie heißt das doch, Sten? Spöker?“
„Spuken“, sagte Sten. „Sie sagen, daß es ins Pfarrhaus spukt. Die alte Frauen erzählen sich das, ja. Und die alte Männer. Das Haus hat deshalb auch viele Jahre leer gestanden, bis dein Vater es gekäuft hat.“
„Gekauft“, verbesserte Kristin. „So ist das also! Da siehst du’s mal, Frankie!“ Und sie warf mir einen triumphierenden Blick zu.
Ich hob den Kopf. Die friedliche Stimmung war zerstört. Spuk! Die Geräusche fielen mir ein, die ich in der ersten Nacht im Pfarrhaus gehört hatte. Dieses Schleifen…
Obwohl die Sonne so warm schien, lief mir ein Schauder über den Rücken.
„Du hast ja eine Gänsehaut!“ sagte Magnus. „Bist du ängstlich vor Spukerei?“
Ich erwiderte: „Nein.“ Aber es klang nicht sehr überzeugend.
„Was soll denn das für ein Spuk sein?“ fragte Kristin begierig. „Geht ein Gespenst um? Eine ruhelose Seele oder so?“
„Ich weiß selber nicht so genau“, sagte Magnus. „Du sollst meine Großmutter fragen. Die hat mich oft davon erzählt, als ich klein war. Da ist mal etwas geschehen, vor hundert oder zweihundert Jahr. Ein böser Pastor hat seine Frau geplagt, glaube ich.“
„Ja“, bestätigte Sten. „Jetzt weiß ich es auch wieder. Ein alte Tante von mir hat früher manchmal davon gesprochen. Da soll ein Pastor gewesen sein, wo war sehr grausam zu sein Ehefrau. Er hat sie so gequält, daß sie… Wie sagt man doch gleich? Sie hat Selbstmord gemacht. Ein kleines Kind hatte sie auch. Das soll sie vorher noch getötet haben, aber sein Leiche hat nie jemand gefunden.“
Ich starrte ihn an. Mir war jetzt richtig kalt. Ich griff nach meinem T-Shirt und deckte mich zu.
„Pfui Teufel!“ sagte Kristin. „Und so was soll ein Pastor gewesen sein. Aber die Kirche hat früher schließlich auch Frauen foltern und verbrennen lassen, die sie für Hexen hielt. Das müssen doch grausame, engstirnige Leute gewesen sein!“ Sie schüttelte voller Abscheu den Kopf. „Diese Frau soll also im Pfarrhaus herumspuken? Oder etwa der Pastor? Vielleicht läßt ihm sein Gewissen keine Ruhe!“
Ich stöhnte. „Hör bloß auf, Kristin! Wenn das so weitergeht, packe ich meine Sachen und laufe zu Fuß nach Hause.“
Magnus sagte: „Oh, das ist mir sehr unangenehm. Ich meine, ich wollte dir nicht ängstlich machen. Es gibt doch kein Spukerei, Frankie. Das ist nur, was die alten Menschen glauben.“
„Wer weiß“, warf Kristin ein. „Es könnte doch sein, daß solche armen Seelen, die im Leben furchtbar gelitten haben oder viel Böses getan haben, keine Ruhe finden und an dem Ort umgehen müssen, wo alles passiert ist.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Sten. „Man hat doch kein Beweis dafür, daß irgendwo wirklich ein Gespenst war. Die Menschen wissen nur, wenn in ein Haus etwas Schlimmes passiert ist. Dann denken sie, daß es dort ungeheuerlich sein muß.“
„Nicht geheuer“, verbesserte Kristin. „Aber ich sage euch, ich habe mal in einer Zeitschrift einen Bericht gelesen…“
Und sie erzählte weitschweifig eine Geschichte von einem Spukhaus im Bayrischen Wald, doch ich hörte nicht richtig hin. Wieder dachte ich an die Geräusche. Ich war sicher, daß ich während der kommenden Wochen jede Nacht stundenlang wach liegen und horchen würde, ob sich die seltsamen Laute wiederholten; und das war keine angenehme Vorstellung.
„Ihr sollt mal mit mein Großmutter sprechen“, sagte Magnus. „Sie weiß viel über das alles Bescheid. Ihr eigenen Großmutter hat nämlich mal in das Pfarrhaus gearbeitet. Als Piga… Wie sagt man auf deutsch, Sten?“
„Als Hausmädchen“, erklärte Sten. Er machte ein interessiertes Gesicht. „Hat sie bei dem bösen Pastor und sein Frau gearbeitet?“
Magnus schüttelte den Kopf. „Nein, später erst. Das war wohl der nächste Pastor oder so. Jedenfalls sagt meine Großmutter, daß seine… nein, ihre Großmutter aus das Pfarrhaus entlaufen ist. Wegen der Spukerei.“
Ich stöhnte wieder, diesmal aber nur innerlich. Magnus fuhr fort: „Aber mein Großmutter kann nicht Deutsch.“
Ich dachte erleichtert, daß ich ja kein Schwedisch konnte und mir die Schauergeschichten deshalb auch nicht anzuhören brauchte. Doch Kristin erwiderte eifrig: „Ach, das macht nichts. Wir gehen zu ihr, und sie soll uns alles genau erzählen. Dann mache ich den Dolmetscher und übersetze für Frankie, was sie sagt.“
„Vielen Dank!“ murmelte ich schwach.
Glücklicherweise redeten wir an diesem Tag nicht weiter vom Pfarrhaus. Sten begann eine andere Spukgeschichte zu erzählen, die er in einem Buch gelesen hatte. Nicht, daß ich im Augenblick besonders wild auf Spukgeschichten gewesen wäre. Seine Erzählung klang jedoch eher komisch als schaurig, weil er gelegentlich ein falsches Wort benutzte und grammatikalische Fehler machte, die einfach keine gruselige Stimmung aufkommen ließen.
Dann gingen wir zu einer Würstchenbude hinter der Parkbucht, aßen „korv med senap“, was soviel wie Würstchen mit Senf bedeutet, badeten noch einmal, legten uns wieder in die Sonne und fuhren anschließend nach Lilletorp zurück.
„Das war prima!“ sagte Kristin, als wir vor dem Krogen abstiegen. „Nehmt ihr uns morgen wieder mit?“
„Sicher“, sagte Magnus. „Morgen fahren wir noch mal. Dann fängt der Schule bei uns wieder an, leider.“
„Oh!“ Kristin war enttäuscht.
„Aber am Wochenende können wir fahren und schwimmen“, sagte Sten. „Und ein bißchen Zeit gibt es schon noch.“
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag um die gleiche Zeit. Dann holten Kristin und ich unsere Fahrräder aus dem Hof der Gastwirtschaft. Magnus und Sten warteten noch am Straßenrand.
„Und seid vorsichtig mit dem Spukerei!“ rief uns Sten nach, als wir losradelten. „Wenn der alte Schweinepastor um Mitternacht vor eure Tür steht und sein Kopf unter sein Arm trägt, müßt ihr ihm fotografieren. Dann haben wir ein Sensation in Lilletorp!“
Kristin wandte sich lachend um und winkte. Ich aber lachte nicht. Ich konnte es einfach nicht komisch finden.