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Ich dachte: Sie ist tot! Kristin ist tot!

Ich kann nicht beschreiben, wie sehr mich dieser Gedanke entsetzte. Er verursachte mir körperliche Schmerzen – es war, als würde sich mein Herz zusammenkrampfen, nein, mein ganzer Brustkorb bis hinauf zur Kehle, so daß ich kaum noch Luft bekam.

Wie versteinert starrte ich auf sie nieder. Die eine Hälfte ihres Gesichts lag gegen das Gras gepreßt. Die andere war hinter ihren langen blonden Haaren verborgen. Ich wagte es nicht, das Haar zurückzustreichen und ihr Gesicht anzusehen. Ich wagte es überhaupt nicht, sie zu berühren.

Regungslos kauerte ich neben ihr. Ein Sonnenstrahl fiel auf ihren Hinterkopf, ließ ihr Haar glänzen. Da sah ich es – ungläubig zuerst, voller Angst, einer Täuschung zu erliegen. Doch dann bemerkte ich es wieder: Die blonden Haarsträhnen, die wie ein Fächer über Kristins rechte Gesichtshälfte gebreitet waren, bewegten sich sacht. Sie atmete!

Vor Erleichterung kamen mir die Tränen. Mit zitternden Fingern strich ich ihr Haar zurück. Ihre Augen waren geschlossen, doch ich sah ihr Lid zucken. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, so daß ich einen Teil ihrer Zähne sah.

Sie war sehr blaß. Ich hörte sie leise stöhnen, beugte mich zu ihr, legte meine Lippen an ihr Ohr und flüsterte: „Kristin – hörst du mich? Komm zu dir, Kristin, bitte!“

Das Stöhnen wurde lauter. Ihre Lippen bewegten sich. Ich merkte, daß sie versuchte, die Augen zu öffnen.

Ich zitterte vor Ungeduld. Ich konnte es kaum erwarten, bis sie mich wieder ansah, wieder mit mir sprach, sich bewegte. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt; doch ich wußte, daß ich das nicht durfte.

„Kristin!“ sagte ich laut und flehend. „Sieh mich an! Du mußt mich ansehen! Ich bin’s, Frankie. Komm endlich zu dir, Kristin, bitte!“

Jetzt endlich erwachte sie ganz aus ihrer Betäubung. Mühsam drehte sie den Kopf, versuchte ihn zu heben, ließ ihn aber mit einem Stöhnen wieder ins Gras sinken.

Endlich, endlich öffnete sie auch die Augen und sah mich an. Ihr Blick war so fern, so verwundert. Sie schien nicht zu wissen, wo sie sich befand und was geschehen war.

Hastig sagte ich: „Bleib ruhig liegen! Du bist von der Schaukel gefallen.“ „Von der Schaukel?“ flüsterte sie. „Von welcher Schaukel? Was ist los, Frankie?“

„Aber weißt du es denn nicht mehr? Wir sind im Pfarrhaus, in Schweden, und du wolltest auf dem alten Ding da schaukeln. Ich hab dich gewarnt, aber du hast nicht auf mich gehört, und da ist es passiert – der Ast ist abgebrochen…“

Sie starrte mich an; verständnislos zuerst, doch dann schien die Erinnerung zurückzukehren. Wieder stöhnte sie. „Verdammt! Jetzt weiß ich es wieder! Herrje, mein Kopf tut so weh, und mein Fuß… Was ist mit meinem Fuß los?“

Ich wandte den Blick von ihrem blassen Gesicht ab. Ihr rechter Fuß lag in unnatürlich abgewinkelter Stellung da, und das Fußgelenk wirkte verdreht.

Ich setzte mich ins Gras, weil meine Knie schmerzten, und streifte unendlich vorsichtig ihr Hosenbein zurück.

„Der Knöchel schwillt schon an“, sagte ich. „Ich glaube, du hast dir was gebrochen, Kristin.“

Sie fluchte leise. „Und mein Kopf!“ jammerte sie. „Irgendwas ist mit meinem Kopf!“

„Wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung“, sagte ich.

„Geh ins Haus und hol meinen Vater“, bat Kristin.

Schon richtete ich mich auf, erleichtert, die Verantwortung abgeben zu können. Da fiel mir ein, daß Professor Zetterlund ja weggefahren war. Auf die Möglichkeit, beim Stockholmer Flughafen anzurufen und Kristins Vater ausrufen zu lassen, kam ich in diesem Augenblick nicht. Wieder erschrak ich. Nicht einmal Märta war im Haus – außer uns war niemand hier, kein Mensch weit und breit, an den ich mich um Hilfe wenden konnte. Ich war allein mit der verletzten Kristin.

Fast tonlos sagte ich: „Dein Vater ist weggefahren.“

Unsere Blicke kreuzten sich. Kristin wurde noch eine Spur blasser. Sie schloß die Augen. Ich sah es an ihrem Gesicht, daß sie Schmerzen hatte.

„Du mußt die Ambulanz anrufen“, sagte sie.

„Aber ich kann doch kein Schwedisch!“

Kristin faßte sich an die Stirn und öffnete die Augen wieder. „Ich sehe lauter Blitze und Funken, wenn ich die Augen zumache!“ klagte sie. „Und es ist, als würden Panzer in meinem Kopf herumfahren. Du mußt mir Kopfschmerztabletten bringen, Frankie, ich halte das nicht lange aus!“

„Gleich“, sagte ich. „Zuerst rufe ich die Ambulanz an. Du mußt ins Krankenhaus, Kristin. Wenn ich nur Schwedisch könnte!“

„Versuche erst mal mit Deutsch“, erwiderte sie matt. „Vielleicht verstehen sie dich. Wenn nicht, mußt du englisch reden. Mit Englisch geht es bestimmt. Versuch, ihnen den Weg zu erklären. Und mach schnell!“

Wieder schloß sie die Augen. Ich warf noch einen Blick auf sie, rannte dann quer über den Rasen, zur Terrasse und durch die offene Glastür vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer des Professors.

Es war nicht leicht, inmitten des Durcheinanders von Büchern, Zeitschriften und Papierkram das Telefonbuch zu finden. Als ich es endlich hatte, schlug ich es mit zitternden Fingern auf und hoffte, daß die wichtigsten Telefonnummern auf den ersten Seiten standen.

Da war es – Ambulansen! Ich suchte das Telefon, fand es auf dem Boden zwischen einem Stapel ungeöffneter Briefe und einem Tablett mit schmutzigem Kaffeegeschirr, hob den Hörer und wählte hastig.

Eine quäkende Stimme meldete sich und sagte etwas, was ich nicht verstand. Ängstlich rief ich: „Hallo! Hallo! Sprechen Sie Deutsch, bitte?“ Dann lauschte ich mit angehaltenem Atem.

Die Stimme erwiderte etwas, doch ich verstand noch immer kein Wort. Mein Englisch ist nicht gut, aber jetzt mußte ich es versuchen: „Do you speak English?“

Endlich kam eine verständliche Antwort. „Yes, please, what can I do for you?“

„My friend!“ rief ich in die Sprechmuschel. „My friend had an accident. She fell from…“ Ich stockte, weil ich nicht wußte, was Schaukel auf Englisch heißt, und vervollständigte verzweifelt: „She fell from a tree. She ist hurt… something with her right leg and her head… She has a bad headache, you understand?“

Atemlos verstummte ich. Einen Augenblick lang herrschte Stille. Dann fragte mich die Frau am Telefon, von wo aus ich anrufen würde. „Lilletorp!“ erwiderte ich. „We live nearby Lilletorp, in the…“ Diesmal fiel mir nicht ein, was Pfarrhaus auf englisch heißt, doch dann erinnerte ich mich, wie die Leute das Haus hier nannten. „Prästgården! We live in the Prästgården, at Professor Zetterlund’s. It is about ten minutes walk from Lilletorp, in the woods!“

„Your name?“ fragte die Stimme.

„Frankie Höfer“, erwiderte ich, „and my friend’s name is Kristin Zetterlund. Please hurry!“

„Okay“, kam die Antwort aus dem Hörer. „We’ll find you.“ Dann erhielt ich noch die Anweisung, Kristin nicht zu bewegen, und das Versprechen, daß der Sanitätswagen so bald wie möglich hier sein würde.

Zitternd legte ich den Hörer auf. Der Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich ging ins Badezimmer und suchte in der Hausapotheke nach Kopfschmerztableten. Dann holte ich ein Glas Wasser aus der Küche und lief wieder in den Garten hinaus, zurück zu Kristin, die im Gras unter den Bäumen lag.

Unheimlich

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