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ОглавлениеTrotz meiner Müdigkeit wachte ich mitten in der Nacht auf und konnte lange nicht wieder einschlafen. Doch vielleicht war es gerade die Übermüdung, die mich wachhielt. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. In meinen Armen und Beinen kribbelte es so, daß ich nicht stilliegen konnte.
Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere. Im Bett nebenan schlief Kristin selig. Ich hörte ihre ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge. Im Haus war es sehr still; fast zu still für ein Großstadtmädchen wie mich. Ich war an die vielfältigen Geräusche gewöhnt, die in der Stadt selbst nachts nie ganz verstummen – fernes Verkehrsrauschen, Geräusche aus Nachbarwohnungen, Funkstreifensirenen. Diese Laute waren mir von Kindheit an vertraut, und die ungewohnte Stille beunruhigte mich.
Ich lag im Bett und begann Schafe zu zählen. Als ich bei zweihundertsiebenundzwanzig angekommen war, gab ich es auf. Meine Beine waren so heiß; ich drehte die Bettdecke um, knüllte das Kopfkissen zusammen, legte mich auf die andere Seite. In meinem Kopf kreisten die Gedanken wie ein Mühlrad, das sich nicht anhalten läßt.
Ich konnte einfach nicht zur Ruhe kommen. Im Geist ging ich noch einmal den Weg durch den Wald zum Pfarrhaus, glaubte das Schlingern der Fähre zu spüren und das stundenlange, schier endlose Schaukeln des Busses. Dann dachte ich an Kristins Vater. Er war sehr freundlich zu mir gewesen. Vermutlich erleichterte es ihn, daß ich mitgekommen war und Kristin Gesellschaft leistete.
Ich fragte mich, wie er hier so einsam leben mochte. Freilich hatte er seine Arbeit als Archäologe, die ihm sehr wichtig war, wie ich von Kristin wußte. Doch warum hatte er sich entschlossen, aus Stockholm fort und hierher zu übersiedeln, in ein einsames altes Pfarrhaus im Wald?
Doch irgenwie paßte dieses Haus auch wieder zu Professor Zetterlunds weltfremder Art. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er Abend für Abend über seinen Büchern im Studierzimmer saß und arbeitete. Kristin hatte mir erzählt, daß er auch oft unterwegs war, in Griechenland und Ägypten. Zuletzt hatte er Ausgrabungen in Gotland geleitet, bei denen man auf Wikingersiedlungen gestoßen war.
Professor Zetterlund war sicher ein interessanter Mann, aber irgendwie wirkte er auf mich auch fremd und unnahbar. Das Verhältnis zwischen ihm und Kristin war nicht besonders herzlich. Allerdings sahen sich die beiden ja nur selten, und vielleicht konnte Professor Zetterlund seine Gefühle für seine Tochter einfach nicht zeigen. Er und Kristins Mutter hatten sich scheiden lassen, als Kristin noch ein Baby war; damals war Zetterlund in seine Heimat Schweden zurückgekehrt, und er und Kristin hatten sich nie länger als ein paar Wochen im Jahr gesehen.
Ich wollte mich wieder auf die andere Seite wälzen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und lauschte.
Die Stille im Haus hatte mich beunruhigt. Jetzt wurde sie von einem Geräusch unterbrochen, und das beunruhigte mich noch mehr. Es war sehr leise oder sehr fern, ein Huschen und Tappen wie von bloßen Füßen.
Das Geräusch verstummte, noch ehe ich Zeit hatte, genauer hinzuhören. Eine Weile herrschte völlige Stille. Dann erklang ein sachtes Schleifen, als würde irgendwo tief im Haus ein Gegenstand über die Dielen gezerrt.
Ich hielt den Atem an. Das schleifende Geräusch wurde schwächer und verklang schließlich ganz. Es hörte nicht plötzlich auf; vielmehr war es so, als würde sich derjenige, der das Geräusch verursachte, immer weiter entfernen.
Mit klopfendem Herzen lag ich da und starrte zum Fenster. Hinter den dunklen Scheiben zeichneten sich die noch dunkleren Umrisse eines Baumes ab. Nun war alles wieder totenstill wie zuvor.
Nur langsam wich meine Erregung. Ich dachte, daß es wohl eine natürliche Erklärung für die Geräusche gab. Möglicherweise war Kristins Vater aufgestanden und hatte irgend etwas ganz Harmloses getan.
Ich stützte mich auf den Ellbogen und sah zu Kristin hinüber. Ihr Gesicht war im Dunkeln verborgen, doch ihre Atemzüge klangen unverändert gleichmäßig. Sie schlief friedlich und hatte nichts von allem gehört.
Ich sagte am nächsten Morgen kein Wort von den nächtlichen Geräuschen – weder zu Kristin noch zu Professor Zetterlund. Erstens fürchtete ich, mich lächerlich zu machen, und zweitens war ich bei hellem Tageslicht selbst überzeugt, daß alles eine ganz natürliche Ursache haben mußte. Vielleicht waren einfach Mäuse im Haus oder Siebenschläfer auf dem Dachboden. Schließlich stand das Pfarrhaus mitten im Wald, da gab es wohl allerhand heimliche Bewohner.
Kristins Vater hatte schon gefrühstückt und unsere Koffer aus dem Dorf geholt, als wir auftauchten. Er saß noch mit der Morgenzeitung am Tisch, begrüßte uns und fragte, wie wir geschlafen hätten.
Professor Zetterlund sprach ein überraschend akzentfreies Deutsch, was ich darauf zurückführte, daß er fast zehn Jahre in Deutschland gelebt hatte. Später stellte ich fest, daß es viele Schweden gibt, die sehr gut deutsch sprechen.
Die Haushälterin des Professors konnte jedoch kein Wort Deutsch. Sie war eine kräftige Frau mit dünnen blonden Haaren und wasserblauen Augen, sie hieß Märta. Zum Frühstück brachte sie uns Kaffee; sie hatte auch frisches Brot aus dem Dorf mitgebracht. Ihre Miene verriet nicht, ob sie sich über unseren Besuch freute oder ob sie uns für eine lästige Mehrbelastung hielt.
„Was hat sie eben gesagt?“ fragte ich Kristin, als Frau Märta und Professor Zetterlund das Zimmer verlassen hatten.
„Ach, das übliche. Daß sie hofft, daß wir uns hier wohl fühlen“, sagte Kristin mit vollem Mund.
„Wohnt sie auch im Pfarrhaus?“ fragte ich.
„Ich glaube nicht. Vermutlich lebt sie in Lilletorp. Als du im Bad warst, habe ich sie mit dem Fahrrad hier ankommen sehen.“
Frau Märta war also jedenfalls vergangene Nacht nicht durch die Gänge getappt. Ich dachte, daß Professor Zetterlund vielleicht eine in einen Teppich gewickelte Mumie durchs Haus geschleppt und in ein geheimes Untersuchungslabor gebracht hatte, und konnte mir nur mit Mühe das Lachen verbeißen.
„Was grinst du so?“ fragte Kristin mißtrauisch.
Ich sagte: „Ach, mir ist nur gerade etwas eingefallen.“ Und ehe Kristin weitere Fragen stellen konnte, fügte ich hinzu: „Was machen wir heute?“
Sie seufzte. „Du, das hab ich mir auch schon überlegt. Gibt’s hier überhaupt etwas zu tun?“
„Wir könnten einen Waldspaziergang machen und Pilze suchen“, schlug ich ohne große Begeisterung vor.
Kristin stieß ein Schnauben aus. Ich fuhr fort: „Oder wir könnten uns im Dorf noch ein bißchen umsehen.“
„Das können wir, aber es dauert bestimmt keine Stunde, dann kennen wir jedes Haus. Und was machen wir dann?“
„Keine Ahnung“, sagte ich. „Was macht man so in Schweden?“
„Oh, in den Städten gibt’s vieles, was interessant ist. In Stockholm zum Beispiel gibt’s einen Vergnügungspark, der Gröna Lund heißt, und…«
Ich unterbrach sie. „Wir sind aber nicht in Stockholm.“
„Dann fahren wir eben mal hin!“
„Nein, danke“, sagte ich. „Fürs erste hab ich genug von der Fahrerei. Mir wird jetzt noch ganz schlecht, wenn ich nur an einen Bus denke.“
„In ein paar Tagen“, prophezeite Kristin, „hast du schon alles wieder vergessen. Und Uppsala mußt du unbedingt auch kennenlernen. Das ist hübsch, sage ich dir! Ein schwedisches Heidelberg, sozusagen. Komm, sehen wir uns erst mal das Haus an.“
Ich war einverstanden. Alte Häuser hatten schon immer eine besondere Anziehung auf mich ausgeübt, und dieser Pfarrhof war bestimmt mehr als zweihundert Jahre alt. Wir brachten unser Kaffeegeschirr in die Küche, wo Frau Märta gerade die Fenster putzte.
Es war eine ziemlich kahle Küche, blitzsauber zwar, aber nicht besonders anheimelnd. Eine Wand war von oben bis unten weiß gekachelt, und über dem Holztisch hing eine Lampe, die wie ein Nachttopf ohne Henkel aussah.
Dafür gab es ein hübsches Wohnzimmer mit abgewetzten Ledermöbeln und einer Terrassentür, hinter der man ein Stück des verwilderten Gartens sah. Eine Steinfigur stand zwischen den Bäumen. Auf den Stufen, die zum Rasen führten, wuchs Moos.
Kristin schaltete den Fernseher ein, aber er ging nicht. „Typisch!“ murmelte sie.
Ich warf einen Blick auf die Schallplattensammlung im Schrank. Kristin beugte sich über meine Schulter.
„Nichts als klassische Musik“, sagte sie düster, ließ sich dann in den Ohrenbackensessel fallen, der am Fenster stand, und streckte die Beine aus. Der Wind trug den Duft von Tannen und Harz durch die offene Terrassentür. Die Bäume rauschten. Vielleicht, dachte ich, hatte Professor Zetterlund doch gewußt, was er tat, als er von Stockholm hierher übersiedelt war.
„Komisch, diese holzgetäfelten Wände!“ sagte Kristin in meine Gedanken hinein. „Hast du bemerkt, daß die Seitenwände im Eßzimmer und im Wohnzimmer ganz mit Holz verkleidet sind? Ob’s hier so was wie ein Priesterversteck gibt?“
Sie stand auf, ging zur Wand und klopfte mit dem Fingerknöchel gegen das dunkle Holz.
„Ein Priesterversteck?“ wiederholte ich und starrte sie an. „Was soll denn das sein?“
„Ach, ich weiß nicht, ob’s hier in Schweden Priesterverstecke gegeben hat. In England war das jedenfalls früher üblich. Zumindest hab ich’s gelesen. Ich glaube, es hat was mit Glaubensverfolgung zu tun. Irgendwann wurden bestimmte Religionen von der Regierung oder vom König nicht geduldet, und die Priester wurden verfolgt. Also mußten sie sich verstecken. Dazu gab’s Wandschränke mit Geheimtüren, Geheimgänge und kleine Räume hinter Wandvertäfelungen, in die sich die Priester verkrümeln konnten, wenn es brenzlig wurde. Interessant, wie?“
„Ja, sehr“, sagte ich. „Davon hab ich noch nie etwas gehört. Und du meinst, daß es hier im Haus so was geben könnte?“
„Warum nicht?“ Kristin klopfte gegen eine andere Stelle der Vertäfelung. „Immerhin sind die Wände paneeliert, oder wie man da sagt. Hinter einer dieser viereckigen Füllungen könnte vielleicht ein Hohlraum sein.“
Das leuchtete mir ein. Ich fing auch an zu klopfen, denn wie Kristin war ich der Meinung, daß man es am Klang hören mußte, falls es hinter der Vertäfelung irgendwo hohl war. Da wir im Augenblick sowieso nichts Besonderes vorhatten, war das eine angenehme Abwechslung.
Als wir eine Weile geklopft hatten, tat sich die Tür auf, und Märta erschien. Sie sagte etwas, und Kristin hörte auf zu klopfen und gab Antwort. Daraufhin machte die Haushälterin ein seltsames Gesicht, äußerte noch etwas und verschwand aus dem Wohnzimmer.
„Was hat sie gesagt?“ fragte ich.
„Daß wir mit dem Klopfen aufhören sollen, weil es meinen Vater bei der Arbeit stören könnte“, erwiderte Kristin. „Außerdem hat sie gefragt, warum wir das machen, und ich habe ihr erklärt, daß wir nach einem Priesterversteck suchen.“
„Deshalb hat sie so ein merkwürdiges Gesicht gemacht. Sie hält uns wahrscheinlich für verrückt.“
„Hm, ich weiß nicht. Jedenfalls hat sie dann noch gesagt, von einem Priesterversteck wüßte sie nichts, aber in diesem Haus wäre alles möglich.“
Das war eine ungewöhnliche Bemerkung. Wir zerbrachen uns eine Weile den Kopf, wie Märta das gemeint haben konnte.
„Klingt fast, als würde es hier spuken“, sagte ich nach einigem Hin und Her.
Kristins Gesicht hellte sich auf. „Spitze!“ sagte sie entzückt. „Dann wäre wenigstens etwas los. Ich dachte schon, wir verkümmern hier vor Langeweile.“
Nach so einer Art von Abwechslung sehnte ich mich keineswegs. „So darfst du nicht reden, Kristin!“ sagte ich streng. „Ich hab nichts gegen Horrorfilme, aber ich bin durchaus nicht wild darauf, meine Ferien in einem Spukhaus zu verbringen. Da hört für mich der Spaß auf, das kann ich dir sagen!“
Kristin lachte. „Unsinn, Frankie. Du weißt doch genau, daß es keine richtigen Gespenster gibt. Aber es könnte doch sein, daß hier irgend jemand aus der ländlichen Bevölkerung meinen Vater vergraulen will und im Pfarrhaus herumgeistert. Dann könnten wir die Sache aufklären und hätten ein Abenteuer.“
„Ich verzichte auf solche Abenteuer“, sagte ich. „Außerdem, wer sollte deinen Vater von hier vergraulen wollen? Er lebt doch ganz friedlich vor sich hin und tut keinem etwas zuleide.“
„Es gibt Bauern, die mögen keine Fremden in ihrer Gegend“, behauptete Kristin. „Also hör mal, Frankie, ich sage dir folgendes: Ich werde mich in den nächsten Tagen mal ganz harmlos an Märta heranmachen und sie ein bißchen aushorchen. Vielleicht kriege ich sie dazu, daß sie etwas ausplaudert.“
Ich hatte ganz das Gefühl, daß Kristins Phantasie wieder einmal mit ihr durchging. Doch die Sache hatte sie aufgemuntert, das sah ich an ihren rosigen Backen und ihren glänzenden Augen.
„Na gut. Aber wenn hier wirklich jemand herumgeistert, will ich nichts davon wissen!“ sagte ich.
Kristin erwiderte: „Wenn’s um Spuk geht, kann man sich nicht heraushalten.“
Ich sollte bald begreifen, daß sie recht hatte.