Читать книгу Unheimlich - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 15
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ОглавлениеSten und Magnus waren nicht zu Hause. Stens Mutter sagte etwas von einer Werksbesichtigung, zu der die beiden mit ihrer Klasse gefahren waren, und versprach, Sten bei seiner Rückkehr auszurichten, daß er uns im Pfarrhaus anrufen solle.
Als wir auf die Hauptstraße von Lilletorp kamen, hupte es plötzlich hinter uns. Es war Kristins Vater in seinem blauen Volvo.
„Ich lade euch zu einem Eis ein“, sagte er. „Wenn euch das mit mir altem Kerl nicht zu langweilig ist, natürlich.“
Wir sagten, daß wir uns sehr gern zu einem Eis einladen ließen, obwohl unsere Bäuche noch voll von den Waffeln waren. Dann setzten wir uns auf die Korbstühle vor dem Krogen und bekamen zwei große Eisbecher mit Sahne und Fruchtsalat.
Professor Zetterlund war in ungewöhnlich redseliger Stimmung. „Ich habe eine ganze Kiste voller Bücher mitgebracht“, sagte er. „Ausländische Fachbücher sind hier in der Provinz nicht leicht zu bekommen. In Stockholm war das etwas anderes; da hatte ich einen Buchhändler, der konnte alles für mich auftreiben. Aber ich kann nicht jedesmal eigens nach Stockholm fahren, um…“
Kristin unterbrach ihn. „Weshalb bist du eigentlich von Stockholm weggezogen, Vater?“ fragte sie. „Ich verstehe das nicht. Du hattest da doch eine prima Wohnung, und hier ist wirklich nichts los. Ich würde nie in so ein einsames altes Haus im Wald ziehen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.“
Er erwiderte: „Für mich ist die Einsamkeit ein Vorzug – ich kann hier ungestört arbeiten und fühle mich sehr wohl.“ Doch ich fand, daß die Antwort ausweichend klang.
Er rückte an seiner Brille. Kristin sah ihn an und widersprach: „Aber deine Wohnung in Stockholm war doch auch sehr ruhig!“
„Ruhig?“ sagte er. „Dauernd ging das Telefon. Vor allem nach dem Diebstahl der Ausgrabungsstücke hatte ich keine Ruhe mehr vor den Reportern. Sie belagerten mich wochenlang. Jetzt weiß kaum jemand meine neue Adresse. Hier bin ich sicher vor all den Leuten, die mich von der Arbeit abhalten und belästigen.“ Er stockte. „Außerdem ist zuletzt mehrmals bei mir eingebrochen worden.“
„In deiner Stockholmer Wohnung?“ fragte Kristin erstaunt.
Ihr Vater nickte. „Ja. Irgend jemand bildete sich wohl ein, ich hätte eine Menge Geld in der Matratze versteckt oder so.“
Er lachte, aber ich merkte, daß er die Sache gar nicht lustig fand. „Nicht sehr angenehm, wenn man immer befürchten muß, seine Wohnung durchwühlt vorzufinden, sobald man für ein paar Tage verreist. Hier kann ich in Ruhe leben und arbeiten.“
Ich fragte: „Ist denn etwas aus Ihrer Stockholmer Wohnung gestohlen worden?“
Er musterte mich nachdenklich. „Nein, eigentlich nicht. Ich habe ja keine Kostbarkeiten um mich angehäuft, weder größere Geldsummen noch Schmuck oder Antiquitäten. Es lohnt sich wirklich nicht, bei mir einzubrechen. Trotzdem hat man es viermal versucht.“
„Viermal!“ rief Kristin. „Davon hast du mir ja gar nichts geschrieben! Meinst du, daß es immer die gleichen Leute waren – daß sie etwas Bestimmtes bei dir gesucht haben?“
„Keine Ahnung“, sagte Professor Zetterlund zögernd. „Ein Kollege meinte einmal, die Einbrecher könnten es auf Dokumente über bestimmte Ausgrabungsstätten abgesehen haben, aber das glaube ich nicht. Damals gab es in Stockholm eine regelrechte Einbruchswelle, und es waren mehrere Banden am Werk, wie man mir bei der Polizei sagte.“
„Du hättest dir eben eine Alarmanlage einbauen lassen müssen“, meinte Kristin.
„Unsinn! Bei mir gibt es nichts zu holen, da brauche ich auch keine Alarmanlage. Solche Geräte lohnen sich nur für reiche Leute. Ich bin schießlich nur ein Archäologe mit mittelmäßigem Einkommen.“ Und er lachte leise.
„Immerhin hast du dich von den Einbrechern aus deiner Wohnung vertreiben lassen“, beharrte Kristin.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. „O nein, ich habe doch eben gesagt, daß es mir vor allem darum ging, meine Ruhe zu haben. Und die habe ich hier wirklich.“
Ich sah auf die Straße, wo ein lustiger kleiner Hund einer Fliege nachjagte, und dachte, daß der Professor schon einen sehr festen Schlaf oder besonders wirksame Schlaftabletten haben mußte, um das Pfarrhaus für einen ruhigen und friedlichen Ort zu halten.
„Gefällt dir denn mein Haus nicht?“ fragte Professor Zetterlund, zu Kristin gewandt.
Sie machte ein unbehagliches Gesicht. „Ich kann einfach nicht verstehen, wie man freiwillig in so ein verlassenes Haus ziehen mag“, erwiderte sie nach einer Weile ausweichend.
Ihr Vater seufzte. „Na ja, du bist eben ein Stadtmensch, genau wie deine Mutter. Ich wollte schon als Kind immer gern auf dem Land leben.“
Ein Herr in dunklem Anzug kam vorbei. Er zog den Hut und grüßte den Professor höflich, und dieser grüßte zurück.
„Hier kennt dich doch auch jeder“, sagte Kristin. „Wie kannst du da glauben, daß kaum jemand deine neue Adresse weiß?“
„So berühmt bin ich nun auch wieder nicht. Die Leute hier wissen nur, daß ich mich mit Ausgrabungen beschäftige, mehr nicht. Von meinen Büchern hat kaum jemand eine Ahnung. Sie halten mich wohl für ein bißchen verschroben, sind aber trotzdem sehr freundlich.“
„Sicher halten sie dich für verschroben – schon allein deswegen, weil du das Pfarrhaus gekauft hast“, murmelte Kristin unerwartet. „Vor dir wollte es ja keiner haben. Schließlich hält es hier jeder für ein Spukhaus.“
Ich hob den Kopf und verschluckte mich fast an einer Kirsche. Professor Zetterlund aber lächelte nur gelassen und nickte. „Ja, zum Glück. Deshalb habe ich das Haus auch spottbillig von der Gemeinde bekommen. Ein wahrer Glückskauf – dieses wunderschöne alte Haus mit dem herrlichen Garten hätte ich mir unter normalen Umständen nie leisten können!“
Ich stöhnte innerlich. „Wenn die Leute aber recht haben, Vater?“ fragte Kristin. „Wenn’s im Pfarrhaus wirklich spukt?“
Was hatte sie vor? Wollte sie ihrem Vater nun doch erzählen, was vorgefallen war – entgegen unserer Abmachung?
Ich starrte den Professor an. Er rückte seine Brille gerade und sagte in belehrendem Tonfall: „Es gibt einen Wissenschaftszweig, der sich mit Erscheinungen befaßt, die man im Volksmund als Spuk bezeichnet. Ein interessantes Gebiet, vor allem, weil es so eng mit alten Ritualen, Tabus und archaischem Geisterglauben zusammenhängt. Allerdings muß ich sagen, daß ich selbst nicht viel von Parapsychologie halte. Das hängt wohl mit meinem Beruf zusammen. Ich spüre zwar auch verborgenen Dingen nach, deren Vorhandensein zum Teil nur noch in Sagen und Legenden belegt ist – versunkene Schiffe, längst vergessene Städte und Siedlungen, Gräber und Kultstätten. Doch bei mir lassen sich meist recht handfeste Beweise für diese Dinge finden, wenn man nur lange und sorgfältig genug sucht. Bei der Parapsychologie ist das etwas anderes. Man ist da immer auf Vermutungen angewiesen. Greifbare, unwiderlegbare Beweise gibt es nicht.“
Er machte ein zufriedenes Gesicht. Im Klartext hieß das also, daß Professor Zetterlund nicht an Spuk glaubte, und daß es deshalb seiner Meinung nach im Pfarrhaus auch nicht spuken konnte. So einfach war das. Ich war jetzt ganz sicher, daß es keinen Sinn gehabt hätte, ihm von meinen Wahrnehmungen zu erzählen. Es wäre mir wohl nie gelungen, ihn zu überzeugen. Vermutlich hätte er es höchstens recht interessant gefunden, bei einem jungen Menschen wie mir auf einen „archaischen Geisterglauben“ zu stoßen, der so tief verwurzelt war, daß ich mir sogar einbildete, Geräusche zu hören und Traumgesichte zu haben.
Magnus’ Großmutter fiel mir ein. Sie hätte mir geglaubt – sie wäre sicher nur zu bereit gewesen, mir zu glauben. Doch auch das widerstrebte mir. Was ich brauchte, war weder jemand, der alles von vornherein nur für Einbildung hielt, noch jemand, der ungefragt alles hinnahm, was ich sagte. Was brauchte ich überhaupt? Einen Menschen vielleicht, der mit derartigen Erscheinungen Erfahrung hatte, der mir half, meine Verwirrung zu lösen, und mir begreiflich machen konnte, was im Pfarrhaus wirklich vor sich ging? Aber gab es überhaupt jemanden, der solche Vorgänge erklären und begreifen konnte?
Ich aß meinen Eisbecher nur zur Hälfte leer. Mir war von innen heraus kalt, obwohl die Sonne schien. Ein Straßenmusikant mit einer Ziehharmonika tauchte auf, kam näher, blieb vor dem Krogen stehen und begann uns etwas vorzuspielen.
Es war eine schöne, schwermütige Melodie. In den umliegenden Häusern wurden Fenster und Türen geöffnet. Männer, Frauen und Kinder kamen in ihre Vorgärten und auf die Straße und hörten zu.
Der Musikant war ein alter Mann mit weißen Locken und einem dichten Bart. Er sah wie eine Sagengestalt aus, ein alter Wikinger oder ein Krieger aus einer Heldensage. Während er spielte, sah er mich plötzlich an, und mir war, als hätte ich diese klaren, eisblauen Augen schon einmal gesehen – irgendwo, vor langer Zeit.
Dann begann er zu singen. Seine Stimme war dunkel und volltönend, manchmal schon ein wenig zittrig. Ack Värmeland, du sköna, du härliga land, sang er. Ich verstand die Worte nicht, doch der Gesang und die Melodie klangen so schön und wehmütig, daß ich am liebsten geweint hätte.
Als der alte Mann verstummte, klatschten die Leute. Ein kleiner Junge sammelte Münzen ein und brachte sie dem Sänger. Der bedankte sich würdevoll. Als Professor Zetterlund aufstand und ihm einen Geldschein in die Hand drückte, verbeugte er sich.
„Was hat er gesungen?“ fragte ich Kristin, ohne den Blick von dem alten Mann zu wenden.
„Ein altes Lied“, sagte sie. „Ein Lied über Värmland, einen mittelschwedischen Regierungsbezirk. Es fängt so an: Ach Värmland, du schönes, du herrliches Land, du Krone unter Schwedens Ländern.“
Ich nickte nur. Noch immer wandte ich den Blick nicht von dem weißhaarigen Sänger. „Er sieht wie eine Sagengestalt aus“, sagte ich.
Jetzt begann er wieder zu spielen – eine Tanzmelodie diesmal. Ein paar Kinder faßten sich an den Händen und hopsten auf der Straße herum, ein junges Paar drehte sich im Kreis, alte Leute klatschten im Takt.
Das Gesicht des Professors strahlte, als er sich wieder zu uns setzte. „Einer der letzten Barden“, sagte er. „Sie sind fast schon ausgestorben.“ Dann war der Tanz vorüber, und er bat den Musikanten zu uns an den Tisch und bestellte Kaffee und Gebäck für ihn.
Der weißhaarige Alte war ein gebildeter Mann. Er sprach sehr gepflegtes Deutsch, das fast akzentfrei war, und erzählte, daß er früher als Lehrer auf Island gelebt hatte. Jetzt zog er durch ganz Skandinavien und machte Musik.
„Meine Frau und mein Sohn sind vor ein paar Jahren ums Leben gekommen“, sagte er. „Da hat es mich zu Hause nicht mehr gehalten.“
„Waren Sie auch in Deutschland?“ fragte ich. „Ich… mir ist so, als hätte ich Sie schon einmal gesehen.“
„In Deutschland war ich auch, ja“, erwiderte er. „Das ist lange her, sehr lange. Aber vielleicht kennen wir uns auch von anderswoher – es gibt nicht nur dieses eine Leben…“ Er verstummte, lächelte und sah mich nachdenklich an.
Ich verstand nicht recht, was er meinte. Professor Zetterlund sagte: „Dann glauben Sie also, daß es so etwas wie Wiedergeburt gibt?“
„O ja, sicher!“ sagte der alte Mann wie selbstverständlich. „Wir kommen nicht aus dem Nichts, wir sind nur Glieder in einer langen Kette. Eine Kette, die sich ewig erneuert, die das Wissen und das Schicksal von vielen Menschenaltern speichert. Das Vergangene ist in uns, wir haben nur nicht mehr den Blick, um es zu sehen – die meisten jedenfalls nicht, bis auf einige wenige.“
Er verstummte, und wieder sah er mich an. Ich spürte plötzlich, wie ich zu zittern begann. Es war, als hätte er etwas in mir erkannt, was ich selbst nicht wahrhaben wollte, eine Gabe vielleicht, eine Art Wesensverwandtschaft zwischen ihm und mir. Ich fühlte mich zugleich abgestoßen und angezogen, wollte gehen und doch bleiben.
Weder Professor Zetterlund noch Kristin schien etwas von meiner Verwirrung zu merken. Der Professor fand alles, was der alte Musikant sagte, „sehr interesssant“; und während die Leute sich zerstreuten, bekam der Fremde seinen Kaffee mit bullar, einer Art schwedischem Schmalzgebäck, nickte mir noch ein paarmal zu und lächelte schweigend.
Ich war froh, als er schließlich ging – froh und traurig zugleich. Wir sahen ihm nach, wie er zur Straßenecke ging. Dort nahm er seinen Rucksack auf und wanderte in Richtung Landstraße, und sein weißes Haar leuchtete in der Sonne.