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Lebensverhältnisse in der Zwischenkriegszeit – Krisen und Aufbau
ОглавлениеDie Bauern waren bemüht, über den Eigenbedarf hinaus auch für den Markt29 zu produzieren, vor allem in den südlicheren Gebieten des Landes, und in den Talböden war der Ertrag auf Grund des milderen Klimas und der besseren Bodenbeschaffenheit größer. Obst und Wein waren schon damals wichtige Exportartikel. Wie ertragreich die Ernten ausfielen, war auch abhängig von der Witterung. Hagelschläge und Überschwemmungen konnten eine ganze Ernte vernichten. Seuchen bei den Haustieren konnten einen Viehstall leeren. Selbst wenn in guten Jahren Überschüsse erwirtschaftet wurden, war der Absatz keineswegs gesichert. Nachdem die 20er Jahre einen allgemeinen Aufschwung gebracht hatten, verschlechterte sich die Absatzlage Anfang der 30er Jahre infolge der Weltwirtschaftskrise drastisch. Judith Kobler aus Prad schrieb 1931 in einem Brief an ihre Schwester Rosa, die in Florenz bei einer jüdischen Familie in Stellung war: „(…) überhaupt jezt da anfangen eine große Geldnot wird das Vieh hat keinen Abgang, die Schweine um 25–30 Lire sind fast nicht fortbringen und mit dem andern Vieh geht es auch abwärts und was der Bauer hat das meiste Butter ist in der Sennerei 13.50 und in andere Orten bekomme man ihn um 11 Lire.“30 Viele verschuldeten sich. Maria Wunderer schildert die Situation: „Die 30er Jahre waren arme Jahre, kein Geld war da, und alles hatte keinen Wert, es gab keine Arbeit. Es gab Familien, die viele Kinder hatten und gezwungen waren, ein Haus zu bauen. Man musste Bürgen suchen, dass man bei den Kassen Geld bekam, aber die meisten brachten das Geliehene nicht auf, um es zurückzahlen zu können, und die Bürgen mussten zahlen, auch wenn sie selber auf die Straße kamen. Mein Vater hatte auch ein Sägewerk. Arbeit war schon, aber die Leute hatten kein Geld, um zu zahlen, und Vater musste den Sägeschneider auch bezahlen.“ Rückgang der Preise, Hypothekarverschuldungen und ein gleichzeitiger Anstieg des Steuerdrucks führten zu Zwangsversteigerungen von landwirtschaftlichen Betrieben.31 So verloren die Eltern von Maria Girardi aus Tramin ihren gesamten Besitz. Dasselbe Schicksal ereilte die Familie der Schwestern Gius aus Kaltern, die einen größeren Bauernhof in Kaltern besessen hatte. Nachdem der Vater eine Bürgschaft übernommen hatte, musste er für den Schuldner, der den Zahlungen nicht mehr nachkam, einstehen. Die Eltern von Flora Müller aus Naturns sahen sich gezwungen auszuwandern: „1930, als ich drei Jahre alt war, sind meine Eltern von Südtirol nach Nordtirol abgewandert. Mein Vater war Wagenmeister, der hatte einen eigenen Betrieb gehabt. Aber in den 30er Jahren waren die Zeiten so schlecht, die Leute konnten nicht mehr zahlen, es gab einfach kein Bargeld mehr. Die Leute haben Eier gebracht oder Milch, aber es gab kein Geld. Ein Freund von meinem Vater hat ihm dann die Stelle in Wörgl vermittelt, 1929 ist er hinausgegangen, ein Jahr später hat er seine Familie nachgeholt.“ Im oberen Vinschgau und im Pustertal zogen auf Grund der großen Not während der 30er Jahre viele Frauen bettelnd durch die Dörfer.32
Nicht nur wirtschaftliche Krisen, sondern auch familiäre Schicksalsschläge versetzten die Familien in bittere Notlagen. Viele unserer Gesprächspartnerinnen erzählen vom Verlust eines Elternteils. Beim Überschreiten der Schweizer Grenze fand der Vater von Hedwig Platter aus Prad unter einer Lawine den Tod. Er hinterließ acht Kinder, das neunte war unterwegs, und einen Berg Schulden bei der Bank für das neu erbaute Haus. Hedwig war damals 15 Jahre alt. Das Haus wurde versteigert, die Kinder mussten bei Bauern in Dienst gehen, nur die Kleinsten blieben bei der Mutter.
Der Vater von Johanna Wallnöfer aus Prad verstarb kurz vor ihrer Geburt. Die Mutter musste sieben Kinder allein versorgen. Die dreijährige Rebekka Rungg verlor ihre Mutter bei einem tragischen Unfall, als diese mit dem siebten Kind schwanger war. Der Vater, „ein sehr strenger Mann“, sorgte für ausreichend Essen, für die Hausarbeiten war eine Tante zuständig: „Es war immer ein Elend. Die Tante war schon gut zu uns, aber sie war nicht Mutter. Wir haben immer nur fest arbeiten müssen. Zu essen hatten wir schon. Wir hatten eine größere Bauernschaft. Wir hatten immer zwei Rösser und drei, vier Kühe. In der Sennerei haben wir jeden Monat Butter bekommen, so große Knollen Butter, dass wir nicht wussten wohin damit. Wir haben auch immer geschlachtet. Zu essen war genug da, aber sonst hat es hinten und vorn gefehlt.“ Die Mutter von Hedwig Wieser, ebenfalls aus Prad, verstarb an einem Lungenleiden, als das jüngste ihrer zehn Kinder zehn Jahre alt war. Der Vater besaß eine bescheidene Landwirtschaft und betätigte sich als Schneider. Vor Kriegsausbruch hatte er ein Haus mit Wirtschaftsgebäude erworben. Er musste Tag und Nacht arbeiten, um den Zahlungen nachzukommen.
In der Zwischenkriegszeit gab es in Südtirol zwar eine rege Bautätigkeit, technische Neuerungen in größerem Umfang hielten aber nur zögernd Einzug. Wenn in den Haupttälern auch schon Züge und Busse verkehrten, blieben abgelegene Dörfer und Berghöfe weiterhin ausschließlich zu Fuß oder mit Pferdefuhrwerk erreichbar. Nur äußerst wenig Leute auf dem Land konnten sich ein Auto anschaffen. Maschinen kamen in der Landwirtschaft nur in den Haupttälern und da vor allem im Etschtal zum Einsatz33. Die meisten Feld-, Stall- und Hausarbeiten wurden weiterhin traditionell von Hand erledigt, waren meist mühsam und langwierig und erforderten je nach Größe des Hofes ein großes Aufgebot an Arbeitskräften. Die Frauen kochten noch vielfach auf offenem Holzherd in einer Küche, die auch zum Selchen von Speck und Würsten diente. In vielen Häusern gab es noch kein fließendes Wasser, es musste beschwerlich außerhalb des Hauses geholt werden. Die Wäsche wurde auch im Winter im vereisten Bach geschwenkt. Ein Badezimmer war auf einem Hof eine Seltenheit, man wusch sich in der Küche. Zum Baden – was selten genug erfolgte – diente ein Waschzuber, das warme Wasser musste für mehrere Personen reichen. Beheizt waren im Winter nur die Küche und die Stube. Die Schlafräume waren eiskalt, vor allem in den Schlafräumen im Dachboden sank die Temperatur oft unter den Gefrierpunkt. Edith Genta über die bescheidene Ausstattung der Schlafräume: „Meine Schwester und ich haben in einem Zimmer auf Strohsäcken geschlafen. Wir haben immer vom Mais das Laub genommen, die anderen haben Stroh von Weizen oder Gerste benutzt. In der Mitte vom Sack war ein Schlitz, und da hat man das Stroh aufgelockert. Zum Zudecken hatten wir ein Federbett und eine Decke, der Polster war auch mit Federn. Als der Onkel, ein Schwager von der Mutter, im Haus war, hat er Matratzen für uns gemacht.“
„Das war ein Jubel“, erinnert sich Regina Walcher aus Eppan an den Anschluss an das Stromnetz. „Das elektrische Licht wurde am 21. Februar 1921 gemacht. Da brauchte es keine Petroleumlampe mehr mit dem Zylinder, den wir Kinder oft kaputt gemacht haben. Das war ein armseliges Licht.“ Auch wenn die Elektrifizierung der Haushalte bald nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einsetzte, konnten es sich kaum jemand leisten, mit Strom betriebene Geräte anzuschaffen. Ein Radiogerät besaßen nur die wenigsten Familien.34 In den Häusern, wo es eines gab, versammelte sich die gesamte Nachbarschaft, um gemeinsam Sendungen anzuhören. Eine noch größere Rarität war das Grammophon, und über Telefon und Telegraphen verfügten nur die großen Gasthöfe.
Kleider stellten die Frauen noch vielfach in Handarbeit her, und sie waren keineswegs im Überfluss vorhanden. Während der Woche trugen Männer und Frauen Arbeitskleidung, die oft abgetragen und geflickt war. Dazu gehörte immer eine Schürze. Es war die Regel, dass kleinere Kinder die Kleidung der größeren auftrugen. Rebekka Rungg, nach dem frühen Tod der Mutter von einer Schwester des Vaters in Obhut genommen, bemängelt: „Die Tante hat auch nicht verstanden, dass sie uns etwas zum Anziehen besorgen sollte. Wir haben von der Mutter viele Kleider gehabt, dann hat sie die hergenommen und daraus Gewänder für uns machen lassen. Aber sonst hat es nichts gegeben.“ Kinder aus armen Familien wie Josefa Brunner aus Prad gingen noch barfuß zur Schule. Regina Walcher zum damals üblichen Schuhwerk: „Mit den Schuhen war es ganz schlimm. Statt der Schuhe hatten wir Holzknospen, die Sohle war aus Holz, der obere Teil aus ganz hartem Leder.“
Die traditionelle Tracht der jeweiligen Gegend hatte in diesen Jahren hohen Identitätswert für die deutsche Volksgruppe. Man zog sie zu festlichen Anlässen an. Mädchen und Frauen trugen die Haare zu Zöpfen geflochten und hochgesteckt. Modische Kleidung wurde vor allem von der älteren Generation und von der Kirche heftig abgelehnt, kurze Röcke, lackierte Fingernägel und Bubikopf galten als unanständig. In einer Anzeige der Dolomiten vom 18. März 1927 wurde ein verlässliches Hausmädchen für einen Südtiroler Haushalt ausdrücklich mit dem Hinweis „Bubikopf ausgeschlossen“ gesucht. Die Ablehnung ging so weit, dass Fürstbischof Johannes von Brixen in einem 1926 im Diözesanblatt veröffentlichten Hirtenbrief die Priester in den Pfarreien aufforderte, „bei Spendung der heiligen Kommunion jene Mädchen und Frauen zu übergehen, (…), deren Kleid nicht bis zur Halsgrube, deren Ärmel nicht über den Ellenbogen und deren Rock nicht über das Knie hinunter reichen“.35 Die neue Mode wurde auch als Mode der „Fremden“ und nicht zuletzt als italienisch identifiziert, weil es vor allem zugezogene Italienerinnen waren, die Modebewusstsein an den Tag legten. Ein Grund mehr, sich davon zu distanzieren.36 Auf diesen Umstand wies auch der oben zitierte Hirtenbrief hin: „Die heutige Frauenmode ist nicht auf unserem Boden gewachsen, die ‚Fremden‘ haben sie vielfach ins Land gebracht.“ Unter ‚Fremde‘ verstand man neben den zugezogenen Italienern auch die Feriengäste.
Die schwere körperliche Arbeit erforderte regelmäßige Mahlzeiten: Frühstück, Halbmittag, Mittag, Marende und Nachtmahl. Es war schwere Kost, die sich vor allem aus dem zusammensetzte, was selbst produziert wurde und in der jeweiligen Gegend gedieh: Milch und Milchprodukte, Eier, Mehl, Kartoffeln, Polenta, Speck und anderes Geselchtes sowie Gemüse und Obst aus eigenem Anbau. Geschlachtet wurde ein-, zweimal im Jahr, sodass nicht regelmäßig Fleisch auf den Tisch kam. Meist geschah das nur zu besonderen Anlässen und an Sonn- und Feiertagen. Zucker, Bohnenkaffee, Reis und andere Lebens- und Genussmittel, die man nicht selbst hatte, wurden dazugekauft, entsprechend sparsam ging man damit um. Anna Frank aus Schluderns genoss es, als sie in der Schweiz arbeitete, an Zucker und Süßspeisen zu kommen, denn „bei uns hat es nie so etwas gegeben“. Ob die vorhandenen Lebensmittel ausreichten, alle hungrigen Mäuler am Tisch zu stopfen, hing von der Größe der Hofstelle und der Anzahl der Familienmitglieder ab. Oft lebten auch Großeltern, kränkliche oder nicht arbeitsfähige Geschwister des Bauern oder der Bäuerin im Haus, die mitversorgt werden mussten.
Edith Genta beschreibt, was in ihrer Familie auf den Tisch kam: „In der Früh hat man Kaffee getrunken und Brot gegessen; wenn Polenta vom Vortag übrig geblieben ist, hat die Mutter diesen in Scheiben geschnitten und mit Butter geröstet, das war ganz gut, ein frischer Polenta war nie so gut. Man hat ihn auch in den Kaffee getan. Oder ‚Schmorrn‘ aus Omelettenteig, das hat man auch in der Früh oder auch zu Mittag gegessen. Wir Kinder haben immer Zucker draufgetan, die Großen haben zu Mittag etwas Saures, Salat oder Bohnen dazu gegessen. Mit dem Brot hat man immer gespart, weil man nicht viel Geld gehabt hat. Zur Jause hat man einen Apfel oder eine Birne mitbekommen. Wenn die Mutter gebacken hat, hat man ein Stückchen in Papier eingewickelt und zum Halbmittag in der Schule mitgenommen.“
Religiöse Rituale gehörten zum Alltag der bäuerlichen Bevölkerung. Mit Hilfe der Religion glaubte man den Herausforderungen des Lebens besser gewachsen zu sein. Die Arbeit wurde zum Einnehmen der Mahlzeiten unterbrochen, aber auch zu gemeinsamen täglichen Gebeten. An den Sonntagen unterblieb die Feldarbeit, der Besuch der Frühmesse oder des Hochamtes war für alle verpflichtend. An den Messen, Vespern, Prozessionen und Bittgängen teilzunehmen, war nicht nur Pflicht, es bot auch die Gelegenheit sich zu zeigen, sich mit anderen zu treffen und den neuesten Tratsch aus dem Dorf zu erfahren. Höhepunkte während des Jahres waren die Feiertage wie Weihnachten und Ostern. Es waren die Tage, an denen es ausreichend zu essen gab, wo man zusammen feierte und manchmal auch Geschenke bekam.