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Erwerbsarbeit in Südtirol
ОглавлениеErste ganzjährige Arbeitserfahrungen machten viele Mädchen als Magd auf einem Bauernhof. Zwar erhielten Mägde mit zunehmendem Alter in der Hierarchie des bäuerlichen Gesindes einen festen Platz und damit auch einen klar abgegrenzten Tätigkeitsbereich, doch die strengen Dienstbotenordnungen ließen wenig Spielraum und sehr begrenzte Lebensperspektiven zu.65 Es war ein hartes Brot: Der Kollektivvertrag von 1930 bescherte den landwirtschaftlichen Arbeitern nur Lohnkürzungen66, aber keine Verbesserung der Lebenssituation. Eine hohe Dienstbotensteuer, die von den Bauern erhoben wurde, ließ außerdem die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Arbeitern stark zurückgehen.67
Helena Blaas, die in Eyrs im Gasthof Lamm kochte, bedauerte die Dienstboten, die in der zum Gasthof gehörigen Landwirtschaft tätig waren: „Die Wirtsleute haben in der Gaststube gegessen und daneben die Dienstboten. Das habe ich nicht leiden können. Am Sonntag hat die ‚Herrschaft‘ panierte Schnitzel und allerhand Gemüse und solche Sachen gegessen und die Dienstboten daneben eine Suppe, ich hätte sie nicht einmal den Schweinen gegeben, die war so schlecht, die haben so schlecht gekocht, ich hätte weinen können. Ich habe oft gesagt, kann man nicht für alle die gleichen Knödel kochen.“
Ein Ausweg war für viele der Wechsel zu einer anderen Tätigkeit. Als in den 20er Jahren der Tourismus in Südtirol zu florieren begann und viele neue Hotels und Pensionen entstanden, eröffnete sich ein neuer Arbeitsmarkt für die vielen ungelernten Mädchen. Nicht nur in Südtirol fanden sie ganzjährig, meist aber nur saisonal eine Beschäftigung als Kellnerin, Serviererin, Stubenmädchen und Köchin in Dorfgaststätten, Jausenstationen, Hotels und Pensionen. Zahlreiche Mädchen aus dem Obervinschgau verließen ihre Heimatorte in Richtung Bormio oder Schweiz, wo der Tourismus ebenfalls boomte.68 Hier wie dort wurden sie meist ohne Anmeldung und Versicherung eingestellt. Die Arbeitsanforderungen waren hart. Marianne Parth, die Köchin in einem Gasthof auf dem Reschen war: „In den Gasthäusern hat es keinen freien Tag gegeben. Da hab ich von sechs in der Früh bis zwölf Uhr in der Nacht gearbeitet.“
Das Gastgewerbe bot den Mädchen immerhin ein gewisses Maß an beruflichen und finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten. Sofia Höchenberger zu ihrem Werdegang im Gastgewerbe: „Nach der Schule habe ich bald in der Pension Bernina in Meran gearbeitet. In der Pension hatten so ungefähr 24 Personen Platz. Da war ich 16 Jahre alt, ich war Küchenmädchen, ich habe immer abgespült. Irgendwann habe ich gesagt, jetzt habe ich genug vom Abspülen. Drei Jahre habe ich abgespült. Ich habe so 80 Lire verdient. Dann hat mich die Chefin aufgebessert, sie meinte, ich müsse jeden Dreck machen und hätte mir mehr verdient. Im Sommer habe ich im Gampenhof gearbeitet, das gehörte zur Bernina, und im Sommer in der Bernina. Dann habe ich im Hotel Excelsior als Chefmädchen gearbeitet, da hab ich mehr verdient und mehr gelernt. Ich war zweite Köchin. Dazwischen habe ich in der Pension Neuhaus als Extramädchen gearbeitet, da war ich der Köchin zugeteilt.“ Als Köchin zu arbeiten bedeutete nicht nur mehr Lohn, sondern auch eine bessere Position in der Hierarchie des Personals. Anna Frank – sie arbeitete in einem großen Hotel in St. Moritz – erlebte es als große Erleichterung, als sie nicht mehr abspülen musste und man sie anstelle ihrer Schwester dem Chefkoch als Gehilfin zuwies.
Die Mädchen erlebten ihre Beschäftigung unterschiedlich: Anna Egger äußert sich nicht besonders begeistert über ihre Anstellung als Kellnerin in einer Gastwirtschaft in Brixen: „Das hat mir gar nicht gefallen. Da bin ich nicht lange geblieben. Ich war ein junges Mädchen, und diese Burschen und Männer hatten nichts anderes im Sinn, als dich zu betatschen. Und das konnte ich nicht leiden. Ich bin kein halbes Jahr dort geblieben. Das Gehalt war auch nicht viel höher als das eines Hausmädchens. Es ist halt noch das Trinkgeld dazugekommen, aber ich habe nicht viel Trinkgeld bekommen, weil ich mich nicht habe betatschen lassen.“ Die Arbeit im Gastgewerbe galt als anrüchig, einmal wegen der Anmache der männlichen Gäste, aber auch wegen der Nähe zu den „Fremden“, die den Mädchen Freizügigkeit und Unsittlichkeit vorlebten. Anna Pinggera hingegen fand ihre Arbeit als Kellnerin vielleicht gerade deshalb interessant, weil sie „da viele Leute kennen lernte und viele auch schon kannte“.
Als der Tourismus in Südtirol infolge der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren und dann durch Option und Krieg einen starken Einbruch erlebte69, fielen für die Mädchen viele Arbeitsplätze weg. „Deshalb haben sie die Mädchen überall herumgeschickt zum Verdienen“, meint Maria Wunderer. Im deutschsprachigen Ausland gab es jedoch wenig Nachfrage, auch waren die Einreisebedingungen zeitweise eingeschränkt.70 Wesentlich leichter erwies sich der Zugang zu Arbeitsstellen in italienischen Städten.
In den 50er und 60er Jahren, der Periode der zweiten Wanderungswelle, als andernorts bereits das „Wirtschaftswunder“ einsetzte, verharrte Südtirol in seinem vorindustriellen Zustand. Die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die hier im Vergleich zu anderen Regionen wesentlich später begann, und die Rückkehr Tausender Umsiedler nach Südtirol ließen die Zahl der Arbeit Suchenden in die Höhe schnellen. Arbeitsplätze in der Industrie gab es für die deutsche Bevölkerung nur wenige, auch auf Grund der Zuwanderung von Arbeiterfamilien aus den italienischen Provinzen. Die Möglichkeiten der Schul- und Berufsbildung blieben weiterhin eingeschränkt, da das Schulwesen nach 1945 erst wieder neu aufgebaut werden musste. Das Lehrlingswesen blieb noch weitgehend ungeregelt. Mitte der 50er Jahre machten nur 8 % der Südtiroler Jugendlichen eine Lehrausbildung, 11,8 % besuchten eine weiterbildende Schule, 71,4 % nahmen nach dem Abschluss der achtjährigen Volksschule eine Arbeit an.71 Vielen Mädchen erging es wie Erika Wallnöfer, Jahrgang 1936, aus Prad: „Als ich ausgeschult war, wusste die Mutter nicht, was sie mit mir machen sollte, eine Dienststelle konnte ich noch nicht annehmen.“ Sie erfuhr von der Möglichkeit, in Rom bei den Schwestern „Unserer lieben Frau“ in der Via Como eine Haushaltungsschule zu besuchen. „Dann haben ich und meine Freundin beschlossen, zusammen nach Rom zu gehen. Die Schwestern ‚Unserer lieben Frau‘ hatten eine Pension, sie hatten Studentinnen. Die Praderinnen waren fast alle bei diesen Schwestern in Rom, auch in Mailand und in Turin in der Via Boscovich. Wir waren 18 Monate bei den Schwestern. Nach den Schwestern sind wir dann privat zu Familien, um auf Kinder aufzupassen und um Italienisch zu lernen.“ Zahlreiche Mädchen nutzten diese Gelegenheit. Andere fanden wieder im Gastgewerbe in Südtirol und auch auswärts Arbeit. Dora Wallnöfer lernte in Bozen in der Goldenen Rose kochen: „Das wollte ich zwar nicht, aber ich bin trotzdem gegangen. Ich musste in der Küche alles machen, ich musste auch eine Wohnung putzen, einmal in der Woche hatte ich einen halben Tag frei. Ich habe aber keinen Lohn bekommen. Als mir die Schuhe kaputt gegangen sind, musste ich sie mit einem Spagat zusammenbinden. Nach drei Monaten beschloss ich zu gehen. Ich wollte irgendwohin, wo ich Geld verdiente.“
Die Arbeit im Gastgewerbe war für viele Frauen in Südtirol eine attraktive Alternative zum Dienst bei einem Bauern – nicht nur weil der Lohn in der Regel höher war