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Der Lockruf der Stadt

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Eine Stelle in der Stadt war mit der Vorstellung eines interessanten und abwechslungsreichen Lebens verknüpft. Die großen wirtschaftlichen Zentren in Europa, darunter Mailand, Genua, Turin, Florenz, Rom oder Neapel, zogen Menschen an. Zwischen 1870 und 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der italienischen Hauptstadt auf 420.000. Voraussetzung für das Städtewachstum war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich intensivierende Landflucht. Die Städte genossen ein enormes Prestige und weckten Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen und sozialen Aufstieg.1 Auch junge vom Land stammende Mädchen drängten in die Stadt. Die Dienstmädchenwanderung wurde zur Möglichkeit für weibliche Angehörige der ländlichen Unterschicht, am Urbanisierungsprozess teilzunehmen.2

Tiefgreifende gesellschaftspolitische Wandlungen waren auch im Vereinten Königreich Italien im Gang: Der Industriekapitalismus hatte die Agrarwirtschaft abgelöst, die ständisch organisierte Gesellschaft wurde zur Klassengesellschaft.3 Regionen wie die Lombardei, Piemont oder Ligurien waren schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich weit stärker entwickelt als süditalienische Gebiete. Die Zentren Norditaliens waren Mailand, Turin und Genua. Mit drei Millionen Einwohnern zählte die Lombardei zu den fortschrittlichsten und aktivsten Regionen des neuen Staates. Mit ihren kapitalstarken Oberschichten, ihren Industrien, Verkehrsverbindungen und vor allem technischen Ausbildungsmöglichkeiten bildeten diese drei Städte die Drehscheibe der Modernisierung. Mailand mit seinen Beziehungen zur reichen Schweiz und dem fortschrittlichen Frankreich wurde zum Stützpunkt der ausländischen Industrien, die auf den italienischen Markt drängten. Mit der Einweihung des Schweizer Gotthardtunnels 1882 wurde die Hauptstadt der Lombardei zudem zum strategischen Nadelöhr der italienischen Eisenbahn. Demgegenüber fiel der strukturarme Süden des Landes von einer Krise in die nächste. Die Zugverbindungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden waren schlecht und langsam.4

Die norditalienischen Städte waren auch der stärkste Magnet für Haus- und Kindermädchen aus Südtirol. Beliebt waren außerdem Florenz und Rom. Aber auch im Süden Italiens nahmen Südtirolerinnen eine Stelle an, so in Lecce, Neapel, Messina und Palermo. Für manche verhieß eine Dienststelle in der Stadt die Möglichkeit, der Enge des Dorfes und der Strenge des Elternhauses zu entfliehen. Einige hofften zumindest den Weg in Richtung finanzielle Selbstständigkeit beschreiten zu können. Arbeiten und hart zupacken hatten die Mädchen schon in Südtirol gelernt, nun war es für sie an der Zeit, eine gewisse individuelle und finanzielle Selbstständigkeit zu erlangen.5 In der Stadt, so hieß es, seien die Löhne höher und die Chancen größer, eine Stelle bei einer „herrschaftlichen“ Familie zu finden, wo sich die Arbeit auf den Haushalt beschränkte und vielleicht sogar mit anderen Angestellten, einem Zimmermädchen, einer Köchin oder Putzfrau, geteilt werden konnte. Kurzum, man hoffte auf eine leichtere Arbeit, einen höheren Lohn, eine bessere Ernährung und auf neue Erfahrungen durch den Eintritt in eine nicht-bäuerliche Welt. Der Trentiner Historiker Diego Leoni beschreibt diese Motivlage folgendermaßen: „Innanzitutto, la sopravvivenza. Il tema del cibo, del mangiare è sempre presente. (…) Al secondo posto però, viene messa quasi sempre la scelta di libertà rispetto al lavoro di campagna, alla vita chiusa del paese, alla mentalità dei compaesani, alla famiglia.“6

Nach der damals geltenden Auffassung waren Stellen im privaten Haushalt außerdem oft besser angesehen als die Arbeit in Gastwirtschaften oder Hotels.

Wie die Schwalben fliegen sie aus

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