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Zwischen Wunsch und Zufall – Wege in die Stadt
ОглавлениеDie unmittelbaren Beweggründe, warum einige Südtiroler Mädchen die Möglichkeit einer Stelle als Hausmädchen in einer italienischen Stadt wahrnahmen und andere nicht, sind im persönlichen Umfeld der Mädchen und in ihrem Charakter zu suchen. Für die meisten Mädchen bestand zwar die Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit, trotzdem erforderte es Mut, Neugierde und den Wunsch nach Veränderung, zumal einige junge Frauen hier in Südtirol schon in einem Arbeitsverhältnis standen. Trotz der einengenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten offenbarten die Mädchen Lebensfreude, entwickelten eigene Lebensentwürfe und versuchten diese auch in dem vorgegebenen Rahmen zu verwirklichen. „Wir waren voller Hoffnungen“, drückte es Maria Riedl aus. Maria Stolzlechner „wollte einfach die Welt kennen lernen“. Emma Terza träumte sogar davon, auf einem Schiff zu arbeiten. Schließlich entschloss sie sich eines Tages, nach Rom zu gehen und sich die Welt anzuschauen. Sie wollte „mal rauskommen und etwas sehen“, ein Wunsch, der viele bewegte.
Mit der Angliederung Südtirols an Italien eröffnete sich für die Südtiroler Mädchen ein neuer Arbeitsmarkt mit starker Nachfrage nach Hauspersonal. Für die vielen kaum ausgebildeten Mädchen aus Südtirol bot er Arbeitsstellen, die im Gegensatz zur Schweiz, zu Österreich und Deutschland ohne bürokratische Hürden, wie etwa Ausreise- und Aufenthaltsgenehmigungen, angetreten werden konnten.
Der größere Teil der Mädchen der ersten Wanderungswelle verließ Südtirol in Richtung Süden bereits vor der Volljährigkeit. Diese lag damals bei 21 Jahren. Die meisten waren zwischen 17 und 19 Jahre alt und somit in einem Alter, in dem sie einerseits schon einige Arbeitserfahrungen hinter sich hatten, andererseits aber für eine Heirat noch zu jung waren.7 Einzelne von ihnen waren bereits in Südtirol liiert oder hatten ein uneheliches Kind. In den 50er Jahren waren es neben den vielen jungen Mädchen auch ältere Frauen, die bereits vor dem Krieg in italienischen Städten gearbeitet hatten und nun erneut dort eine Dienststelle antraten.8
Beeindruckend ist die Entschlossenheit, mit der die erst dreizehnjährige Anna Unterthiner, die bei einer Tante aufgewachsen war, für sich die Entscheidung traf, eine Stelle in Como anzutreten: „Und damals sind bei uns die Faschisten aufgekommen, und da war es so, dass wenn du in ein Büro oder so gegangen bist und nicht Italienisch konntest, dann hast du nichts erreicht. Die haben nichts verstanden oder nichts verstehen wollen. Und deshalb wollte ich Italienisch lernen. Mit meinen Eltern habe ich gar nicht darüber geredet, aber ich habe mich schon von ihnen verabschiedet, als ich nach Como gefahren bin. Es war ihnen gar nicht recht, aber ich hatte ja schon alles ausgemacht. Meine Tante wollte mich zuerst auch nicht gehen lassen, aber sie hat dann schon verstanden, dass ich Italienisch lernen will. Aber die Nachbarn – böse Zungen –, die haben zu meiner Tante immer gesagt: ‚Das Madl siehst du nie mehr.‘ Eine ganze Woche lang haben sie so geredet, bis die erste Nachricht aus Como gekommen ist, als ich der Tante einen Brief geschrieben habe. Ich hätte noch in die Schule gehen müssen. Ich bin dann nämlich zu meiner Lehrerin, das war eine Klosterfrau, gegangen, um mich zu verabschieden. Dann hat sie zu mir gesagt: ‚Du musst ja noch zur Schule gehen.‘ Ich habe dann gesagt, das tu ich schon unten.“
Für Rosa Moser stand fest: „Ich wollte nicht bei einem Bauern in Dienst gehen.“ Vor allem deshalb nahm sie das Angebot einer Familie aus Bologna an, die in Astfeld auf Urlaub weilte. Dass viele Mädchen der bäuerlichen Arbeit entkommen wollten, bestätigt auch eine Aussage Edith Gentas: „Viele sind von zu Hause weg, weil sie nicht auf den Gütern arbeiten wollten, das war ja auch eine Schinderei.“
Als sich die sechzehnjährige Toni Wallnöfer an ihrem Arbeitsplatz in der Schweiz als Kindermädchen „langweilte“, wie sie es ausdrückt, beschloss sie nach Rom zu gehen. Auch wenn sie es nicht ausdrücklich erwähnt, so knüpfte sie wohl an diesen Entschluss die Vorstellung viel versprechender und abwechslungsreicher Möglichkeiten.
Kreszenzia Mair, die von einem Hof oberhalb von Schenna stammte, wollte immer schon weit weg, erzählt ihre Nichte: „Kreszenzia hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Früher hat man gesagt, wer die Zähne weit auseinander hat, der kommt weit herum.“
Anna Wunderer ging bereits in den 20er Jahren gegen den Willen des Vaters nach Mailand. Ihre Schwester Maria erinnert sich: „Die Schwester Anna arbeitete in Bormio in einem Hotel, da waren italienische Gäste. Als sie von dort zurückgekommen ist, es war etwa 1924/25, hat sie gesagt, sie geht nach Mailand. Sie hatte erfahren, dass man dort als Hausmädchen arbeiten konnte. Die Mutter wollte sie nicht gehen lassen. Als der Vater davon erfuhr, da hat er sie verhauen. In der Früh ist sie dann abgehauen, zum ersten Zug, ohne etwas zu sagen.“ Maria selbst ging 1930 nach Mailand: „Weil die anderen alle gegangen sind, wollte ich auch einmal gehen. Ich wollte auch sehen, wie es ist, und ich wollte auch etwas verdienen. Ich hätte nicht müssen. Die Mutter hat mich zwar gehen lassen, aber sie hat gemeint, es würde mir sicher verdrießen. Ich bin aber trotzdem gefahren.“
Freiheit, Stadtluft, raus aus der Enge und Härte des eigenen Landes – diese Motive waren auch für die vielen Mädchen aus Prad wichtig. Bekannte, Freundinnen oder Schwestern berichteten in Briefen oder nach der Rückkehr über ihre positiven Erfahrungen, über die besseren Arbeitsbedingungen und die höheren Löhne.
Sophie Wallnöfer, die in einem Hotel bei San Remo arbeitete, schrieb ihrer Schwester, sie solle doch nachkommen, in Bordighera müsse man nicht ständig Holzböden schrubben wie in Sulden. Hedwig kam der Aufforderung nach. Auch Maria Ortler folgte begeistert dem Angebot ihrer Freundin: „Als ich 16 war, hatte ich eine Freundin, die gleich alt war wie ich, die Rosa Pinggera aus Prad. Und die ist nach Mailand gekommen, wie weiß ich nicht mehr. Die hat mir geschrieben, bei ihr wäre ein Platz frei, wenn ich kommen möchte, sie suchen jemand. Ja nichts wie los, wir waren acht Kinder, wir haben das Geld gebraucht, das war im Jahr ’37. Und dann bin ich dahin gekommen.“
Auf einer Postkarte an Rosa Kobler, datiert auf den 7. Dezember 1924, drückt eine Verwandte ihre Sehnsucht nach dem südlichen Florenz aus: „Wie geht es mit dem Ital. Lernen. Ich möchte auch gerne wieder hinunter, vielleicht könntest mir eine Stelle verschaffen. Firenze muß sehr schön sein, denn sie heißt doch die Stadt der Blumen.“ Maria Brenner hegte, wie sie sagt, schon seit der Schulzeit den Wunsch nach Italien zu gehen, vor allem Rom schien ihr ein erstrebenswerter Aufenthaltsort zu sein. Die Ewige Stadt übte wohl auch auf die Südtiroler Mädchen eine besondere Anziehungskraft aus, war sie doch religiöses Zentrum und Sitz des Papstes. Einmal einen Blick aus unmittelbarer Nähe auf diesen werfen zu können, war der Wunsch vieler.
Irma Kuen und ihre Schwester Erna verlockte ein Plakat in Meran mit der Aufschrift „Suchen Mädchen für Mailand“, das Abenteuer zu wagen. Der Vater von Rebekka Rungg war überzeugt, dass seine Töchter ausreichend versorgt wären und die Arbeit daheim für alle reichte: „Es hat immer nur geheißen, ihr habt Arbeit und zu essen. Das war alles. Wir sind dann von uns aus gegangen, damit wir endlich zu einem Gewand kommen. Die Bernadette hat angefangen, sie ist als Erste nach Mailand. Und so haben wir uns abgewechselt. Einmal ist die eine, einmal die andere weg. Unser Bruder Heinrich hat immer gesagt: ‚Warum gehen sie denn immer? Sie haben’s wie die Schwalben, wie sie fliegen sie aus, bleibt doch da, immer in die Walsch hinunter, geht doch einmal in die Schweiz.‘ Wir waren nie in der Schweiz. Die eine hat die andere hinuntergezogen.“
Neben dem Lohn sahen viele auch die Möglichkeit, Italienisch zu lernen. So auch Johanna Pamer: „Ich war immer schon im Gastgewerbe als Kellnerin und hab halt nicht so gut Italienisch sprechen können. Und da hab ich mir gedacht, ich geh zu einer italienischen Herrschaft, damit ich die Sprache besser lerne. Eine andere Gelegenheit gab es damals nicht.“ Anna Tappeiner aus Laas wollte eigentlich nach Genf gehen, um dort Französisch zu lernen. Als man ihr riet, zuerst ein bisschen Italienisch zu lernen, was die Aneignung der französischen Sprache erleichtern würde, suchte sie sich eine Stelle im oberitalienischen Raum.
Nicht nur die Beherrschung der italienischen Sprache war im Südtiroler Gastgewerbe erwünscht. In den 30er Jahren suchte man im Anzeigenteil des Katholischen Sonntagsblattes nach Köchinnen, „welche perfekt die italienische Küche“ beherrschten.9 Auch das mag einige veranlasst haben, sich nach einer Stelle in einer italienischen Stadt umzusehen.
Politische Gegebenheiten in Südtirol waren die Ursache dafür, dass es Berta, die Schwester von Anna Tappeiner, nach Rescaldina bei Mailand verschlug. Sie begleitete ihre Tante, eine Lehrerin, als diese vom faschistischen Regime dorthin zwangsversetzt wurde.10
Bei Rosina Lechner aus dem Pustertal waren es die Folgen einer Kinderlähmung, die sie bewogen, eine Stelle in Florenz anzunehmen: „Gegangen bin ich vor allem wegen meinem Fuß, weil das einfach so schlimm war bei uns im Winter. Ich wollte irgendwohin, wo es keinen Schnee gibt.“
Nicht immer waren die Mädchen in ihrer Entscheidung frei. Anna Frank wurde von ihrem Vater gezwungen, eine Stelle in Rom anzunehmen, nachdem er ohne ihr Wissen bereits Abmachungen getroffen hatte. Bei Paula Nössing aus Kastelruth wurde die Entscheidung, in den Dienst zu gehen, zwar in der Familie abgesprochen, den endgültigen Entschluss fällte der Vater: „Ein kinderloses Ehepaar aus Mortara wollte unbedingt ein deutsches Dienstmädchen, weil sie gemeint haben, die würde besser arbeiten. Mein Vater wollte, dass ich gehe. Er wollte, dass ich was sehe, dass ich von zu Hause wegkomme.“
Auch bei Helena Blaas entschied das Familienoberhaupt für die Tochter: „Mein Vater hat in Meran viele Leute gekannt. Einer Frau hat er geschrieben, dass ich was verdienen muss. Diese Frau hat eine Tochter gehabt, die bei der Familie Frank in Rom gearbeitet hat. So bin ich nach Rom gekommen. Der Vater hat alles für mich gemacht.“
Als ein Offizier, der in Trafoi stationiert war, ein Dienstmädchen für Bekannte in Rom suchte, erfuhr die Mutter von Hedwig Platter davon: „Die Mutter hat dann gesagt, sie will mich nicht überreden, aber wenn, dann könnte nur ich als Älteste gehen. Die anderen Schwestern waren jünger und wären vielleicht auch nicht gegangen. Und ich habe mir gedacht: ja, dann sehe ich halt einmal ein Stück Welt.“ Italienische Urlauber sprachen die Mutter von Maria Erlacher an: „Der Senator, der war komplett blind, er und seine Frau und seine Schwägerin als Begleiterin haben in St. Vigil ihren Urlaub verbracht. Für drei Monate hatten die Herrschaften eine kleine Villa in St. Vigil gemietet. Und der Senator hat meine Mutter gefragt, ob sie nicht ein Mädl wüsste. So hab ich mich vorstellen müssen, und ich hab ihnen gleich gut gefallen. Dann bin ich gegangen, ich war noch nicht ganz 17.“
Auch moralische Brandmarkungen durch die Dorfgemeinschaft veranlassten Mädchen, ihren Heimatort zu verlassen und dorthin zu ziehen, wo niemand sie kannte. Paula Wallnöfer trieb die Erkenntnis „Bei den Herrschaften bin ich immer ein Mensch gewesen!“ immer wieder in die Fremde. Sie hatte mit 15 Jahren ein Kind zur Welt und damit „Schande“ über die Familie gebracht. Von den Leuten im Ort erfuhr sie keine Wertschätzung mehr. Dieselbe bittere Erfahrung machte auch Maria Blaas, ebenfalls Mutter eines „ledigen“ Kindes. Wie Paula Wallnöfer ließ sie ihr Kind in der Obhut ihrer Eltern zurück, die Trennung war eine schmerzvolle Erfahrung mehr.
Die 17-jährige Antonia Auer überließ hingegen die Pflege ihres einjährigen Sohnes gern ihrer Mutter: „Es ist mir nicht schwer gefallen, mich dann von meinem Kind zu trennen, wie ich nach Mailand gegangen bin, ich bin gern gegangen. Auf das Kind aufzupassen, das hab ich nicht so gern getan, aber gern hatte ich den Karl immer. Ich wollte einfach arbeiten, für mich und für den Karl.“
Die meisten Frauen sehen in ihrer Abwanderung in eine italienische Stadt nichts Außergewöhnliches. Anna Ortner: „Das war zu der damaligen Zeit etwas durchaus Übliches. Viele Mädchen sind in meinem Alter nach Italien gegangen, das war nichts Besonderes.“ Auch Regina Walcher meint rückblickend: „Denn wer im Stande war zu arbeiten, ging auch gern fort, denn dann konnte man selbst etwas verdienen, konnte sich auch ein Kleid oder Schuhe kaufen, sodass man sich unter die Leute trauen konnte.“ Maria Jesacher, die in den 50er Jahren nach Rom ging, zeigt das Dilemma zwischen den Arbeitsanforderungen zu Hause und dem Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen: „Ja, das war damals halt so. Wenn man nicht das ganze Jahr eine Dienststelle annehmen wollte, dann gab es schon Saisonstellen im Gastgewerbe. Aber da musste man sich Sommer und Winter verpflichten, und das wäre bei uns nicht gegangen. Im Sommer mussten wir ja auf dem Feld helfen, und da durften wir nur im Winter weg vom Hof. Freundinnen haben mich dann dazu überredet, dass ich den Winter über mit nach Rom gehe.“
„… und hab daraus ersehen daß du in Mailand bist. Im Herbst werde ich auch nachkommen …“ Postkarte an Emma Sagmeister von ihrer Schwester Ida.
„… wie geht es mit dem Ital. lernen? Ich möchte auch gerne wieder hinunter, vielleicht könntest mir eine Stelle verschaffen? Firenze muß sehr schön sein …“ Postkarte an Rosa Kobler von einer Kusine.