Читать книгу FAITH - Ursula Tintelnot - Страница 6
Ein neuer Schüler
ОглавлениеFaith klammerte sich an die Haltestange im schlingernden Bus. Den Lärm um sie herum nahm sie kaum war.
Der Blick aus den Bernsteinaugen ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie hatte keine Furcht gespürt. Vielmehr eine merkwürdige Vertrautheit mit dem Tier. Sie hatte den Wolf nie zuvor gesehen, und dennoch glaubte sie, ihn zu kennen.
Ein Traum?
Faith schreckte auf.
Der Schulbus hielt direkt vor einem gewaltigen schlossähnlichen Gebäude, das vor etwa fünfzig Jahren in eine Privatschule mit Internat umgewandelt worden war. Seine roten Mauern leuchteten in der blassen Wintersonne unter dem strahlend blauen Himmel. Auf den tiefen Fenstersimsen unter den hohen Spitzbogenfenstern lag Schnee. Die breite Freitreppe, die zum Eingangsportal hinaufführte, war sauber gefegt. Dafür hatte Herr Zorn, der Hausmeister, schon am frühen Morgen gesorgt. Die Schule besaß einen ausgezeichneten Ruf. Wer es sich leisten konnte, schickte sein Kind dorthin. Das angeschlossene Internat allerdings war sündhaft teuer. Die Schülerzahl war begrenzt, nur wenige, sehr reiche Familien konnten sich leisten, ihre Sprösslinge hier unterzubringen. Viele der Eltern der Schüler lebten und arbeiteten im Ausland. Anders als Faiths Vater konnten oder wollten sie ihre Kinder nicht immer mitnehmen. Auch er war viel gereist, aber Robert hatte sich nie von seiner Tochter getrennt.
Faith jagte die große Außentreppe hoch, drängelte sich durch die vollen Gänge und kam – zu spät – in ihrem Klassenzimmer an.
Sie ließ sich auf ihren Stuhl neben Lisa fallen, mit der sie seit Jahren zusammensaß.
Lisa fiel das wirre blonde Haar über die tiefblauen Augen. Neugierige Augen, denen so gut wie nichts entging.
In der Schule konnte kein Blatt Papier zu Boden fallen, ohne dass sie davon wusste. Sie wandte sich Faith zu und wischte dabei sämtliche Bücher von dem Tisch vor ihr auf den Boden. Zwei Reihen hinter ihr verzog sich Patricias hübsches Gesicht zu einer höhnischen Maske.
„Mal sehen, was ,Miss Ungeschickt‘ als Nächstes passiert“, flüsterte sie ihrer besten Freundin Miriam zu, so laut, dass jeder im Raum den Spruch hören konnte. Miriam lachte gehorsam. Ohne sich um Patricia zu kümmern, schob Lisa Faith einen Zettel zu: Der Neue sieht umwerfend aus!
Faith sah sie fragend an.
In diesem Moment öffnete sich die Tür und die Direktorin trat ein. Mit ihr betrat ein Junge den Raum, bei dessen Anblick Faith unwillkürlich die Luft anhielt.
Es war nicht seine äußere Schönheit, nicht sein olivfarbener Teint, nicht die dunklen Locken, zu denen seine blauen Augen merkwürdig fehl am Platz schienen.
Er wirkte auf sie wie ein dunkler Engel, der einen ganz eigenen, hellen Glanz verbreitete.
Ihr Herzschlag setzte aus, als der Blick des Jungen sie streifte und sie für den Bruchteil einer Sekunde Hass in seinen Augen zu sehen glaubte, dem so etwas wie Staunen folgte.
Er schien ruhig und so gelassen, als sei er gewohnt, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. „Richard“, das war alles, was Faith aufnahm. Der Rest der Rede der Direktorin ging völlig an ihr vorbei. „He, wach auf“, flüsterte Lisa neben ihr und berührte ihre Schulter.
Faith blickte sich um. Richard hatte einen Platz im hinteren Teil des Raumes gefunden und „Glatze“ fuhr mit seinem Unterricht fort.
Glatze würde nur dann seinen Unterricht unterbrechen, wenn der Himmel einstürzte, und da ein neuer Schüler nicht in die Kategorie „einstürzender Himmel“ fiel, sah er keinen Grund, nicht fortzufahren.
Einen Lehrer, der keine Haare mehr auf dem Kopf hatte, Glatze zu nennen, wäre vielleicht phantasielos gewesen, aber jemandem diesen Namen zu geben, der so außergewöhnlich behaart war wie der Lateinlehrer, war doch erstaunlich.
Es würde ein Geheimnis bleiben, warum er diesen Namen trug.
Faiths Blick blieb an Patricia hängen, die mit ihrer besten Freundin Miriam tuschelte, die Augen dabei immer fest auf Richard gerichtet.
Glatze ließ sie gewähren.
Patricia war bildschön, klug und so hinterhältig, dass niemand sie zur Feindin haben wollte.
Die Jungs machten Stielaugen. Ihr derzeitiger Freund Ben, ein blonder Riese, war das Sport-Ass der Schule.
Die Stunde tropfte an den Mädchen ab wie Regen an einer Fensterscheibe.