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Exkurs zur Bedeutung von Werten im wissenschaftlichen Arbeiten, dargestellt anhand der Entstehungsgeschichte des Werte- und Entwicklungsquadrats.

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Die Entstehungsgeschichte des Werte- und Entwicklungsquadrats ist ein Paradebeispiel für die Bedeutung der Genauigkeit des Zitierens in der wissenschaftlichen Arbeit. Dass das Wertequadrat zum heute weltweit bekannten Werte- und Entwicklungsquadrat wurde, ist Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun zu verdanken. In den 1980er Jahren fiel ihm »zufällig (wirklich zufällig!)« (Schulz von Thun, 2018b: 1) in einer Bibliothek ein Nachdruck der »Charakterologie« von Paul Helwig in die Hände, er blätterte darin herum, entdeckte das Wertequadrat und begann über dessen Implikationen und mögliche Formen der Weiterentwicklung nachzudenken. Das Ergebnis der Überlegungen von Friedemann Schulz von Thun ist das Werte- und Entwicklungsquadrat. Ohne die theoretischen Vorarbeiten von Helwig hätte Friedemann Schulz von Thun das Werte- und Entwicklungsquadrat nicht in der heute bekannten Form entwickeln können.

Die obigen Ausführungen lassen darauf schließen, dass das Wertequadrat von Paul Helwig erdacht wurde. Korrekt?

Nein, nicht ganz. Nicolai Hartmann hat in seiner »Ethik« (Erstauflage 1926, hier Hartmann, 1962) die aristotelische Tugendlehre weiterentwickelt, indem er das Spannungsverhältnis zwischen zwei positiven Werten anhand einer sog. Wertesynthese verdeutlicht. Diesen Denkansatz hat Paul Helwig, ein Doktorand Hartmanns, in seiner »Charakterologie« (Helwig, 1936) weiter ausformuliert, mit praktischen Beispielen angereichert und anschaulich dargestellt. Allerdings unterließ es Helwig, sich auf die von Hartmann angestellten Gedankengänge zu beziehen, sondern stellte den Ansatz als seinen eigenen dar. (vgl. Schulz von Thun, 2018b: 2) Genaue wissenschaftliche Arbeit erfordert es aber, die Primärquellen (in dem Fall Hartmanns Werk) zu benennen. Das ist ein grundlegender, allgemeingültiger Wert, den alle Wissenschaftler berücksichtigen sollten. Warum Helwig das nicht getan hat, wird auf ewig sein Geheimnis bleiben (vgl. Schulz von Thun, 2018b: 7).

Hartmann bezeichnete seinen Ansatz als »Viereck der Wertesynthese« und Helwig schreibt dann von »der ›Vierheit‹ aller Wertebegriffe« (Schulz von Thun, 2018b: 4). Den Begriff Wertequadrat benutzte Helwig erstmalig 1948 in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift PSYCHE (vgl. Helwig, 1948: 121 ff). Helwig hat also den Begriff »Wertequadrat« geprägt, das dahinter liegende theoretische Modell aber nicht alleine erdacht, sondern sich der grundlegenden Gedankengänge von Hartmann bedient.

Demnach gebührt drei Wissenschaftlern Kredit für die Entwicklung des Werte- und Entwicklungsquadrats: Nicolai Hartmann, Paul Helwig und Friedemann Schulz von Thun.

Im Werte- und Entwicklungsquadrat wird angenommen, dass jedem Wert ein positiver Schwesterwert gegenübersteht. Der Heimatwert und der Schwesterwert befinden sich im Idealfall in einer Balance. Alle Führungskräfte und Mitarbeiter bewegen sich mit den ihnen wichtigen Werten innerhalb des Werte- und Entwicklungsquadrats. (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 43) ( Abb. A.2)

Den Heimatwert und damit den Ausgangspunkt des Werte- und Entwicklungsquadrats stellt der in Abbildung A.2 mit der Zahl 1 gekennzeichnete grundlegende Wert dar. Direkt neben diesem Heimatwert befindet sich der sog. Schwesterwert. Der Schwesterwert ist immer ein positiver Wert, der dem grundlegenden Heimatwert gegenübersteht. In Abbildung A.2 ist der Schwesterwert mit der Zahl 2 gekennzeichnet. Zwischen dem grundlegenden


Abb. A.2: Beziehungen zwischen den 4 Polen des Werte- und Entwicklungsquadrats (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schulz von Thun, 2018c: 45)

Heimatwert und dem gegenüberliegenden Schwesterwert besteht ein positives Spannungsverhältnis. Das bedeutet, dass beide Werte sich die Waage halten und in Balance bleiben sollten. Um dieses notwendige Gleichgewicht zwischen den beiden Werten zu erreichen, muss anerkannt werden, dass zu viel von etwas Gutem etwas Schlechtes auslösen kann. Wie bei allem ist es also auch bei Werten entscheidend, die richtige Dosis zu finden. (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 44)

Beide grundsätzlich positiv besetzten Werte werden bei einer entwertenden Übertreibung ernsthaft bedroht (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 44). Die auf den Heimatwert bezogene entwertende Übertreibung führt zum mit der Zahl 3 gekennzeichneten Unwert. Der Unwert 3 stellt einen konträren Gegensatz zum Schwesterwert dar. Diese Beziehung wird durch die vertikale Verbindungslinie zwischen dem Schwesterwert und dem Unwert 3 dargestellt.

Die auf den Schwesterwert bezogene entwertende Übertreibung wiederum führt zu dem mit der Zahl 4 gekennzeichneten Unwert. Der Unwert 4 stellt dementsprechend einen konträren Gegensatz zum Heimatwert dar. Diese Beziehung wird durch die vertikale Verbindungslinie zwischen dem Heimatwert und dem Unwert 4 dargestellt.

Soweit, so abstrakt. Die Zusammenhänge lassen sich am besten an einem konkreten Heimatwert veranschaulichen. Dabei ist folgendes besonders zu beachten: Jeder Heimatwert hat, je nach Perspektive der Betrachtung und auch in Abhängigkeit von der Sozialisation der Führungskraft oder des Mitarbeiters, der die Werteentwicklung für sich betreibt, ganz unterschiedliche Aspekte. Es gibt nicht das eine allgemeingültige Werte- und Entwicklungsquadrat für einen Heimatwert.

Mitarbeiter und Führungskräfte streben heutzutage vielfach nach Selbstverwirklichung. Die Selbstverwirklichung ist ein Heimatwert, der eine hohe Relevanz in der Unternehmensrealität hat und der sich damit als lohnend erweist, näher betrachtet zu werden. Abbildung A.3 veranschaulicht exemplarisch drei mögliche Werte- und Entwicklungsquadrate für den Heimatwert der Selbstverwirklichung.


Abb. A.3: Werte- und Entwicklungsquadrate für den Wert der Selbstverwirklichung (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schulz von Thun, 2018c: 56-59)

Der Heimatwert der Selbstverwirklichung ist also ein Konstrukt, das sich in mindestens drei verschiedene Aspekte untergliedern lässt ( Abb. A.3):

• Der erste Aspekt der Selbstverwirklichung ist der Eigensinn. Selbstverwirklichung wird als »kaum verbrämter egoistischer Zug« (Schulz von Thun, 2018c: 56) identifiziert und mit »Vergnügungssucht und Pflichtvergessenheit« (Schulz von Thun, 2018c: 57) gleichgesetzt. Es erfolgt ein Appell an das soziale Empfinden des Mitarbeiters. Dieser Appell soll dem Mitarbeiter klarmachen, dass auch ein Kollege, der vielleicht nicht in der Lage ist, für sich selbst einzustehen, Rücksichtnahme beanspruchen kann. Das wird in Wert 2a, dem Schwesterwert ›Gemeinschaftssinn‹, ausgedrückt. Dem Gemeinschaftssinn als konträrer Gegensatz gegenüber steht die selbstsüchtige Egozentrik (Unwert 3a), die sich Bahn zu brechen droht, wenn der Eigensinn übertrieben wird. Wird der Gemeinschaftssinn wiederum übertrieben, dann kommt es zu selbstlosem Verhalten (Unwert 4a) des Mitarbeiters. Das ist eine Übertreibung, die den Gemeinschaftssinn entwertet und impliziert, dass der Mitarbeiter sich aufgibt, anstatt sich selbst zu verwirklichen.

• Der zweite Aspekt der Selbstverwirklichung ist die Sinnsuche (Wert 1b). Damit beschäftigt sich das Werte- und Entwicklungsquadrat im mittleren Bereich der Abbildung A.3. E. Viktor Frankl geht davon aus, dass ein Mensch nur dann ganz er selbst sein kann, wenn er sich im Dienst an einer Sache befindet. Demnach muss der Mitarbeiter sich also quasi selbst vergessen, um sich selbst zu verwirklichen. (vgl. Frankl, 1981: 38) Diese vollkommene Hingabe an eine Aufgabe drückt sich im Schwesterwert Pflichtgefühl (Wert 2b) aus. Ein dermaßen interpretiertes Pflichtgefühl würde laut Friedemann Schulz von Thun heute vielfach dazu führen, dass der Mitarbeiter die Sinnlosigkeit oder gar (im Extremfall) die Sinnwidrigkeit der eigenen Arbeit erkennen würde, was wiederum zur Selbstentfremdung (Unwert 4b) führen würde (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 57).

• Als dritten Aspekt der Selbstverwirklichung wird die Autonomie betrachtet. Ein Mitarbeiter stellt z. B. fest, dass er die eigene Entwicklung bisher zugunsten der Arbeit im Unternehmen zurückgestellt hat. Beispielsweise hat der Mitarbeiter eine schon lange angestrebte Weiterbildung immer wieder verschoben, weil er dauerhaft zu viele (vermeintlich wichtige) Routinetätigkeiten zu erledigen hatte. Die Hingabe des Mitarbeiters an das Unternehmen und seine damit einhergehende Bindung (Schwesterwert 2c) hat in dem Fall zu einer entwertenden Übertreibung geführt und eine symbiotische Verschmelzung mit dem Unternehmen bewirkt (Unwert 4c). Um dem Wert der Selbstverwirklichung näher zu kommen, ist es notwendig, den Mitarbeiter aus der sich selbst blockierenden Abhängigkeit zu lösen.

Jedes Unternehmen strebt an, kompetente Mitarbeiter an sich zu binden. Gerade der dritte genannte Aspekt hat unter dem Oberbegriff der Personalbindung deshalb im Personalmanagement eine große Bedeutung. Einem Unternehmen, das sich mit der Werteentwicklung seiner Mitarbeiter aktiv auseinandersetzt, wird das besser gelingen als einem Unternehmen, in dem die Werte der Mitarbeiter nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang beachtet werden.

Der so entwickelte Wertekanon sollte mit den im Unternehmen propagierten und praktizierten Werten (= der Unternehmenskultur) abgeglichen werden, so dass ein im Unternehmen insgesamt konsistentes Wertesystem entstehen kann. Dieses Wertesystem ist die Grundlage erfolgreicher Personalarbeit im Unternehmen.

Personal, Team- und Konfliktmanagement

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