Читать книгу Familie, Seefahrt und ich - Uwe Knut Freiwald - Страница 18
Mutters Neuanfang
ОглавлениеMutter arbeitete, nachdem sie im Kindergarten von Buchhain aufgehört hatte, in der Brikettfabrik in Tröbitz/Wildgrube. Hier lernte sie dann ihren zweiten Mann kennen. Konrad war zu diesem Zeitpunkt noch verheiratet. Er sagte einmal selbst über diese Ehe, dass er nur noch dagewesen sei, um am Monatsende das Geld abzuliefern. Ein richtiges Familienleben und Liebe habe er schon lange nicht mehr gekannt. – Es dauerte auch nicht lange, dass die beiden sich ineinander verliebten und schon kurz danach zog Konrad bei meiner Mutter ein und wurde unser Stiefvater.
Er war sehr anspruchslos und brachte als „Mitgift“ nur sein Moped Simson SR2, einen Rucksack mit seinen Arbeitsgeräten und die Sachen, die er auf dem Leib trug, mit. Nach der Scheidung überließ er seiner ehemaligen Frau und seiner Tochter auch das von ihm erbaute Haus mit Grundstück.
Mutter mit Konrad
Konrad war von Beruf Maurer und als Kesselmaurer in der Brikettfabrik angestellt. Wie viele andere war er Mitglied der SED. Seinen Meister machte er als Erwachsener an der Abendschule. Konrad war ein richtiges Arbeitstier, ein Workaholic würde man heute wohl sagen. Aufgrund seines Fleißes und der hohen Qualität seiner Arbeit wurde er oft gebeten, hier etwas zu reparieren oder dort beim Haus- oder Stallbau zu helfen.
Mutter und Konrad passten gut zusammen und einer Vermählung stand nichts im Wege. Sie heirateten 1976 in Rostock, als sie bei uns zu Besuch waren. Da war unser Sohn Nils gerade geboren und wir wohnten inzwischen in einer AWG-Wohnung in Lichtenhagen.
Der sehnlichste Wunsch des „jungen Paares“ war es, nun wieder etwas Eigenes zu besitzen. Also schauten sie sich nach etwas Passendem um.
In den siebziger Jahren war es gar nicht so einfach, etwas Geeignetes zu finden. Die meisten Höfe waren in die LPG eingebracht worden, die wenigen Bauernhöfe, die es noch gab, wurden von ihren Altbauern bewirtschaftet, samt eigener Schweine, Bullen und Federvieh, welche sie nach der Arbeit versorgen mussten. Zudem zeichnete sich ab, dass kaum eins ihrer Kinder in der Landwirtschaft bleiben würde. Sie lernten andere Berufe und zogen später fort. – Nach der Wende waren dann nur noch sehr wenige Alte auf den Höfen, manche Dörfer wirkten gar wie ausgestorben.
Im Dorf gab es nun ein Gehöft, dessen Bauer vor Jahren plötzlich verstorben war. In meiner Kindheit war der Bauer, der nebenberuflich Hausschlachter war, ein hoch geschätztes Mitglied der Dorfgemeinde gewesen. Jetzt wohnte nur noch seine Frau in dem Haus, Hof, Ställe und Scheune nutzte die LPG.
Um die Werterhaltung der Gebäude kümmerte sie sich allerdings nicht, denn das war ja das Eigentum der Bäuerin. Deren Töchter hatten aber andere Berufe ergriffen und waren längst weggezogen, woraufhin sich Irmgard und Konrad um dieses Anwesen bemühten. Mit Erfolg, sie erwarben den Bauernhof, zu dem außerdem ein paar Morgen Land und einige Felder und Wiesen gehörten, die an die LPG verpachtet waren oder der Versorgung des eigenen privaten Viehs dienten.
* * *
Mutter hatte früher einmal einen Riesenkrach mit dem ehemaligen Bauern gehabt, wegen uns Kindern. Und zwar hatte sich Folgendes ereignet:
Hinter dem Hof besaß der Bauer Wiesenland, welches durch den damals existierenden Mühlengraben, den Bach zur ehemaligen Mühle, begrenzt war. Zwischen seinem Haus und dem nächsten Bauernhof führte ein schmaler etwa ein Meter breiter Weg zum Mühlengraben, auf dem eine einfache Eichenbohle als Brücke lag. Dieser Weg war öffentlich und bildete eine Abkürzung, wenn man zu Fuß ins Dorf wollte. Neben dem Gehöft des Bauern befand sich der Dorfkrug. – Nach der Wende wurde ein Gitter vor den Eingang gestellt und das Gelände zum Privatgrundstück erklärt.
Nun herrschte Anfang der sechziger Jahre einmal ein strenger Winter. Eines Nachts hatte jemand den Mühlgraben angezapft, sodass ein großer Teil der Wiesen hinter dem Hof dieses Bauern überflutet wurde. Das Wasser fror noch in derselben Nacht und wir Kinder waren am nächsten Tag Feuer und Flamme, denn die Fläche bot ein ideales Eishockeyfeld. Schon bald tummelten sich Jungs und Mädels auf dem Eis.
Damals wohnte unsere Familie noch in der Molkerei zwischen Buchhain und Nexdorf. Da wir, Herrmann und ich, die Eisbahn als Erste entdeckt hatten, war der Bauer felsenfest davon überzeugt, dass wir auch die Verursacher der Überflutung gewesen sein mussten. Er brachte diesen Vorfall beim Bürgermeister zur Anzeige. Meine Mutter erhielt eine Vorladung und sollte dazu Stellung nehmen. Bevor sie dort erschien, nahm sie meinen Bruder und mich zur Brust und fragte uns, ob wir tatsächlich daran beteiligt gewesen waren. Wir wiesen das empört von uns und erklärten reinen Gewissens, dass es unser einziges Vergehen sei, die Eisfläche als Erste entdeckt zu haben.
Unsere Mutter schenkte uns Glauben und verteidigte ihre Söhne wie eine Löwin vor dem Bürgermeister und den anwesenden ABV1. Da es keine Beweise gab, wurde die Anschuldigung fallen gelassen. Zum Glück war dieser Vorfall bald vergessen – auch wenn es mich heute noch interessieren würde, wer uns Kindern eigentlich damals diesen Gefallen getan hat …
* * *
Am Anfang, als Irmgard und Konrad das Gehöft kauften, wohnte die Bäuerin noch mit im Haus, bis sie eine eigene Wohnung fand. Da die Ställe weiter von der LPG genutzt wurden, waren ständig fremde Leute auf dem Hof meiner Eltern unterwegs, was ihnen zunehmend missfiel. Die LPG sollte den Hof räumen, sie wollten als neue Eigentümer alles selber nutzen und stellten einen Antrag. Es wurde ein schwieriges Unterfangen, denn in den Ställen wurden eine Menge Schweine gemästet. So kam zunächst auch keine Einigung zustande. Also machten sie eine Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden und pochten auf ihr Recht, ihr Eigentum selbst nutzen zu dürfen. Um der Sache Nachdruck zu verleihen, bekräftigten beide, dass sie, würde ihren Bitten weiterhin keine Beachtung geschenkt, sich an der nächsten Volkskammerwahl2 nicht beteiligen würden. Das war starker Tobak zu damaliger Zeit. Doch sie erhielten ein Antwortschreiben mit dem Versprechen, die Sache zu klären. Nun kam Bewegung in diese verfahrene Situation. Meine Eltern hofften inständig auf ein gutes Ende und tatsächlich: Zu guter Letzt musste die LPG die Stallungen räumen.
Nun türmte sich vor Irmgard und Konrad ein riesiger Berg an Arbeit auf. Als Erstes schafften sie Ordnung auf dem Grundstück, denn es befand sich alles noch in dem Zustand, wie der Bauer es hinterlassen hatte, sogar die Heugabel stand noch an der Stelle in der Scheune, wo er sie vor seinem Tode abgestellt hatte. Als ich diesen vernachlässigten Bauernhof besah, glaubte ich nicht daran, dass das einmal unser Zuhause werden würde. Doch meine Eltern ackerten von früh bis spät, räumten auf und warfen weg – mehrere Traktoranhänger Müll kamen dabei zusammen.
Anschließend sollte das Haus umgebaut und modernisiert, die Ställe für die eigene Viehzucht hergerichtet werden. Sie verrichteten alles neben ihrer regulären Arbeit, zudem waren sie auch nicht mehr die Jüngsten. Doch dann gab Mutter ihre schwere Arbeit in der Brikettfabrik auf und arbeitete beim Chemiehandel in Doberlug-Kirchhain.
Sie war es, die auf große Fenster im Haus bestand, die waren gerade in Mode gekommen. Später hat sie das allerdings sehr bereut und sich darüber beklagt, dass sie damit so viel zu tun hätte, Gardinen waschen, Fenster putzen und so.
Konrad begann mit dem Umbau und reparierte die Ställe und Dächer. Sie schafften sich Hühner, Gänse, Kaninchen und ein paar Schweine an. Jedes Jahr wurde ein Schwein geschlachtet und beim darauffolgenden Schmaus erhielten, wie auf dem Dorf üblich, engste Freunde und Nachbarn Wurstbrühe mit Grützwurst und dazu frisches Hack. Später mästeten sie Bullen, die jedoch zwei Sommer brauchten, um zu einem erklecklichen Sümmchen verkauft werden zu können. Mit dem Erlös aus dem Viehverkauf finanzierten sie den gesamten Umbau, der nur unterbrochen wurde, wenn Konrad am Wochenende mauern ging, was ebenfalls zusätzliches Geld einbrachte. Ich konnte leider nicht viel helfen, ich fuhr noch zur See. Doch bewunderten wir die Fortschritte bei unseren Besuchen im Urlaub und freuen uns mit ihnen – auch wenn mir die alte Hausfassade besser gefallen hat, weil sie viel besser zum alten Dorfkern passte.
Bauernhaus vor dem Kauf …
… und danach
Das Paar brachte es durch Fleiß und harte Arbeit zu einem gewissen Wohlstand, von dem auch im Dorf Notiz genommen wurde. Konrad beteiligte sich als Genosse an der gesellschaftlichen Arbeit im Dorf und wurde später sogar Mitglied des Gemeinderates. Auf seinen Wunsch hin beendete Mutter ihr Arbeitsverhältnis schon vor der Rente, damit sie nicht unter der Mehrfachbelastung von Arbeit, Haushalt und Viehversorgung zu leiden hatte. Beide mussten ja jeden Morgen vor der Arbeit noch das Vieh versorgen. Ebenso nach Feierabend, da war auch zuerst das Vieh dran, bevor sie an sich denken konnten. Stiefvater ging sogar als Rentner noch weiter mauern, obwohl er schon über siebzig Jahre alt war, bis Mutter dann forderte: „Jetzt ist aber Schluss!“
Es war kurz nach der Wende, beide waren jetzt Rentner, und es machte ihnen zunehmend Mühe, insbesondere im Winter, das Gehöft zu versorgen und in Ordnung zu halten. Deshalb schlug ich ihnen vor, ihr Haus und Grundstück zu verkaufen, denn in der Mitte der neunziger Jahre waren Bauerhöfe sehr begehrt und erzielten gute Preise. Konrad sah dies auch ein, aber meine Mutter wollte sich absolut nicht von Haus und Hof trennen, nachdem sie doch so viele Entbehrungen hatten hinnehmen müssen und dafür so geschuftet hatten. Als sich jedoch ihre gesundheitlichen Probleme verstärkten, kam auch Mutter zu der Einsicht, dass es sinnvoll wäre, das Anwesen zu verkaufen und in eine Wohnung zu ziehen. – Aber nun, im Jahr 2003, hatte sich der Markt völlig geändert und war überschwemmt von Immobilien.
* * *
Da viele der Kinder fortgezogen waren, lebten in den Bauernhäusern oft nur noch ihre alten Eltern, viele Höfe standen sogar leer. Das führte dazu, dass der öffentliche Nahverkehr mehr und mehr eingestellt wurde und beinahe zum Erliegen kam. In manchen Dörfern war man froh, wenn wenigstens ein Bus am Tag fuhr. Die wenigen Einkaufsmöglichkeiten, wie der allerorts übliche Dorf-Konsum, wurden geschlossen genau wie die Gaststätten. Die ehemals gesellschaftlichen Höhepunkte, Dorffeste, Tanzveranstaltungen, Faschingsfeiern, gab es nicht mehr. Jetzt war nichts mehr los auf dem Dorf, Fuchs und Hase sagten sich gute Nacht – was wiederum die jungen Menschen in die Stadt trieb.
Es sollten Jahre vergehen, bis es wieder ein gemeinschaftliches Dorfleben gab. Als nämlich die Jugend auf einmal feststellte, dass es sich auf dem Dorf doch ganz gut leben lässt. Junge Paare erkannten die Vorzüge, sie wollten der Großstadthektik entfliehen und ihren Kindern ein ruhiges und sicheres Zuhause zu bieten. So übernahmen sie die Häuser ihrer Eltern oder bauten neu, aber nur in der näheren Umgebung ihrer Arbeit. Einige wurden auch zu Wochenendpendler, was jedoch das Familienleben belastet. Heute ist das Leben auf dem Lande wieder attraktiv und eine begehrte Alternative zum Stadtleben.
1 ABV (Abschnittsbevollmächtigter): Polizist der Volkspolizei, zuständig in der Gemeinde.
2 Volkskammer: Parlament und höchstes Verfassungsorgan der DDR.